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1.2 Zwei

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Als Silke nach etwa zwanzig Minuten aus der Straßenbahn stieg, waren schwarze Regenwolken über Dresden gezogen. Kaum, dass sie den ersten Meter der knapp fünfhundert, die sie noch von ihrem Ziel trennten, zurückgelegt hatte, brach ein warmer Sommerregen aus den Wolken.

Völlig durchnässt trat Silke durch das Tor des Trinitatisfriedhofs und ging den schmalen Weg entlang. Dass es wie in Strömen regnete, interessierte sie nicht. Schließlich gab es jedes Jahr an ihrem Geburtstag einen Wolkenbruch, sobald sie sich auf den Weg zum Friedhof machte.

Der Himmel weinte mit ihr – zumindest hatte sie sich das mit der Zeit eingeredet.

Wie jedes Jahr seit acht Jahren ließ sie sich auf die Bank in der Nähe des schwarzen Granitsteins mit den goldenen Buchstaben sinken. Sie hatte keinen Schirm dabei, der sie vor dem Regen schützte. Obwohl sie es hätte besser wissen müssen. Seufzend schlang sie die Arme um ihren Körper und ließ den Kopf hängen. Wirre Gedanken wirbelten umher und machten es fast unmöglich, sich zu beruhigen. Silke war nervös, obwohl es nicht das erste Mal war, dass sie hier im Regen saß. Dennoch war sie von einer inneren Unruhe gepackt worden, die sie seit Ewigkeiten nicht mehr gespürt hatte.

Tränen brannten in ihren Augen, aber sie war noch in der Lage, sie zurückzuhalten. Sie hatte in den letzten Monaten so viel geweint, dass sie sich diese Schwäche in diesem Augenblick nicht eingestehen wollte.

Im Grunde war sie ein starker Mensch, zumindest hatten ihre Freunde sie immer für ihre Stärke bewundert. In Wirklichkeit war das eine Maske, die sie trug.

Eine wie sie auch ihre beste Freundin Jana vorzuzeigen hatte, die damit ihre posttraumatische Belastungsstörung verbarg.

Oder wie ihr bester Freund Eric, der dahinter den Verlust seines Bruders versteckte.

Aber auch wie Jessi, Janas kleine Schwester, die damit die Wochen verarbeitete, in denen das bisher noch immer ungeklärte Koma ihr Leben auf Pause gestellt hatte.

Wo Silke auch hinsah, jeder Mensch trug eine Maske. Nein, sie war weiß Gott nicht stark. Sie hatte es bisher nur besser verborgen als die anderen.

Stumm hob sie den Blick und fixierte den Grabstein. Ihre Augen folgten den goldenen Buchstaben und ihr Herz wurde schwer, als sie den Namen, der darauf stand, in ihren Gedanken hörte.

Nick Stahlkamp.

In den letzten eineinhalb Jahren war der Hass vielleicht verpufft, die unsagbare Trauer aber blieb. Wo damals Wut war, befand sich jetzt noch mehr Schmerz. Wo einst Liebe gewesen war, klaffte eine tiefe Wunde, deren Heilungsprozess zwar kurz begonnen hatte, aber nie beendet worden war.

Silke selbst schwieg, ihre Gedanken schrien umso lauter.

Ich wünschte, ich hätte dir dieses Jahr sagen können, dass es mir gut geht. Aber es geht mir nicht gut. Alles, was in den letzten Monaten passiert ist, fühlt sich an wie ein schlimmer Albtraum, aus dem ich nicht aufwache. Es kommt mir vor, als hätten die Gefühle, die ich damals versucht habe, zu verarbeiten, mich erneut mit voller Wucht getroffen. Wie ein Bumerang.

Als wären mit seinem Verschwinden alle Gefühle für dich zurückgekehrt ... als hätte ich sie mit ihm nur betäubt, wie mit Drogen.

Silke schluckte schwer und die Tränen suchten sich den Weg über ihre Wangen. Sie vermischten sich mit dem Regen, als wären sie eins.

Vielleicht war alles, was ich empfunden habe, nicht echt. Möglicherweise hat mich nur der Gedanke daran getröstet.

Vielleicht ...

Silkes Körper begann zu zittern und sie blickte leise schluchzend in den Himmel. Ein Regentropfen fiel direkt in ihr linkes Auge und sie blinzelte ihn zusammen mit den Tränen weg.

Vielleicht bin ich nicht in der Lage, jemals wieder einen Menschen zu lieben.

Sie kniff die Augen fest zusammen und ergab sich dem Gefühl des Regens auf ihrem Gesicht. Er hatte in den letzten Sekunden zugenommen, aus dem starken Sommerregen war ein Platzregen geworden. Der Wind frischte weiter auf und ein eiskalter Schauer durchzog Silke, obwohl der Wetterdienst warme fünfundzwanzig Grad und strahlenden Sonnenschein für diesen Tag gemeldet hatte.

Plötzlich verdunkelte sich der Himmel und der Regen hörte schlagartig auf. Irritiert riss Silke die Augen auf und starrte den schwarzen Regenschirm an. Ihre Augen folgten dem Griff, um den sich eine gepflegte Männerhand geschlossen hatte. Schließlich fand sie ein Paar besorgte, grünblaue Augen, die einem attraktiven Mann gehörten. Er war groß und musste wie ihr bester Freund etwa Anfang dreißig sein. Er hielt ihrem Blick stand, während er sich durch die nassen dunkelbraunen Haare strich und seine markanten Kiefermuskeln anspannte. Der leichte Bartschatten ließ ihn reifer aussehen. Der Mann wirkte trainiert, aber nicht übertrieben muskulös, und er trug eine schwarze Jeans und eine gleichfarbige Strickjacke, die er geschlossen hatte.

Silke öffnete die Lippen leicht, um etwas zu sagen, als der Mann, der ihr seinen Regenschirm überließ, sein Schweigen brach.

»Du wirst dich fürchterlich erkälten, wenn du hier länger sitzen bleibst.« Seine Stimme klang dunkel und gleichzeitig sehr melodisch.

Silke erschauerte, als der Fremde um die Bank herumkam und sich neben sie setzte, während er den Schirm weiterhin über ihren Kopf hielt. Er saß im Regen, aber das schien ihn offenbar nicht zu stören.

»Ich bin nicht anfällig für Erkältungen«, erwiderte sie versucht lässig und hätte sich für diese Aussage am liebsten selbst geohrfeigt. So ein Blödsinn, was redete sie denn da? »Danke jedenfalls.« Sie deutete auf den Schirm und wandte die Augen von dem Mann ab.

Obwohl sie ihn nicht kannte, löste er etwas in ihr aus, das sie verunsicherte. Sein Blick hinterließ ein Kribbeln auf ihrer Haut und ihr Herz schlug viel zu schnell. Sie fühlte sich unsicher und trotzdem merkwürdig leicht. Was hatte das nur zu bedeuten?

»Geht es dir gut?«, fragte er, hob die Hand, um Silke an der Schulter zu berühren, ließ sie aber wieder sinken, weil es ihm nicht richtig vorkam.

Silke suchte die grünblauen Augen des Mannes und hob kaum merklich die Schultern. »Welchem Menschen, der sich auf einem Friedhof aufhält, geht es schon gut?«, fragte sie so leise, dass der prasselnde Regen ihre Worte beinahe verschluckte.

»Wo du recht hast ...«, flüsterte er und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Wie sollte es ihr gut gehen, wenn er sich in seinem Inneren genauso hilflos und schwach fühlte? Er wusste genau, was sie meinte.

»Wie heißt du?«

Am liebsten hätte er sie gefragt, warum sie hier war, wen sie verloren hatte und was sie traurig machte. Aber Tom wusste, dass sich das nicht gehörte. Er selbst hätte sich ihr niemals geöffnet, also konnte er das nicht von ihr verlangen.

»Silke.« Sie lächelte zurückhaltend und entblößte strahlend weiße Zähne. Auch so war sie eine hübsche Frau. Ihr dunkelblondes Haar klebte an ihren Wangen, ihre grünen Augen wirkten traurig, strahlten aber sicher wunderschön, wenn sie lachte. Sie war bedeutend kleiner als er und hatte eine gute Figur mit Kurven an den richtigen Stellen. Sie gehörte ganz offensichtlich nicht zu den Frauen, die sich gutes Essen verboten. Das mochte er.

»Ich bin Tom«, stellte er sich vor.

»Du musst wegen mir nicht hierbleiben«, sagte Silke leise und deutete auf den Regenschirm. »Ich bin es gewöhnt, dass es jedes Jahr an meinem Geburtstag regnet, von daher ... Es ist nur Wasser, davon werde ich nicht gleich ster...«

Silke stockte, als sie bemerkte, wie seltsam unpassend sich diese Redewendung auf dem Friedhof anhörte.

»Was ich damit sagen will«, verbesserte sie sich, »ich bin nicht aus Zucker.«

Tom musste schmunzeln, doch seine Mundwinkel glitten schnell nach unten, als er die Information verarbeitete, dass Silke sich an ihrem Geburtstag lieber auf dem Friedhof aufhielt, anstatt mit ihrer Familie und ihren Freunden zu feiern.

»Niemand sollte seinen Geburtstag allein auf dem Friedhof verbringen.« Er seufzte kaum hörbar. »Alles Gute.«

Aber ich bin nicht allein, hätte Silke ihm beinahe geantwortet und sah zu dem schwarzen Granitstein. Stattdessen murmelte sie ein leises »Danke.«

»Hast du niemanden zum Feiern oder willst du nicht?«

Stumm suchte Silke Toms grünblaue Augen, sah jedoch weg, als ihr Herz einen unerklärlichen, nervösen Sprung machte. Bei jedem anderen wäre ihr diese Frage wie ein Angriff vorgekommen, bei Tom nicht.

»Mir steht der Sinn nicht nach feiern«, gestand sie.

»Darf ich fragen, warum?«

»Weil es ein beschissenes Gefühl ist, wenn deine Freunde alle glücklich sind und du die Einzige bist, die sich am liebsten den ganzen Tag unter der Decke verkriechen möchte.«

Silke senkte den Blick auf die Hände. Warum hatte sie das gesagt? Was sollte Tom von ihr denken?

Wahrscheinlich hielt er sie für eine komplette Idiotin.

»Hast du deinen Freunden gesagt, wie du dich fühlst?«

Silke schüttelte den Kopf. »Das alles ist zu komplex, als dass ich es dir jetzt erklären könnte. Außerdem ... außerdem kenne ich dich nicht und ...«

»Du vertraust mir nicht, das ist in Ordnung. Entschuldige die vielen Fragen. Berufskrankheit«, murmelte Tom.

Silke schwieg. Die Situation war ihr unangenehm, obwohl Tom etwas an sich hatte, das sie mochte. Er war nett, zumindest dahingehend, was sie beurteilen konnte. Dennoch war sie sich sicher, dass dieses Gespräch zu nichts führte.

»Ich ... ich sollte nach Hause gehen. Offensichtlich hört es nicht mehr auf, zu regnen.«

Silke stand auf und strich sich eine nasse Haarsträhne hinter das linke Ohr. Tom tat es ihr gleich und hielt den Regenschirm weiter schützend über sie.

»Hier, nimm den Schirm mit.« Tom streckte ihr die Hand entgegen und Silke packte den Griff des Regenschirms. Sie sog die Luft scharf ein, als sie Tom versehentlich berührte und das Kribbeln wie ein Blitz durch ihren Körper jagte.

»Da... danke«, stammelte sie und senkte den Blick, um Tom Sekunden später in die grünblauen Augen zu sehen. Sie hatten diese besondere Tiefe, eine Einzigartigkeit, die Silke bisher bei keinem Mann so wahrgenommen hatte.

»Ich wünsche dir dennoch einen schönen Geburtstag.«

Fast unmerklich zuckten Silkes Mundwinkel nach oben, als sie nickte. Ein letztes Mal ließ sie sich von Toms Blick gefangen nehmen und ertrank in seinen unendlich tiefen Augen, bevor sie sich zum Gehen abwandte und sicher war, ihn nie wiederzusehen.

Sommerregengeheimnis

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