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1.4 Vier

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Die Wochen vergingen, doch Silkes Trauer und ihre Hilflosigkeit blieben. Sie war müde, fühlte sich ausgebrannt und hatte Kopfschmerzen. Seit Ewigkeiten hatte sie keine Nacht mehr durchgeschlafen, die Arbeit erledigte sie nur mit Mühe und Not und sobald sie zu Hause ankam, legte sie sich erschöpft und motivationslos auf die Couch.

Eric war seit ihrem Geburtstag einige Male bei ihr gewesen, geöffnet hatte sie sich ihm gegenüber nicht. Sie verstand nicht, warum sie das hätte tun sollen. Er konnte ohnehin nicht nachempfinden, wie es tief in ihr aussah. Niemand konnte das.

Jana und Jessi hatte sie seit dem verpatzten Kaffeetrinken nicht mehr gesehen. Silke war sich ziemlich sicher, dass die Schwestern wegen ihrer pampigen Art sauer auf sie waren. Sie hatte Eric nicht danach gefragt. Im Grunde war ihr auch das vollkommen egal, solange man sie in Ruhe ließ.

Es klingelte an der Tür und Silke rappelte sich auf. Sie betätigte den Summer, lehnte die Wohnungstür an und legte sich zurück auf die Couch. Sekunden später saß Eric neben ihr. Seinem verkniffenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, brannte ihm etwas auf der Seele.

Dieser Tag würde nicht ablaufen wie die anderen, an denen er sie besucht hatte. Er würde es nicht hinnehmen, dass sie schwieg. Heute war der Tag, an dem er sie zwang, sich einzugestehen, was sie längst wusste, aber nicht wahrhaben wollte.

»Sprich es schon aus«, hauchte sie, um es hinter sich zu bringen, und schlang die Arme zum Schutz um ihren Körper. Sie wappnete sich für die Worte, die jede Sekunde fallen würden.

»Du verhältst dich wie damals ...« Eric knetete nervös seine Finger. Er hasste dieses Gespräch, dabei hatte es noch nicht richtig begonnen.

»Du stößt mich von dir, du bist traurig, du liegst antriebslos auf deiner Couch und starrst ins Leere. Du bist gereizt, überfordert mit der Arbeit. Sag mir, was los ist, bitte.«

Silke senkte den Blick und kämpfte gegen die Tränen. »Ich weiß nicht, was los ist. Seit er weg ist, ist dieser übermäßige Druck zurück. Als würde sich jemand auf meinen Schultern abstützen und mich immer tiefer nach unten drücken. Am Anfang dachte ich, wenn ich erst verstanden habe, dass er weg ist, wird es nachlassen. Aber das tut es nicht. Es wird schlimmer und ich kann rein gar nichts dagegen unternehmen. Ich schaffe es nicht.«

Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Wangen.

»Es kann so nicht weitergehen«, hauchte Eric. Silke fing den Blick seiner grünblauen Augen ein, die sie sofort an Tom, den Mann, den sie auf dem Friedhof kennengelernt hatte, denken ließen.

»Meinst du, das weiß ich nicht?«

Eric seufzte, stand auf und nahm das Festnetztelefon aus der Ladestation. Er reichte es seiner besten Freundin und sie setzte sich auf. Einige Sekunden starrte sie auf das Zahlenfeld und tippte die Nummer ein, die sie seit sechs Jahren nicht vergessen hatte. Dafür hatte sie sie in ihrer schwersten Zeit zu oft gewählt.

Der Freizeichenton erklang und Silke presste den Hörer an ihr Ohr. Ihr Körper verkrampfte sich, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte diese Nummer nie wieder wählen wollen, sie hatte geglaubt, gesund zu sein. Aber das war sie auch in den vergangenen Jahren nicht gewesen.

Es dauerte nur Sekunden, dann meldete sich eine vertraute Stimme, nur einige der Worte, die sie sagte, waren fremd.

»Psychotherapiepraxis Dr. Brandt, Schwester Ricarda am Apparat.«

»Silke Neumann, hallo.« Silke kniff die Lippen fest aufeinander. Das war ihr schwächster und hilflosester Moment seit Ewigkeiten. Sie machte sich verletzlich und angreifbar, weil sie sich eingestehen musste, dass sie nicht so stark war, wie sie vorgab zu sein. Sie war kaputt.

»Frau Neumann.« Die Stimme der Sprechstundenhilfe klang überrascht. »Wie geht es Ihnen? Wie lange ist es jetzt her?«

»Sechs Jahre«, hauchte sie verunsichert. »Und es geht mir nicht so gut. Ich brauche einen Termin bei Dr. Roth.«, flüsterte Silke. »Aber so wie es aussieht, führt sie die Praxis nicht mehr, oder?«

»Nein, leider nicht. Dr. Roth arbeitet seit zwei Jahren in Hamburg in einem Krankenhaus als Psychologin. Sie hat, bevor sie gegangen ist, allerdings für ausgezeichneten Ersatz gesorgt. Sollen wir dennoch einen Termin vereinbaren, Frau Neumann?«

Eric, der das Gespräch mit anhören konnte, nickte und Silke atmete tief durch.

»Ja.«

»Haben Sie eine Überweisung von Ihrem Hausarzt?«

»Nein.«

»Dann könnte ich Ihnen theoretisch erst einen Termin Ende September anbieten.«

Silke hörte das Rascheln von Zetteln. »So spät? Ich ... es ist ...«

»Warten Sie kurz.« Sie vernahm das Klacken der Tastatur. »Wie sieht es Freitag, siebzehn Uhr bei Ihnen aus?«

»Ich habe Zeit.«

»Dann trage ich Sie ein, Frau Neumann. Aber verraten Sie niemanden, dass ich Ihnen so zeitig einen Termin gegeben habe. Die Wartezeiten sind leider tatsächlich so lang ohne Überweisung.«

»Danke, das ... das weiß ich sehr zu schätzen.«

»Sie würden nicht anrufen, wenn es nicht akut wäre.« Kurz war Stille am anderen Ende. »Wie dem auch sei. Wir sehen uns Freitag, siebzehn Uhr.«

Silke bedankte sich noch einmal und legte auf. Ihre Hände zitterten, als sie das Telefon neben sich auf die Couch legte und ihrem besten Freund in die Augen sah. Warum fühlte es sich so furchtbar an, das Richtige zu tun?

»Freitag, siebzehn Uhr.«

»Soll ich dich begleiten?«, fragte Eric, aber Silke schüttelte den Kopf. Sie war viel zu stolz, um sich von Eric begleiten zu lassen.

»Nein, ich ... das muss ich allein machen. So wie damals.«

»Aber du weißt, dass du jederzeit auf mich zählen kannst.«

»Natürlich.«

Nachdem Eric nach Hause gegangen war, fühlte Silke sich kraftlos. Sie kugelte sich auf der Couch zusammen und zog eine dünne Fleecedecke über sich. Ihr war kalt, obwohl draußen noch angenehme vierundzwanzig Grad waren. Sie schlang die Arme um ihren Körper und kniff die Augen aufeinander, um nicht zu weinen.

Sie hatte Angst vor Freitag. Es war eine Sache, mit einem Freund über die eigenen Probleme zu sprechen, eine andere, wenn es sich dabei um einen völlig fremden Menschen handelte.

Es hatte damals lange gedauert, bis Silke Vertrauen zu Dr. Roth gefasst hatte. Aber die Ärztin hatte alles dafür getan, dass sie sich wohlgefühlt hatte. Die Praxis war ein sicherer Raum für Silke gewesen. Ein Ort, an dem sie ihre zentnerschwere Maske ablegen und ihre Gefühle offen zeigen konnte. Niemand hatte ihre Situation schöngeredet, sie durfte weinen, in Mitleid baden und ihre Wut herauslassen. Solange, bis es ihr half und sie erkannte, dass ihr Leben weitergehen musste.

Bei einem fremden Menschen an diesen Punkt zu gelangen, stellte Silke sich schwer vor. Dr. Roth kannte ihre Vergangenheit, sie hätten nicht bei Null begonnen.

Das war nun aber der Fall. Dennoch wusste Silke, dass es ihr nur besser gehen würde, wenn sie diesen Schritt machte.

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