Читать книгу Sommerregengeheimnis - Sabrina Heilmann - Страница 14

1.6 Sechs

Оглавление

Silke fühlte sich unwohl, als sie am späten Freitagnachmittag zur Praxis von Dr. Brandt fuhr. Ihr war flau im Magen und das Ruckeln der Straßenbahn schien das Gefühl noch zu verstärken.

Obwohl sie den richtigen Schritt ging, täuschte das nicht über ihre Hilflosigkeit hinweg. Silke empfand es als Zeichen von Schwäche, erneut professionelle Hilfe anzunehmen, nur weil sie mit ihren Gefühlen und der Trauer allein nicht klarkam.

Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und öffnete den Chatverlauf mit Eric.

Silke

Bist du sicher, dass ich das Richtige tue?

Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

Eric

Es ist das Richtige, auch wenn es sich falsch anfühlt. Die Therapie hat dir einmal geholfen, sie wird es wieder tun.

Silke

Ich muss einem völlig fremden Menschen von meinem Leben erzählen. Wäre Dr. Roth noch da, wäre es leichter gewesen.

Eric

Vielleicht auch nicht. Jemand, der dich nicht kennt, kann die Situation komplett neu bewerten und dir auf eine andere Art und Weise helfen.

Silke

Wahrscheinlich hast du recht.

Eric

Das habe ich immer, das weißt du doch.

Seufzend steckte Silke ihr Handy zurück in die Hosentasche und richtete den Blick aus dem Fenster.

Nach nur vier Haltestellen stieg sie am Lennéplatz aus der Straßenbahn und legte noch fünf Minuten zu Fuß zurück, bevor sie vor einem weißen, unscheinbaren Gebäude in der Wiener Straße stand.

Silke zögerte. War sie bereit, diesen Schritt zu gehen? Am liebsten hätte sie die Beine in die Hand genommen und wäre verschwunden. Sie hatte Angst, obwohl sie die Abläufe kannte und diese nicht hätte haben müssen.

Sie brauchte Hilfe. Das stand außer Frage.

Ein letztes Mal atmete Silke tief durch und sprach sich selbst Mut zu. Sie schob die Haustür auf, stieg die Treppe in den zweiten Stock nach oben und verharrte einige Sekunden vor der Praxistür, bevor sie eintrat.

Die Tür quietschte leise und die Holzdielen gaben ein knarzendes Geräusch von sich. Silkes Herz sprang ihr beinahe aus der Brust, als sie den Anmeldebereich betrat und Schwester Ricarda sie mit einem freundlichen Lächeln begrüßte.

»Hallo, Frau Neumann.«

»Hallo«, erwiderte Silke mit zitternder Stimme und legte die Hände auf den Tresen.

Schwester Ricarda hatte sich in den letzten Jahren kaum verändert. Sie war eine resolute Frau mittleren Alters mit schulterlangen, blonden Haaren und aufgeweckten blauen Augen. Sie war der Sonnenschein der Praxis und hatte schon damals das Talent besessen, Silke ein gutes Gefühl zu geben.

Heute wartete sie allerdings vergeblich auf die Wirkung.

»Frau Neumann, ich habe schlechte Nachrichten. Der Doktor ist vor einer halben Stunde zu einem Notfall gerufen worden und ich weiß nicht, wie lange er weg sein wird. Wenn Sie bitte kurz Platz nehmen, rufe ich ihn an und frage, ob er Ihren Termin übernehmen kann oder ob wir ihn verschieben müssen.«

Silke nickte und setzte sich auf einen der freien Stühle im Wartebereich. Rein optisch hatte die Praxis sich kaum verändert. Die Räume waren nach wie vor cremeweiß gestrichen, die Möbel aus dunklem Holz. Das Wartezimmer war klein und bot nur Sitzplätze für fünf Leute, überall lagen Infobroschüren aus. Die Wände zierten fröhliche Bilder.

»Dr. Brandt, Frau Neumann ist jetzt da. Denken Sie, dass Sie den Termin wahrnehmen können?«, hörte Silke Schwester Ricarda fragen.

Kurz wurde es still.

»In Ordnung, ich frage sie. Moment.«

Schwester Ricarda kam ins Wartezimmer. »Der Doktor wird in etwa einer Stunde hier sein. Möchten Sie warten, oder wird Ihnen das zu spät?«

»Ich warte.«

»Sie wartet«, gab Schwester Ricarda weiter. »Hm ... hmm, in Ordnung. Bis dann. Tschüss.«

Sie wandte sich an Silke.

»Wenn Sie noch etwas zu erledigen haben, können Sie das ruhig erst einmal machen. Ansonsten würde ich Ihnen jetzt einen Patientenfragebogen und eine Datenschutzerklärung bringen. Diese müssten Sie bitte ausfüllen, aber das kennen Sie ja.«

»Ich warte hier.«

»Okay, soll ich Ihnen vielleicht einen Kaffee oder einen Tee kochen?«

»Ein Tee wäre wunderbar, danke.«

Fünf Minuten später reichte Schwester Ricarda Silke die Zettel und stellte einen dampfenden Früchtetee neben sie auf einen Tisch.

Silke bedankte sich und kümmerte sich sofort um den Papierkram.

Die Zeit verging schleppend langsam und Silke wurde mit jeder vergangenen Minute nervöser. Ihren Tee hatte sie bereits ausgetrunken, nach einem weiteren fragte sie aus Anstand nicht, obwohl sie das Gefühl hatte, dass er sie irgendwie beruhigte.

Silke nahm eine Broschüre über Depressionen zur Hand und überflog die Informationen darauf. Aber sie konnte die Worte kaum verarbeiten.

Sie kannte die Krankheit, unter der sie vor so vielen Jahren schon einmal gelitten hatte, viel zu gut.

Sie blätterte weiter und betrachtete den Schnelltest auf der nächsten Seite. Sie hätte ihn nicht durchgehen müssen, denn sie kannte das Ergebnis. Trotzdem nahm sie sich die Fragen vor.

Je eher sie der Tatsache ins Auge blickte, dass sie einen Rückfall erlitten hatte, umso schneller würde sie etwas dagegen unternehmen können.

Haben Sie wenig Interesse an Ihren Tätigkeiten?

Überhaupt nicht.

An wenigen Tagen.

An mehr als der Hälfte der Tage.

Jeden Tag.

Silke dachte über die Frage nach. Die Arbeit im Kosmetikstudio hatte sie ohne Widerworte erledigt, aber hatte sie noch Interesse daran, sie zu tun?

Die Antwort war Nein, sie hatte kein Interesse daran. Es fiel ihr schwer.

Fühlen Sie sich schwermütig, niedergeschlagen und hoffnungslos?

Jeden Tag.

Haben Sie Schwierigkeiten ein- und durchzuschlafen?

Jeden Tag.

Sind Sie oft müde oder haben Sie das Gefühl, keine Energie zu haben?

Jeden Tag.

Ist Ihr Appetit vermindert oder Essen Sie übermäßig viel?

Jeden Tag.

Silke aß nur noch wenig, ihre Kleidung rutschte ihr langsam aber sicher vom Körper. Und sie hasste es!

Haben Sie eine schlechte Meinung über sich selbst und das Gefühl, ein Versager zu sein oder Ihre Familie enttäuscht zu haben?

An mehr als der Hälfte der Tage.

Haben Sie Schwierigkeiten sich auf eine Sache zu konzentrieren (Zeitunglesen, Fernsehen etc.)?

Jeden Tag.

Sobald Silke nach Hause kam, legte sie sich auf die Couch. Sie sah weder fern, noch beschäftigte sie sich mit sonst irgendetwas, weil sie sich nicht konzentrieren konnte.

Sind Ihre Bewegung und Sprache verlangsamt? Oder sind Sie im Gegenteil ruhelos und haben das Bedürfnis, sich mehr bewegen zu müssen?

Diese Fragen konnte Silke schwer einschätzen. Bewegt hatte sie sich in den letzten Tagen kaum, aber sprach sie langsamer? Sie wusste es nicht.

Haben Sie den Gedanken, sich Leid zuzufügen oder sterben zu wollen?

An einzelnen Tagen.

Silke hatte nie darüber nachgedacht, sich umzubringen. Aber manchmal erwischte sie sich dabei, wie sie sich wünschte, dass es endlich vorbei war und sie wieder bei dem einzigen Menschen sein konnte, der ihr nie wehgetan hatte.

Allerdings wusste sie auch, dass sie kämpfen musste. Das hätte er von ihr erwartet und sie würde ihn nicht enttäuschen. Niemals.

»Frau Neumann, folgen Sie mir bitte nach nebenan. Der Doktor wird jeden Augenblick da sein.«

Silke stand auf und folgte Schwester Ricarda in das Behandlungszimmer.

»Nehmen Sie Platz. Kann ich Ihnen noch etwas bringen? Einen Tee oder ein Wasser?«

»Nein, danke.«

Schwester Ricarda nickte, verließ den Raum und schloss die Tür leise. Silkes Herz schlug bis zum Hals.

Das Behandlungszimmer war groß, die Wände waren weiß gestrichen. Zwei davon waren komplett von schwarzen Bücherregalen eingenommen. Davor stand eine gemütliche Sitzecke aus modernen, grauen Möbeln – diese war neu. Auf der anderen Seite befand sich ein großer Eckschreibtisch, dahinter ein weiteres Regal mit Ordnern. Die Möbel waren allesamt modern, die Farben schwarz, weiß oder grau. Das schien der einzige Raum zu sein, den Dr. Brandt nach seinen Vorstellungen eingerichtet und verändert hatte. Auf den ersten Blick wirkte die Einrichtung kühl und wenig gemütlich, aber als die Sonne durch den bewölkten Himmel brach und die Praxis in sanftes Abendlicht tauchte, veränderte sich die Atmosphäre des Raums komplett.

Silke stellte sich an eines der beiden großen Fenster und blickte in den Himmel. Wahrscheinlich würde die Sonne jeden Augenblick wieder verschwinden. In der Ferne zogen schwarze Wolken auf. Sie überlegte, ob der Wetterdienst Gewitter für diesen Tag vorhergesagt hatte.

Aus dem Flur drangen leise Stimmen zu Silke durch und ihre Muskeln verspannten sich automatisch. Schützend schlang sie die Arme um ihren Körper und starrte weiterhin die Wolken an.

Sie hörte, wie die Türklinke nach unten gedrückt wurde, und war im Begriff, sich umzudrehen.

»Frau Neumann, danke, dass Sie gewartet haben. Schön Sie ...«

Die Stimme des Arztes schickte Silke einen Schauer durch den Körper und sie drehte sich um. Sie erstarrte in ihrer Bewegung und öffnete die Lippen leicht.

Das war nicht möglich.

Sommerregengeheimnis

Подняться наверх