Читать книгу Live dabei - Mein Leben mit den Rolling Stones, Grateful Dead und anderen verrückten Gestalten - Sam Cutler - Страница 9

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3. No Direction Home

Nachdem ich die Schule verlassen hatte, flüchtete ich kurz nach Paris, in der Hoffnung, dass nun endlich mein aufregendes und ereignisreiches Leben beginnen werde. Doch ich erkrankte und musste nach Großbritannien zurückkehren. Natürlich interessierte ich mich noch für Musik, doch während der Genesung fasste ich den Entschluss, die Lehrerlaufbahn einzuschlagen. Zur Überraschung aller bestand ich sogar die Aufnahmeprüfung am College. Zu meiner großen Freude waren fast alle Kommilitonen weiblich! Zeitweise hatte ich das Gefühl, mich eher für die Abschlussprüfung eines Gynäkologen zu qualifizieren als für die eines Lehrers.

Während dieses glückseligen Lebensabschnitts engagierte ich mich für einen kleinen Folk-Club in einem Pub nahe dem College. Unter anderem spielte dort Paul Simon. Ich erinnere mich an ihn als ein kleines Arschloch, das gerade „The Sounds Of Silence“ geschrieben hatte und besser Gitarre spielen konnte als ich. Ich hasste ihn regelrecht, er wusste es, und so beruhte das Gefühl schnell auf Gegenseitigkeit.

Ich legte ein gutes Studium hin, schloss das College mit sehr guten Noten ab und unterrichtete danach an einer Sonderschule für, wie man es damals nannte, „verhaltensgestörte Kinder“. Diese Kids haben kaum soziale Fähigkeiten, und es fällt ihnen schwer, ihre individuellen Bedürfnisse an ein bestehendes Sozialgefüge anzupassen. Für sie ist es fast unmöglich, andere Menschen wahrzunehmen, und sie führen ein egozentrisches Leben. Die „kleinen Piepser“ einer anderen Person gehen im Toben ihrer ungezügelten Individualität unter. Sie sind von klein auf der Einsamkeit ausgeliefert.

Eine Möglichkeit, Zugang zu ihnen zu bekommen, besteht darin, etwas zu finden, an dem sie teilnehmen können und das ihnen Freunde bereitet. Musik wirkt bei den Kindern wahre Wunder und bringt ihnen Freude. Andere Ansätze scheitern oft. Ich dachte immer, dass die Kids in der Zukunft eine tolle Rock’n’Roll-Band gründen sollten. Mal ehrlich – schon Tausende hatten es versucht und viele auch Erfolg gehabt.

In den fünf Jahren meiner Studenten- und Lehrerzeit, also in den Jahren 1963 bis 1968, hatte sich Großbritanniens Populärkultur und der grundlegende Zeitgeist radikal geändert. Seit dem Zweiten Weltkrieg empfanden zunehmend mehr jungen Menschen die Realität des täglichen Lebens als unerträglich langweilig. Sie spürten instinktiv, dass das Leben, das sie erwarteten, gar kein Leben war, einfach nur ein uninspiriertes Gekrieche vom Kinderbett zum Grab. Immer mehr Menschen hassten die Normen, die ihnen von den Eltern übergestülpt wurden, und so suchten sie in den Sechzigern nach Alternativen.

Viele begannen mit bewusstseinserweiternden Drogen zu experimentieren, um die unendlichen Weiten der Psyche zu erkunden. Man hatte den Eindruck, eine Revolution, die sich sonst nur auf der Straße abspielt, finde hinter verschlossenen Türen statt. Die Menschen entschlossen sich, sich selbst zu verändern, um so die Gesellschaft zu verändern. Die besten und hellsten Köpfe nahmen Drogen und sprangen voller Freude und ohne Vorsicht in das auflodernde Feuer einer ungewissen Zukunft. Auch ich nahm an diesem großen Experiment teil – ohne Angst, mit einem offenen und empfänglichen Bewusstsein.

Wir alle glaubten, das kollektive Bewusstsein Großbritanniens bedürfe einer radikalen Gehirnoperation. Die Welt war so grau geworden, beschränkte und verengte sich auf Doris Day, Pat Boone, Winifred Atwell, Mary Poppins, Frank Sinatra und Musicals wie Meine Lieder – meine Träume. Die Künstler, die wir liebten – Bob Dylan, die Rolling Stones, die Beatles, Pink Floyd und viele andere – wiesen uns hingegen auf neue Bestimmungen hin. Wir folgten ihnen, überhaupt nicht besorgt, dass es keinen Rückweg mehr gab.

Die Möglichkeit, dass die gesamte Menschheit durch einen nuklearen Holocaust von diesem Planeten verschwindet, war in den Nachkriegsjahren ein wichtiges Diskussionsthema. Wenn also eine neue Droge in der Szene auftauchte, nutzten einige sie als ideales Betäubungsmittel gegen die Vision des gefürchteten Massensterbens. Junge Menschen begannen sie zuerst zögerlich, doch dann entschieden zu nehmen. Diese Droge hieß LSD, auch bekannt als Acid, und wurde im Geheimen verteilt. Ich verglich dieses Versteckspielchen oft mit dem Christentum, dass das Römische Reich unterwanderte.

Chemiker in den USA stellten LSD im Untergrund her, und ihre Landsleute, mit einer klaren Vision, erklärten, sie wollten das Bewusstsein der ganzen Welt verändern. Die psychedelischen Missionare aus Kalifornien kamen mit reinem Acid nach Großbritannien, und die Zollbeamten hatten nicht den blassesten Schimmer, wonach sie eigentlich suchen sollten. Als klare, wasserähnliche Flüssigkeit war LSD so gut wie gar nicht zu entdecken. Auch konnte es in kristalliner, salzähnlicher Form geschmuggelt werden oder auf einem vorher getränktem Löschblatt und sogar in Zuckerwürfeln.

Die Politiker hatten keine Ahnung, was da vor sich ging, und so entwich der Geist eines alternativen Bewusstseins langsam, aber sicher aus der Wunderlampe. Einmal heraus, konnte er nicht mehr gebannt werden. Schon bald stellten die frisch examinierten Chemiker meiner Generation in den Laboratorien der Universitäten von Brighton bis Liverpool und von Edinburgh über Oxford bis Cambridge Drogen her.

Das Establishment – dieser kuriose Herrschaftsapparat aus Mächtigen und Einflussreichen, der in Großbritannien seit Generationen das Sagen hatte – handelte auf seine verschlafene, alte und kolonialistische Art und versuchte, bei den „Anführern“ der Jugendkultur, wie zum Beispiel den Beatles und den Rolling Stones, die Millionen Kids beeinflussten, ein Exempel zu statuieren. Sie verfolgten die angeblichen „Aufrührer“ und steckten sie wegen Drogenbesitzes in den Knast. Dadurch sollten die Kids in die Ecke gedrängt und eingeschüchtert werden. Natürlich funktionierte das nicht. Durch die Fehlkalkulation wurden die Feinde der Stagnation und Tradition nur noch gestärkt.

Die vielköpfige Hydra der Jugend vereinigte sich in einem Underground, ohne Anführer und erkennbares Zentrum. Dort herrschten unterschiedlichste Strömungen und kleine, geheime Mechanismen, die von der herrschenden Schicht nicht auf konventionelle Art und Weise unterdrückt werden konnte. Wie sollte etwas erstickt werden, das man überhaupt nicht verstand? Großbritannien hatte nicht einen Timothy Leary, den amerikanischen LSD-Pionier – es hatte Hunderte LSD-Gurus.

Ein Freund stellte mich einem der Amerikaner vor, der uns mit dem heiligen Sakrament erleuchten wollte. Er kam aus San Francisco. In einer Bude in der Upper Montague Street offenbarte uns dieser „Zauberer“ die „Waffen der Revolution“. Wir hockten um einen Beistelltisch auf dem Boden und kifften, während er uns von den jüngsten Entwicklungen in „Yankville, USA“ berichtete. Die CIA, so behauptete er zumindest, steckte tief in der Drogenproduktion, und Polizeispitzel halfen bei der Distribution, aus bislang unerklärlichen Gründen. Seiner Meinung nach hatten verschiedene Agenten die Droge ausprobiert und hatten ihre eigenen Grenzen überwunden. Aufgrund dieser Erfahrung glaubten sie an den Nutzen und die Vorzüge von LSD.

Wir hingen an den Lippen des befremdlichen, kleinen Mannes mit der „nepalesischen“ Rauchkrone. Er hatte fünf Gramm kristallines LSD eingeschmuggelt, genug, wie er sagte, um damit einige Hunderttausend Trips herzustellen. Wir waren sichtlich beeindruckt und ziemlich verblüfft.

Das geschah im September 1965, einer Zeit, in der sich alle noch allzu gut an die Kuba-Krise erinnern konnten. Der Vietnamkrieg nahm damals an Brutalität zu, und Dylan schuf in einer kreativen Supernova die beiden Alben Bringing It All Back Home und Highway 61 Revisited. Alles veränderte sich schnell und radikal, und wir wollten ein Teil des Umbruchs sein. Ich war 22.

Wir sahen uns als wegbereitende Visionäre, wie das häufig bei jungen Menschen der Fall ist. Die Leute kamen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten. Die Wohnung gehörte einem jungen und sexy Mädchen, das mich immer am Wochenende nach London einlud – sie war die Tochter eines Generals! Einige von uns studierten, und ich erinnere mich an einen Mann, der uns verriet, dass er als Journalist bei der Times arbeitete, was alle überraschte.

Ein Arzt namens Ronnie laberte mit einem starken schottischen Akzent, den kaum einer verstand. Zwei jüngere Typen studierten an der Hornsey School of Art und tauchten in Begleitung zweier großer, toller Frauen auf, die unsere Ideen aber eher langweilig fanden. Eine ältere amerikanische Lady saß in einem Sessel und lächelte nachsichtig, ähnlich einer Übermutter aus dem Underground, während ein „Normalo“ meinte, dass er sich den Lebensunterhalt als Bürogehilfe bei einem Rechtsanwalt verdiene. Wir wollten uns das LSD einwerfen und dann in einem nahe gelegenen Park spazieren gehen.

Gespannt beobachten wir den Amerikaner, der feierlich einen Tropfen der Flüssigkeit auf jeweils einen der Zuckerwürfel träufelte, die auf dem Tisch aneinandergereiht standen. Er erklärte uns, dass wir keine Angst haben müssten, was mich aber verdammt nervös machte.

Wir sollten uns nicht vor einem miesen Trip fürchten, denn in dem Fall könnten er und die Lady aus dem Sessel uns helfen. Ich holte tief Luft und bereitete mich vor. Wir nahmen alle einen Zuckerwürfel und warteten gespannt darauf, was passieren würde.

Die Leute setzten sich auf die Kissen am Boden, und Dylans „Desolation Row“ lief quasi in einer Endlosschleife. Keiner konnte das sich in die Unendlichkeit erstreckende Panorama des Songs verstehen, seine poetische Bildhaftigkeit und die kämpferische Botschaft. Fast alles, was ich bislang gehört hatte, schien mir hohl und bedeutungslos – sinnlose Pappmusik für die Massen. Ich steigerte mich in Dylans apokalyptische Visionen hinein. Wir verließen die Ebene der simplen Worte.

Alles, was die konservative Gesellschaft als wichtig empfand, alles, an das wir jemals geglaubt hatten, wurde neu aufgezeichnet, neu definiert, radikal niedergerissen und neu aufgebaut. Noahs großer Regenbogen schwebte von der Decke herunter, die Gesichter der Leute zerflossen und formten sich neu, eins der Mädchen schluchzte stoßweise vor Glückseligkeit, und der kleine Amerikaner lächelte uns durch seine Brille wohlwollend an.

Ich trank Wasser, das sich dickflüssig anfühlte, ähnlich geschmolzenem Blei. Die metallischen Moleküle knallten aneinander und verursachten ein merkwürdiges Geräusch in meinem Magen. Ich kroch zu der Lady im Sessel, legte den Kopf in ihren Schoß, und sie streichelte mir durchs Haar.

Ich zerfiel in tausend Stücke. Mein altes Ich hatte sich aufgelöst.

Die Nacht verbrachte ich fröstelnd mit einigen der Leute in den Parliament Hill Fields, wo wir die Sterne betrachteten. Ich fühlte mich so hungrig, dass ich am liebsten die komplette Milchstraße in mich aufgesogen hätte. Die riesige Himmelskuppe streckte in ihrer gütigen Endlosigkeit die funkelnde Arme herab, um mich, das traurige Kind, zu umschließen und sanft zu wiegen.

Jedes bislang erlebte Gefühl rauschte mit unglaublicher Geschwindigkeit an mir vorbei. In der gleichen Rasanz schüttelte ich diese Emotionen ab. Ich musste das bisher Gelernte wie nutzlosen Ballast hinter mir lassen.

Ich war absolut überzeugt, dass neues und revolutionäres Wissen in mich eindrang, und aß ein wenig Gras, um zu erfahren, wie man sich als Kuh fühlt. Kurz danach musste ich kotzen. Als ein kalter und trüber Londoner Morgen anbrach, gingen wir durch die leeren Straßen in Richtung Covent Garden und setzten uns dort in ein Arbeitercafé. Ich starrte in den verqualmten Laden, beobachtete die Leute und hatte das Gefühl, auf einem anderen Planeten gelandet zu sein.

Ich versuchte einige Eier zu verputzen, doch als ich das Eigelb näher betrachtete, spielte mir die Wahrnehmung einen Streich. Ich sah Reste von Geflügelfedern, die in der Mitte herumflatterten, und konnte allein die Vorstellung nicht ertragen, mir das einzuverleiben. Der Tee hatte die Farbe tiefroten Bluts angenommen, der Toast schmeckte wie die harte Haut einer unbekannten Tierart. Ich musste schleunigst hier weg.

Irgendwie gelang es mir, einen Zug in der Liverpool Station zu erreichen, der mich nach Hause beförderte. Während die Kirchglocken schrill läuteten, hetzte ich mit zitternden Lippen und kalten Schweiß auf der Stirn zu meiner Wohnung. Niemand scherte sich um mich – typisch britisch! Endlich erreichte ich meine kleine Wohnung, kroch ins Bett und zog mir die Bettdecke über den Kopf. Nach Trillionen von Gedankenfetzen, die in meinem Gehirn einen wahren Aufstand veranstalteten, schlief ich endlich ein.

Tags darauf wollte ich nicht unterrichten und entschied mich für einen Spaziergang durchs Grün. Ich musste frische Luft schnappen und die intensivste Erfahrung verdauen, die ich jemals gemacht hatte. Ich schlenderte über die schmalen Straßen in Essex und machte mir mit einer beeindruckenden, nie zuvor erlebten Klarheit Gedanken über meine Zukunft. Ich war überzeugt, dass mich die Bäume verstanden, die Pflanzen auf den Feldern unterstützten und sogar die Vögel durch ihr instinktives Verhalten verehrten. Ich fühlte mich so lebendig wie nie zuvor. Mein Entschluss stand fest: Ich wollte die Entdeckungsreise fortsetzen, mich weiter auf die Musik konzentrieren und alles, was mir während des Trips über meine Zukunft enthüllt worden war, in meine Entscheidungen einfließen lassen. Für mich stellte das neue psychische Empfinden ein wichtiges Element dar, eine Straße, die mich zu einem höheren Bewusstsein führte, das ich erforschen wollte. In ganz Europa und den USA zogen jungen Menschen dieselben Schlüsse.

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