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Liebe ist göttlich – Kama ist Liebe
ОглавлениеAls ich ein Kind war, musste meine Mutter mir abends immer Geschichten und Märchen vorlesen. Dann wurde ich selbst Mutter und genoss es, meinen eigenen Kindern im Bett vorzulesen. Durch meine Arbeit als Yogalehrerin befasste ich mich auch in meiner Freizeit manchmal mit Märchen und indischen Mythen. Im Hinduismus glauben die Menschen an Kamadeva, den Liebesgott. Mit seinen fünf Blütenpfeilen versucht er die Herzen der Menschen zu treffen. Kamadeva trägt einen Bogen aus Blumen. Dieser Bogen ist aus Zuckerrohr, mit einer Sehne aus Honigbienen. Kamadevas fünf Pfeile sind mit Blumen geschmückt und symbolisieren die fünf Sinne des Menschen. Während er Pfeile auf Verliebte abschießt, reitet er auf einem Papagei – dem Symbol der Sinnlichkeit. Ein Kuckuck begleitet ihn. Die Bienen summen und es weht dabei eine sanfte Brise. All das symbolisiert die Freude im Frühling, wenn die Menschen von Glück erfüllt sind. Die Geschichte besagt, dass Kamadeva auf den Gott Shiva schoss, als dieser meditierte. Shiva sollte sich Parvati zuwenden, damit er einen Sohn zeugt, der die Götter vor einer machtvollen Zerstörung schützen sollte. Doch Shiva wusste nichts von Kamadevas Plan, er öffnete sein drittes Auge und warf ihm einen zornigen Blick zu, so dass der Liebesgott zu Asche wurde. Kamadevas Frau Rami wandte sich daraufhin an Shiva und bat ihn, Kamadeva wieder zum Leben zu erwecken. Der Liebesgott bekam keinen neuen Körper – er wandelt seitdem als Gott der reinen Liebe umher.
Kurz vor meinem 40. Geburtstag traf mich ein Blütenpfeil von Kamadeva mitten ins Herz. Aus heiterem Himmel. Ich arbeitete vormittags in meinem neuen Eventreisebüro. Gedankenversunken versuchte ich die vielen Menschen in der Warteschlange abzuarbeiten. Wir hatten gerade ein Angebot für die griechischen Inseln inklusive Aktivprogramm in der Werbung. Die Tür ging auf und Nick trat herein. Wir schauten uns in die Augen und es traf mich wie ein Blitz – plötzlich empfand ich eine tiefe Liebe für diesen Mann. Nick schaute mich an und es war, als würde er sagen: „Ich liebe dich!“ Die Worte hallten laut in meinem Kopf nach. Seine Augen hypnotisierten mich und ich fühlte mich schwerelos wie eine Sternschnuppe im Universum. Mein Mund stand offen, ich grinste und schaute durch ihn hindurch. Um die peinliche Stille zu durchbrechen, sagte er: „Du bist doch Karla! Wir waren auf demselben Gymnasium und sind oft mit dem Fahrrad zusammen zur Schule gefahren, aber plötzlich warst du nicht mehr da.“ Ich antwortete nur: „Tut mir leid, ich kann mich nicht an dich erinnern.“ Nach diesem Satz kam ich mir schrecklich blöd vor. Nick kam mir vertraut vor, aber ich wusste nicht, woher ich ihn kannte. Ich fühlte mich plötzlich wie ein kleines Schulmädchen in seiner Gegenwart. Nervös kramte ich in meiner Schublade nach einem Stift und versuchte, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Nick hatte ein paar Fragen und ich beriet ihn gern. Wir verabschiedeten uns nach ein paar Minuten, die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlten, mit einem Handschlag und ich schaute ihm ein letztes Mal in seine wunderschönen Augen. Als ich endlich Feierabend hatte, schlich ich mich in mein Arbeitszimmer und forschte im Internet nach Bildern von ihm. Es gab nicht viele, trotzdem wurde ich fündig. Von einem Bild schaute er mich direkt an und ich versank wieder in diesem schwerelosen Gefühl. Glück und Liebe durchströmten meinen Körper, als würde ich mit Hilfe von tausend Schmetterlingen auf Wolke 7 schweben. Ich badete förmlich in diesem Gefühl und wollte am liebsten nie wieder aus diesem Traum aufwachen. Das Verliebtheitsgefühl ließ auch die nächsten Wochen und Monate nicht nach. Marcel wunderte sich über meine gute Laune, sagte aber nichts weiter dazu. Irgendwann kam bei mir der Moment, wo ich nach Antworten suchte. Mir wurde schlagartig klar, dass ich mich gedanklich in meine Schulzeit zurückbegeben musste, um mich an Nick zu erinnern. Es bereitete mir Angst, weil ich diese Zeit komplett ausgeblendet hatte. Ich meditierte und was ich sah, war sehr schmerzhaft für mich: Als ich 16 Jahre alt war, wechselte ich die Schule und erzählte niemandem davon. Ich wollte damals flüchten, weil meine beste Freundin die Klasse gegen mich aufgehetzt hatte und auch die Lehrer an der Schule alles andere als fair zu mir waren. Zwei Jahre litt ich unter den Mobbingattacken von Lehrern und Schülern. Was damals geschah: Ich bin in der 9. Klasse mit meiner Freundin Christina zum Schüleraustausch in einem Reisebus nach Paris gefahren. Ein paar Schüler aus der 10. Klasse waren auch dabei. Unter ihnen befand sich Christinas Schwarm. Max war der coolste Typ der Schule. Er fuhr eine Vespa und war ein absoluter Mädchenschwarm. Nun saß er ein paar Reihen hinter uns. Christina war zu schüchtern, um ihn anzusprechen. Ich drehte mich immer wieder zu Max um und zog Grimassen, damit er aufmerksam auf uns wurde. Christina war das peinlich. Sie schaute verstohlen zu ihm hinüber. Ich stieß sie in die Seite: „Sprich ihn an. Das ist deine Chance.“ Christina war meiner Meinung nach die Hübschere von uns beiden. Nie hätte ich auch nur eine Sekunde daran gedacht, dass Max sich für mich interessieren würde. Doch genau das tat er. Auf der Abschlussparty dieser Reise nahm er mich zur Seite, redete nicht lange und küsste mich. Erschrocken sah ich ihn an und sagte: „Nein. Das geht nicht. Christina ist diejenige, die du küssen solltest.“ Dann lief ich weg und ließ ihn stehen. Christina hatte uns beobachtet. Sie hatte nur den Kuss gesehen, aber nicht mitbekommen, wie ich Max erklärt hatte, dass ich nicht mit ihm zusammen sein wollte. Christina war wütend auf mich. Sie weinte und sprach kein einziges Wort auf der Rückfahrt nach Deutschland mit mir. Zu Hause angekommen, begann sie mit anderen Mädchen aus der Klasse Intrigen zu spinnen. Ich wollte mit ihr reden und ihr alles erklären, aber sie hörte mir nicht zu. Eine Woche später ging ich zu Max: „Es tut mir leid. Ich habe dich sehr gern und ich wollte dich nicht abweisen. Christina war meine beste Freundin. Was hätte ich tun sollen?“ Max sagte kein Wort. Er zog mich wieder an sich und küsste mich. Max wurde meine erste große Liebe. Ich ließ mich fallen und dachte gar nicht mehr daran, Christina einen Gefallen zu tun, nachdem sie gemeine Dinge tat und über mich erzählte. In den Pausen stand ich bei Max und seinen Freunden. Die Gemeinheiten von Christina prallten an mir ab. Die Zeit blieb stehen, wenn ich mit Max eng umschlungen auf dem Schulhof stand. Ständig klebten unsere Lippen aneinander. Als er das erste Mal bei mir zu Hause war, saß ich auf seinem Schoß und spürte seine Erregung. Mit einem großen Fragezeichen im Kopf fand ich keine Worte, um mit Max darüber zu reden. Er küsste mich auch ständig, so dass ich gar nicht dazu kam. In der Zwischenzeit glitten seine Finger unter meine Jeans und fanden den Weg zu der Stelle, an der ich definitiv empfindlich war. Ich war erregt, aber gleichzeitig versteifte ich mich und bekam innerlich Panik, weil ich nicht wusste, wie ich ihm erklären sollte, dass ich dafür noch nicht bereit wäre. In diesem Moment ging die Zimmertür auf und meine Mutter sagte: „Es ist spät. Musst du nicht nach Hause?“ Sie stemmte ihre Arme in die Taille und sah Max streng an. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nur noch die Hälfte meiner Klamotten an und Max lag auf mir – auf dem Fußboden. War das peinlich. „Ja, ich wollte gerade gehen.“ Max griff nach seinen Sachen und verließ fluchtartig das Haus. Ich wollte auf der Stelle in Grund und Boden versinken und wusste, dass er nie wieder zu mir nach Hause kommen würde. Ein paar Tage nach diesem Vorfall kamen die großen Sommerferien. Max litt an einer Hautkrankheit und fuhr deswegen sechs Wochen lang auf eine Nordseeinsel, um eine Kur zu machen. Die gesamten Sommerferien sahen wir uns nicht. Er schrieb mir einen einzigen Brief, in dem er mir mitteilte, dass er wieder mit seiner Exfreundin zusammen sein wollte. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so allein gefühlt. Ich kam in die 10. Klasse und hätte vor Enttäuschung am liebsten um mich geschlagen. Mein Herz war gebrochen: Meine Freundin hasste mich, meine große Liebe wollte mich nicht mehr sehen und mein Bruder hatte bereits vor einem Jahr die Schule verlassen, um sein Glück auf einer anderen Schule zu versuchen. Er hatte ein paar Lehrer verärgert, die mich nun in den Hauptfächern unterrichteten. Mein Name war bekannter, als mir lieb war. Seine früheren Lehrer fingen an, mich zu prüfen, und ich hatte es schnell satt, ihnen etwas zu beweisen. Ich mutierte zu einem rebellischen Mädchen, das nicht mehr lernen wollte, keinen Kontakt zu anderen pflegte und in den Pausen weglief, weil es die Einsamkeit zwischen Hunderten von Schülern nicht ertragen konnte. Ein ganzes Jahr quälte mich dieser Zustand. Am Ende stand ich mit einem Viererzeugnis da – mein erweiterter Realschulabschluss. Verzweifelt wandte ich mich an meine Eltern und bettelte sie an, mich auf der gleichen Schule anzumelden wie meinen Bruder. Sie konnten nicht mit ansehen, wie unglücklich ich war, und taten alles dafür, dass ich die Schule wechseln konnte. Es sollte mein Geheimnis bleiben – bis zum letzten Tag. Meinen Mitschülern erzählte ich nichts, aber meiner größten Feindin – einer Lehrerin, die mich ständig vor der Klasse bloßstellen wollte – sagte ich am letzten Tag: „Sie sind das größte Arschloch, das mir je begegnet ist!“ Frau Mittenhuber rang nach Luft. Zum ersten Mal fehlten ihr die Worte und ich ließ sie einfach stehen, drehte mich um, lächelte siegessicher und ging – für immer. Mein Bruder klatschte in die Hände, als ich ihm zu Hause davon erzählte: „Wow, Karla. Du bist cool. Ich hätte mich nie getraut, so böse Worte zu der Mittenhuber zu sagen!“ Ich sah die Bewunderung in seinen Augen und es machte mich stolz.
Tatsächlich dachte ich, dieses Kapitel aus meinem Leben wäre damit abgeschlossen. Ich hatte alles verdrängt, was mit Gefühlen der Einsamkeit, dem Ablehnen und Ausschluss von anderen Menschen zu tun hatte. Nachdem ich mich bewusst daran erinnerte, sah ich Nick. Wir fuhren oft mit mehreren über eine Brücke zur Schule. Manchmal machten wir einen Wettkampf daraus. Die meiste Zeit beachtete ich ihn allerdings nicht, sondern unterhielt mich mit seiner älteren Schwester, während Nick mich beobachtete. Instinktiv wich ich seinem Blick aus. Was wäre wohl passiert, wenn ich ihm in die Augen geschaut hätte? Diese Frage ließ mich nun nicht mehr los. Hätten wir beide uns erkannt, geheiratet und Kinder bekommen? Oder wären wir vielleicht gar nicht füreinander bereit gewesen? Die Vergangenheit hatte mich eingeholt. Nun stand ich auf einmal schüchtern vor ihm und schaute zu ihm auf. Nick ist mittlerweile zwei Köpfe größer als ich. Von dem kleinen Jungen von damals ist nichts mehr übriggeblieben. Während des Wiedersehens in meinem Reisebüro erzählte mir Nick, dass er als IT-Manager arbeiten würde. Auf Facebook stellte ich den dauerhaften Kontakt zu ihm her und fragte, ob er nicht in Zukunft öfter eine Reise über mich buchen wollte. Eine Woche später antwortete er mir und schrieb, dass er sich über meine Nachricht gefreut hätte. Das Glücksgefühl in den folgenden Tagen war wie ein Rausch. Die Zeit blieb stehen. Ich hätte vor Glück abheben und durch den Raum schweben können. Träumend lief ich durch den Wald und stellte mir eine schöne Zukunft mit Nick vor, in der wir auf rosa Wolken schwebten. So stellte ich mir vor, wie wir uns küssten, uns in den Arm nahmen und zusammen durch die Welt reisten. Die rosarote Brille vor meinen Augen sollte jedoch schon kurze Zeit später in tausend Einzelteile zerbrechen. Unsere Begegnung wurde eine noch schmerzhaftere Beziehungskiste als all die anderen zuvor. Manchmal kam mir in den Sinn, dass ich mit meiner Biografie nur auf diese eine Begegnung vorbereitet wurde. Nick war genau wie ich verheiratet und hatte einen Sohn. Dazu zeigte er öffentlich, was für ein verantwortungsvoller Vater er sei und wie sehr er seine Familie schätzte. Nick war zu diesem Zeitpunkt ein Mensch, der sich selbst einem hohen Erwartungsdruck aussetzte und in der Außenwelt gut angesehen werden wollte. In mir kam Verzweiflung auf und Traurigkeit, weil ich diesen Mann so sehr liebte, dass mein Herz schmerzte. Wir sahen uns in den folgenden Monaten sehr selten für wenige Minuten und hatten kaum Zeit, private Worte miteinander zu wechseln. Ich weinte viel, weil ich diese schreckliche Sehnsucht in meinem Herzen spürte. In diesen Momenten spürte ich ihn, als wäre er bei mir. Er legte von hinten seine starken Arme um mich, hielt mich fest und flüsterte in mein Ohr: „Alles wird gut. Gib nie die Hoffnung auf.“ Ein Gefühl zwischen Wahnsinn und Realität überkam mich: Ich spürte einen Mann, der nicht da war, hörte seine Stimme und vernahm auf der Gefühlsebene, dass auch er eine tiefe Liebe für mich empfand. Mein Körper nahm Dinge wahr, die eigentlich nicht sein konnten. Ich taumelte, verlor die Balance und schlug mit meinen Emotionen wie ein extremes Pendel aus. Die Intensität dieser Liebe ängstigte mich. Sogar Tausende Kilometer voneinander entfernt spürte ich Nick im Urlaub täglich in meinem Herzen. Das Gefühl war so intensiv, dass ich mir nicht sicher war, ob es schön oder schmerzhaft war. Am nördlichsten Punkt Europas stand ich am Hafen einer kleinen Insel und wartete mit meiner Familie auf unsere Fähre, während ich in den Sternenhimmel schaute, den vollen Mond bestaunte und Nick spürte. Ein paar Monate vergingen, dann fragte mich Marcel: „Was ist mit dir los? Du hast dich verändert. Ich erkenne dich kaum wieder.“ Auf seine Frage wollte ich ihm eine ehrliche Antwort geben: „Ich bin einem Mann begegnet. Wir haben uns in die Augen geschaut und plötzlich empfand ich diese tiefe Liebe. Ich glaube, dass es für mich an der Zeit ist, mich weiterzuentwickeln, aber ich weiß nicht, wie sehr es unsere Ehe belasten wird.“ Vielleicht war Marcel mit mir nicht glücklich? Marcel musste sich setzen. Damit hatte er nicht gerechnet. „Warum, Karla? Bist du mit mir nicht glücklich?“ Ich sah die Verzweiflung in seinen Augen und es tat mir in der Seele weh. Wir hatten uns versprochen, immer ehrlich zueinander zu sein. Die Wahrheit war das Einzige, was sich in diesem Moment richtig anfühlte, aber mir war auch bewusst, dass die Wahrheit Marcel sehr wehtun würde. Doch genau das war ich ihm schuldig – alles, was unausgesprochen blieb oder verheimlicht wurde, stand wie eine unsichtbare Wand zwischen uns. Das wollte ich nicht mehr. Der Kampf um unsere Ehe begann. Marcel hat von diesem Zeitpunkt an versucht, meine neue spirituelle Liebe zu verstehen und zu akzeptieren. Auch ihm ist eine Frau begegnet, die sich für ihn interessierte. Aber er hat sie nicht beachtet, weil er nicht ein einziges Mal an unserer Liebe gezweifelt hatte. Es hätte mich sicherlich auch wie ein Schlag getroffen und ich hätte ihm verletzt gesagt: „Geh, wenn du gehen willst.“ Aber er sagte diesen Satz nicht zu mir. Im Gegenteil. Marcel kämpfte um mich. Er schenkte mir auf einmal mehr Aufmerksamkeit, entführte mich an schöne Orte, brachte mir Blumen mit oder machte mir Komplimente. Ich genoss die Zweisamkeit mit ihm – es war die erste intensive Zeit als Paar, nachdem wir unsere Kinder bekommen hatten. Dann begann ich innerlich und äußerlich aufzuräumen. Dabei fand ich in meinem Zimmer einen alten Liebesbrief von Marcel, in dem er mir seine Gefühle gestand. Der letzte Satz brachte mich zum Weinen: „Liebe Karla, ich habe nur ein Herz zu verschenken. Bitte gib gut acht darauf!“ Ich hatte es ihm damals versprochen und wusste um den Schmerz, betrogen zu werden. Nie hätte ich ihm das angetan. Daraufhin habe ich krampfhaft versucht, wieder mehr in Gedanken bei ihm zu sein. Doch ich konnte nicht, so sehr ich es mir wünschte. Die Nähe zu Marcel ging mit jedem weiteren Tag verloren. All die Jahre mit ihm führte ich ein Leben, das nicht immer einfach war, aber definitiv nicht in eine Sackgasse führte. Natürlich hatten wir Höhen und Tiefen in unserer Ehe. Sie waren jedoch immer von äußeren Umständen abhängig, wie Krankheit oder finanziellen Sorgen. An unserer Liebe hatten wir beide nie gezweifelt. Vor allem hatten Marcel und ich mit den Kindern viele schöne Momente. Mir wurde jedoch bewusst, dass mir irgendetwas in meinem Leben fehlte. Meine Lebensfreude war gedrosselt. Ich fuhr mit angezogener Handbremse durchs Leben: im Job und auch in meiner Gefühlswelt. Bereits vor meiner Begegnung mit Nick wurde ich an manchen Tagen innerlich unruhig und aggressiv und ließ diese Ausbrüche an den Kindern oder an Marcel aus. Es tat mir jedes Mal leid. Ich mochte mich nicht, wenn ich so war. Nun versuchte ich, meine Aggressivität zu ergründen. Viele Stunden wurde ich still und ließ unangenehme Gefühle hochkommen, ohne sie zu bewerten, bis mir klar wurde, dass es letztlich nur um mich ging und es nicht die Fehler meiner Familienmitglieder waren, die mich aggressiv machten.
Durch die Meditationen wurden meine Sinne so sehr geschärft, dass sich mein sechster Sinn wieder meldete. Ich ließ zu, dass Spiritualität endlich einen festen Platz in meinem Leben einnahm, weil es mein Leben bereicherte. Nun wusste ich die Vorteile für mich zu nutzen – nicht nur beim körperlichen Liebesspiel mit Marcel, sondern auch im Alltag. Durch das Deuten meiner Visionen war ich anderen oft einen Schritt voraus und konnte Schlimmeres verhindern. So sah ich auch Nick, wie er in Lebensgefahr schwebte. Er lag auf dem Boden und wurde von einem Notarzt wiederbelebt. Wochenlang sah ich diese Bilder immer wieder, wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs war oder während meiner Laufrunden. Beim Sport war mein sechster Sinn wie eine Antenne nach oben. Ich schrieb Nick daraufhin eine SMS, doch er antwortete nicht, weil er sie gar nicht bekam, wie sich später herausstellte. Wieder vergingen ein paar Wochen und auf einer Laufrunde schnürte plötzlich meine Kehle zu. Eine Schar von Raben schaute mich an und in mir kam schreckliche Angst auf. Ich rang nach Luft und sah wieder diese Bilder vor meinem inneren Auge. Nick lag am Boden. Er musste wiederbelebt werden. Die gleichen Bilder wie die Wochen zuvor. Der Gedanke, dass ich ihn nie wiedersehen würde und ihm nicht sagen könnte, was ich für ihn empfand, machte mich traurig und ließ mich fast verzweifeln. Also schrieb ich ihm dieses Mal eine Mail, in der ich ihm erklärte, was ich gesehen hatte. Es erforderte eine Menge Mut von mir, weil ich wusste, dass Nick mit Spiritualität nichts am Hut hatte. „Lieber Nick, wenn du diese Zeilen liest und dich bester Gesundheit erfreust, dann vergiss alles und freue dich einfach, dass sich eine verrückte Frau wie ich um dich sorgt …“ Ein paar Tage später antwortete er mir: „Liebe Karla, es tut mir leid, dass du dich so sehr um mich sorgen musstest. Ich bin nicht lebensgefährlich erkrankt, aber gut geht es mir auch nicht …“ Wir schrieben ein paar Mal hin und her und ich war etwas beruhigt. Im Nachhinein kam heraus, dass Nick seine gesundheitlichen Probleme lange Zeit verdrängt hatte und er sich erst nach meiner Nachricht wieder mehr um sich selbst kümmerte. Nachdem er meine Email gelesen hatte, lag er die halbe Nacht wach und fragte sich, warum dieses hübsche Mädchen von damals nun als wunderschöne Frau auf ihn zukam und sich sorgte. Ihn überkam das Gefühl, dass Karla tatsächlich Interesse an ihm hatte. Die Szenen auf dem Schulhof kamen wieder in sein Gedächtnis. Karla schaute nie in seine Richtung. Sie übersah ihn förmlich. Und nun schrieb sie ihm eine Nachricht und teilte ihm zwischen den Zeilen mit, dass sie sich für ihn als Mann interessierte. „Warum gerade jetzt?“ Diese Frage ließ ihn nun nicht mehr los.
Wieder vergingen ein paar Wochen ohne Kontakt und ich konnte in dieser Zeit kaum arbeiten, weil meine Konzentration immer wieder zu Nick ging. An einem Samstag fuhr ich mit dem Rad in die Stadt, um auf dem Wochenmarkt einzukaufen. Ich war spät dran. Es nieselte und war fürchterlich kalt. Als ich alles eingekauft hatte und nach Hause radeln wollte, kam plötzlich Nick mit seinem Sohn um die Ecke gefahren. Spontan stoppten wir beide, reichten uns die Hände und redeten über Alltagsdinge. Ich schaute ihm wieder verliebt in seine wunderschönen Augen. Sie sahen müde und traurig aus. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Es brach mir fast das Herz. Noch am selben Abend schrieb ich Nick deshalb eine alles ändernde Email. Meine Knie zitterten, als ich die Nachricht abschickte. In diesen Zeilen berichtete ich Nick, was ich für ihn empfand: „Lieber Nick, ich habe lange überlegt, ob ich dir diese Zeilen schreiben soll. Als wir uns vor ein paar Monaten wiedergesehen haben, habe ich durch den Blick in deine Augen eine tiefe Liebe empfunden. Mein ganzes Leben lang habe ich nach diesem Gefühl gesucht und plötzlich stehst du vor mir …“ Ich wünschte mir, dass er durch meinen Liebesbrief aus seinem mentalen Loch wieder herauskommen und schnell gesundwerden würde. Gleichzeitig hatte ich Angst, dass er nie wieder etwas mit mir zu tun haben wollte. Die Zeit des Wartens begann. Ich weinte viele Stunden am Tag – manchmal liefen die Tränen sogar vor meinen Kindern, die mich verzweifelt in den Arm nahmen und mit mir weinten. „Mama, warum bist du nur so traurig?“ Sie wussten nicht, was mit mir los war. Meine Freundinnen ermutigten und bestärkten mich, dass er sich melden würde. Sie waren sich sicher, dass er nur etwas Zeit bräuchte. In der Zwischenzeit las Nick meine Nachricht. Er fühlte sich wie blockiert. „Warum schreibt Karla mir diese Zeilen? Wie kann diese hübsche Frau so etwas für mich empfinden? Warum schreibt sie so offen über ihre Gefühle? Was ist mit unseren Familien? Wieso passiert mir so etwas?“ Verzweiflung vermischte sich mit Stolz, Angst und dem Gefühl der Liebe. Als Nick die Nachricht gelesen hatte, war es spät am Abend. Ich schlief bereits und wachte auf von einem Glühen in meinem Herzen. Mein Wecker zeigte 23 Uhr an. Seine innere Unruhe und Zerrissenheit kamen gedanklich bei mir an. Ich fühlte mich wie in einem Fieberzustand. Mein Herz glühte wie Feuer und so lag ich noch Stunden lang wach in meinem Bett und nahm wahr, was zwischen uns beiden auf der Seelenebene passierte. Der letzte Satz meiner Nachricht bereitete Nick Sorgen: „Ich verstehe, wenn du nun keinen Kontakt mehr zu mir wünschst.“ Er wusste nicht, wie er seine Gedanken in Worte ausdrücken sollte. Doch nach einer Woche fasste er den Mut, weil die Angst, mich zu verlieren noch größer war. „Liebe Karla, ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte finde – ich kann nicht so gut schreiben wie du … Warum sollte ich keinen Kontakt zu dir wünschen? Fände ich schade!“ Die erste große Mauer zwischen uns fing an zu bröckeln. Ein halbes Jahr lang schrieben wir uns fast täglich kleine Romane mit nur kurzen Unterbrechungen, in denen wir Missverständnisse überdenken mussten. Diese erste intensive Nachricht brachte Nick wirklich in Schwung. Er bewegte sich – gedanklich und physisch. Nun fing er an, etwas für seine Gesundheit zu tun und fuhr täglich mit dem Rad zur Arbeit und machte Kraftübungen. Die Gedanken in seinem Kopf fuhren jedoch Karussell. „Karla ist ziemlich offen und direkt. Sie kann Gedanken gefühlvoll in Worte verwandeln. Ich bewundere ihren Mut. Und hübsch ist sie“, er lächelte bei dem Gedanken an mich. Von nun an wachten wir beide jeden Tag mit dem ersten Gedanken an uns auf und schliefen mit dem letzten Gedanken an uns wieder ein. Wir chatteten manchmal miteinander und kamen uns auf diesem Weg näher. Anfangs schrieben wir über Alltagsdinge. Kurz bevor wir uns verabschiedeten, öffneten wir uns gegenseitig und schrieben uns, was wir füreinander empfanden oder welche Sehnsüchte uns im Leben antrieben. Danach lag ich allein im Bett und war erregt – ich wollte ihn berühren, ihn küssen, ihn spüren und eng umschlungen mit ihm einschlafen. Ich fühlte, dass es ihm ähnlich ging. Die Hormone durchfluteten meinen Körper, wenn ich intensiv an Nick dachte. Das Kribbeln in meinem Herzen breitete sich über den Brustkorb bis in Arme, Füße und Kopf aus. Was ich spürte, war eine tiefe Seelenliebe zwischen uns beiden.
Ein paar Mal telefonierten wir miteinander. Marcel bekam unseren ersten Anruf mit und fühlte eine schreckliche Eifersucht. Heimlich las er meine Emails und hat damit Nicks Adresse herausgefunden. Im Dunkeln joggte Marcel zu Nicks Haus, um zu sehen, ob er es war, der am anderen Ende der Telefonleitung stand, während ich mich mit meinem Telefon im Arbeitszimmer einschloss. Nach ein paar Wochen wollte Marcel Nick in seine Augen sehen und fuhr mit einem Vorwand zu seiner Firma. Danach kam er nach Hause und rief: „Karla, ich kann dich nur bemitleiden. Dieser Mann ist schwach. Ich habe es in seinen Augen gesehen. Er wird sich nie für dich entscheiden, weil er nicht deine Stärke besitzt. Nick gehört zu den Menschen, die nur tun, was andere von ihm erwarten.“ Augenblicklich spürte ich einen tiefen Schmerz, weil Marcel meine Sehnsucht auf den Punkt brachte. Meine Seele malte sich eine schöne Zukunft mit Nick aus, doch mein Verstand wusste, dass es zu diesem Zeitpunkt unmöglich war. Vielleicht hätte ich ähnlich gehandelt, wenn Marcel in meiner Situation gewesen wäre.
Dann kam es zu unserer ersten unverbindlichen Verabredung. Wir telefonierten und machten am Ende Scherze darüber, dass wir am Wochenende einkaufen müssten und ganz allein über den Markt schlendern würden. Am nächsten Morgen schrieb ich ihm eine SMS: „Bin schon dort und warte auf einen schönen Mann, der mich zum Kaffee einlädt.“ Es kam keine Antwort. Daraufhin versuchte ich, ihn anzurufen, aber das Handy war aus. Enttäuscht nahm ich meine Sachen und beschloss, nach Hause zu fahren. Auf dem Weg sah ich Nick auf dem Fahrrad – auf der anderen Straßenseite. Er schaute erschrocken, weil ich in die falsche Richtung fuhr. Dann wechselte er die Straßenseite und kam zu mir: „Was hast du vor? Wir wollten doch Kaffee trinken, oder habe ich etwas falsch verstanden?“ „Nein. Ich dachte nur, du kommst nicht mehr. Aber ich kann umdrehen.“ „Ja, bitte. Ich wurde leider aufgehalten.“ Nick schien nervös und aufgeregt zu sein. Nebeneinander fuhren wir ins nächste Café und stellten unsere Räder ab. Dort saßen wir uns gegenüber, tranken Espresso mit Blick auf die Alster und Nick erzählte mir von seinen beruflichen Herausforderungen. Ich schaute ihm die ganze Zeit tief in die Augen und spürte, dass mein Herz dauerhaft glühte. Dieses Gefühl war wunderschön. Meine Augen leuchteten verliebt und ich schmolz dahin. Nach einer Stunde musste Nick noch rasch einkaufen und ich begleitete ihn. Neben ihm zu gehen entspannte mich, als wäre es das Normalste auf der Welt. Unsere Energiefelder tauschten sich aus und ich spürte das elektrische Kribbeln an der Oberfläche meiner Haut. Ich hatte das Gefühl, mit ihm zu verschmelzen. Kurz bevor er losmusste, fragte ich: „Darf ich dich kurz umarmen?“ Nick schaute erschrocken: „Natürlich.“ Dann öffnete er seine Arme und umarmte mich, als wäre ich eine heiße Herdplatte. Erschrocken schaute ich ihn an. „Ich schreibe dir!“, sagte er mit leiser Stimme, dann nahm er sein Fahrrad, verabschiedete sich und fuhr davon. Wie benebelt fuhr ich nach Hause, schmiss mein Fahrrad in den Garten und legte mich gleich daneben. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich auf dem Rasen lag. Zum Glück waren Marcel und die Kinder nicht zu Hause und konnten mich so nicht sehen. Ich lag regungslos auf dem Boden und starrte in den Himmel. Irgendwann kamen die Tränen und die Trauer. Mein Körper zitterte. Ich weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Mein Zeitgefühl setzte vollkommen aus. Nick hatte – ohne es zu wollen – mir meine komplette Energie aus dem Körper gezogen und ich hatte es zugelassen. Am nächsten Morgen meldete er sich kurz und oberflächlich mit einer SMS. Ich antwortete ihm kühl und distanziert. Daraufhin schrieb er mir, dass er weinen würde, weil er mir in meine leuchtenden Augen geschaut hat und nicht wüsste, was er nun tun solle. Wieder kamen mir die Tränen und ich spürte seine Verzweiflung. Ich schrieb ihm, dass ich ihn gerne länger umarmt hätte, und er antwortete, dass er so etwas als verheirateter Mann nicht tun könnte. „Es wäre nur eine Umarmung gewesen, Nick! Meine Freunde umarmen mich herzlicher, als du es tust!“ Ich spürte, wie er am anderen Ende mit sich kämpfte. Eigentlich wollte er es auch: mich spüren. „Vielleicht kann ich lernen, dich zu umarmen wie eine Freundin. Ich werde mir Mühe geben.“ Nick wollte mich wiedersehen. Die folgenden Wochen trafen wir uns immer wieder spontan auf dem Markt. Der Zufall wollte es. Ich nannte es Schicksal, weil Nick sich nicht offiziell mit mir verabreden wollte. Dafür gab er mir Zeichen, wann und wo er sein würde. Ich hatte es jedes Mal im Gefühl, dass wir uns sehen würden. Wie an diesem einen Samstag, als Marcel nicht zu Hause war. Meine Kinder weckte ich und sagte zu ihnen: „Ich hole kurz Brötchen vom Markt. Ihr könnt aber schon frühstücken, wenn ihr hungrig seid. Es ist alles da.“ Die Kinder freuten sich, weil sie außerhalb der Regel Fernsehen durften. Für mich war es wie ein Geschenk, Nick zu treffen. Bereits auf dem Weg zum Markt kreuzten sich unsere Wege. Wir fuhren nebeneinander, sagten kaum ein Wort und genossen das Gefühl der Vertrautheit. Als wir die Räder abstellten, umarmten wir uns zur Begrüßung und ich hielt ihn einfach etwas fest: „Geht doch.“ Mit einem Grinsen ließ ich ihn widerwillig los. So schlenderten wir wieder nebeneinanderher. Nick war etwas in Zeitdruck, weil er noch arbeiten musste und vorher mit seiner Familie frühstücken wollte. Also gingen wir zielgerichtet zu seinen Ständen und waren schließlich beim Fischhändler. Nick fragte nach einem Tintenfisch. Er wollte ihn grillen. Der Händler hielt den Tintenfisch hoch und ich stammelte: „Igitt. Wer soll das Teil zubereiten und auf den Grill legen?“ „Ich wollte das gerne mal ausprobieren. Keine Ahnung, ob das schmeckt. Wie macht man das?“ Der Händler erklärte die Zubereitung auf dem Grill, schaute zu mir und sagte: „Sie werden das schon hinbekommen. Sie haben schließlich eine junge Frau!“ Nick stammelte nur: „Ja.“ Spontan sahen wir uns an und mussten laut lachen. Auf dem Weg nach Hause hielten wir an einem kleinen Waldweg, bevor sich unsere Wege trennten. Nick berichtete mir, dass ihm Energie für die Arbeit fehlte. „Ich kann dich in nur wenigen Minuten aufladen. Gib mir deine Hand.“ „Du glaubst an so etwas?“ Er lächelte vergnügt und gab mir seine Hand. So standen wir gute fünf Minuten Händchen haltend im Wald und unterhielten uns. Seine Haut fühlte sich herrlich weich und warm an. Die Energie floss jedoch nicht sofort von mir zu ihm. Ich war auf einmal wie blockiert und schüchtern. „Konzentriere dich!“, sagte ich mir innerlich. Meinem Herzen befahl ich, reine Energie zu seinem Herzen zu schicken. Als diese Energie schließlich über meine Hände in seine Hand floss, hatte ich ständig das Gefühl, dass er mehrmals die Hand wegziehen wollte. „Noch nicht! Wir sind noch nicht fertig.“ Ich umklammerte seine Hand mit meinen Händen und hielt ihn fest. Es war Nick nicht unangenehm – nur irgendwie ungewohnt, weil wir uns so lange ohne Pause berührten. Als der Energiefluss schwächer wurde, ließ ich ihn wieder los. „Du bist spät dran. Fahr lieber.“ „Nein, ich habe noch ein paar Minuten Zeit, Karla.“ Wollte er nicht nach Hause? Mir war es recht. So standen wir weiter am Wegesrand und erzählten aus unserem Leben. Lächelnd verabschiedeten wir uns. Wir waren kaum getrennt, da setzte die Sehnsucht nach ihm wieder ein, aber die Erinnerung an diese kurzen und intensiven Momente blieb für die Ewigkeit. Nick schrieb mir später, dass es ihm gut ginge und dass er unser Treffen schön fand. Ich schwebte wieder wie auf Wolken durchs Leben. Die Zeit dazwischen wartete ich – auf Nachrichten oder das nächste Treffen. Es war wie eine Sucht. Ich wollte ihn unbedingt wiedersehen. Ein paar Mal trafen wir uns noch spontan, schicksalhaft und zufällig. Auch das waren kurze Momente, die intensiv und schön waren. Mehr Zeit hatten Nick und ich leider nicht.
Marcel unterstellte mir immer wieder eine Affäre mit Nick. Sein Verstand konnte nicht begreifen, dass diese Verbindung mich vorantrieb und mir die Lebensfreude zurückbrachte, die mir durch meine vergangenen Lebensereignisse verloren ging. Also spielte er weiter den Detektiv und verkroch sich im Keller, wenn ihm alles zu viel wurde. Die ganzen Jahre hatte Marcel mich auf Händen getragen. In dieser Zeit hätte er jeden Tag sein Leben für mich gegeben. Er hatte es immer nur gut mit mir gemeint, aber nun zweifelte er daran, ob er mich jemals gekannt hatte. Ich wurde ihm plötzlich fremd. Wir sprachen weniger miteinander, gingen uns abends aus dem Weg und ließen uns in Ruhe. Während ich Marcel immer fremder wurde, kamen Nick und ich uns näher – nur durch aufgeschriebene Gedanken. Nick vervollständigte mich. Für Nick jedoch fühlte sich diese Nähe nach ein paar Wochen wie ein Sog an. Anfangs ließ er sich gerne davon mitreißen, weil er spürte, dass es ihm so viel positive Energie für sein Leben schenkte. Er fühlte sich von mir begehrt und so angenommen, wie er war. Ich interessierte mich nicht für sein Geld, sondern nur für ihn als Mensch. Nick ließ alles fließen zwischen uns. Ohne Drang und ohne Zwang. „Ich denke sehr viel an dich, Karla. Du strahlst so viel Wärme, Positivität und Geborgenheit aus.“
Marcel spürte unseren Gedankenaustausch und reagierte noch eifersüchtiger und besitzergreifender. Als ich mein Äußeres veränderte und mich so schick anzog wie in alten Zeiten, sagte er mit abschätzenden Worten. „Die Stiefel sehen streng aus bei dir. Turnschuhe finde ich schöner. Und wozu brauchst du Spitzenunterwäsche? Die hast du doch sonst nie getragen!“ Er war unsicher, weil er zu diesem Zeitpunkt glaubte, ich täte das nicht für mich, sondern für meine Affäre Nick. An manchen Tagen gab Marcel zu: „Du siehst toll aus. Schade, dass du das nicht für mich tust.“ Er hatte schreckliche Angst, mich zu verlieren. Wenn ich abends spät von der Arbeit heimkam, schaute er mich eindringlich an. Marcel sprach nicht aus, was er dachte, aber ich kannte ihn sehr gut. Innerlich war er kurz vorm Platzen. Jeder Außenstehende konnte ihn verstehen. Doch ich wünschte mir so sehr, dass er über seinen eigenen Schatten springen und das Positive in dieser Situation sehen würde: Seine Frau, die ehrlich zu ihm ist und sich für ihn, sich selbst und den Rest der Welt schön machte. Ich ging unbeirrt meinen Weg weiter. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich selbstbewusst. Von meinen Freunden und auch von Nick bekam ich während dieser Entwicklungsschritte viele schöne Komplimente.
Dann kam der große Einschnitt in meinem Leben: „Schluss. Aus! So geht das nicht!“ Ich stand vor meiner Familie und war wieder den Tränen nahe. Unsere Tochter Maya beleidigte mich in einer Tour. Mittlerweile waren anderthalb Jahre seit der ersten Begegnung mit Nick vergangen. In einer ruhigen Minute nahm ich sie zur Seite. Maya weinte und erzählte mir, dass Marcel in letzter Zeit oft zu ihr sagte: „Mama hat einen neuen Freund.“ Ich war schockiert und verletzt, weil die Kinder unter uns litten. Ich wusste, dass Marcel alles in sich hineinfraß – der Harmonie wegen. Er versuchte die negativen Gefühle zu verstecken und drückte die Gefühle weg. Doch abends überkam es ihn, wenn ich nicht da war. Marcel hatte keinerlei Vertrauen mehr zu mir. Niemals hätte ich ihn betrogen oder wegen eines anderen Mannes verlassen. Ich liebte ihn, aber so ging es mit uns nicht mehr weiter. Wir redeten, als die Kinder schliefen, und kamen an den Punkt, wo wir uns eingestehen mussten, dass es besser wäre, uns in Liebe freizugeben und den Druck herauszunehmen. Ich wünschte mir, dass er glücklicher werden würde ohne mich. Deswegen fällte ich eine Entscheidung für alle: „Es hat keinen Sinn mehr. Lass uns nicht an alten Zeiten festhalten. Wir bleiben trotzdem für immer eine Familie! Wir fangen uns gegenseitig auf, wenn der Andere Hilfe braucht, und sind wie Freunde füreinander da.“ Wir hatten uns verändert, die Zeiten hatten sich geändert. All unsere Versprechungen von damals passten nicht mehr in die Gegenwart. Nun standen wir beide am Scheideweg und bewegten uns in verschiedene Richtungen. Ich wusste nicht, ob diese Wege uns beide wieder zusammenführen würden. Unser Zusammenkommen damals war eine schöne Zeit, das Auseinandergehen sollte nicht hässlich werden. In meiner Erinnerung würde Marcel immer der starke Mann sein, mit dem ich zum ersten Mal in meinem Leben wahre Liebe gefühlt habe. Ich empfand eine tiefe Dankbarkeit für diese Zeit. Dann akzeptierte ich die Wahrheit: Die Liebe blieb in den letzten Jahren auf der Strecke. Es hatte nichts mit Nick zu tun. Nick hatte uns lediglich aufgezeigt, dass etwas Elementares in unserer Beziehung schieflief. Unser Gefühl war nicht mehr wie früher und ich spürte, dass es Marcel genauso ging. Die Vergangenheit war so schön gewesen, dass wir sie wiederholen wollten. Wir versuchten anfangs die Liebe neu zu beleben, und es war schön in dieser Zeit, aber im Alltag kam Nick wieder so stark in mein Herz, dass ich nicht anders konnte, als an ihn zu denken. Viele Stunden habe ich verzweifelt geweint und gedacht, dass ich als Mutter und Ehefrau versagt hätte. Ich hatte geheiratet in der Hoffnung, dass wir unser gesamtes Leben miteinander verbringen würden, so wie es unsere Eltern auch taten. Ich wollte niemals aus meinen Kindern Trennungskinder machen. Doch ich konnte auch nicht mit ansehen, wie unsere elfjährige Tochter zwischen uns hin- und hergerissen wurde und vollkommen durchdrehte. Unser neunjähriger Sohn klammerte an seinem Vater wie ein Ertrinkender. Das musste aufhören und zwar, bevor die Kinder einen ernsthaften seelischen Schaden erlitten. Ein paar Wochen vor dieser Entscheidung saßen wir noch bei einer Paartherapeutin: „Frau Bordeaux, es ist egal, wen Sie heiraten. Am Ende treffen Sie immer nur auf sich selbst. Der Partner ist wie eine Leinwand. Er zeigt Ihnen Ihre unerfüllten Bedürfnisse und verdrängten Verletzungen. Es ist jetzt an der Zeit, die beste Beziehung Ihres Lebens zu führen. Mit Ihnen selbst!“ Sie hatte recht. Ich brauchte nun Zeit für mich selbst, um mich zu finden und zu erkennen, wer ich wirklich war.
Marcel und ich standen uns nach dieser Entscheidung auf Augenhöhe respektvoll gegenüber. Die letzten Blockaden zwischen uns brachen auf und ich spürte, dass es nicht der einfachste, aber der richtige Weg war. Noch in der Trennungsnacht schliefen wir miteinander. Marcel machte mir wunderschöne und ernst gemeinte Komplimente. Ich spürte seine Lust auf mich. Er zog mich an sich. Eng umschlungen standen wir mehrere Minuten zusammen und küssten uns. Langsam glitten seine Finger unter mein Kleid und landeten an meiner Reizwäsche. Wir zogen uns gegenseitig aus und liebten uns leidenschaftlich. Marcel kniete vor mir, hielt mein Becken mit beiden Händen und drang in mich ein. Mit meinen Beinen umschlang ich seine Hüften, kam in die Rückbeuge, spürte meinen tiefen Atem und kreiste in kleinen Bewegungen mein Becken. Danach drehten wir uns. Ich stützte mich auf die Hände, öffnete mein Herzzentrum und bestimmte nun selbst Intensität und Rhythmus. Schweißtropfen liefen über Marcels Gesicht. Ich küsste seinen Hals, seine Lippen, seine Augen. Die sexuelle Energie lief wie ein reißender Fluss durch meine Adern. Wir tauschten Zärtlichkeiten aus und genossen die gegenseitige Öffnung und Nähe – so nah, wie wir uns vielleicht noch nie waren. In dieser Nacht wurden unsere Seelen für einen kurzen Moment eins und ich bekam eine leise Vorahnung, was den Zustand von „Samadhi“ ausmachte: das Gefühl vollkommener Losgelöstheit. Gelebte Sexualität verjüngte meinen Körper und reinigte meinen Verstand – so steht es auch im Kamasutra geschrieben. Jede Zelle meines Körpers wurde von dieser Energie durchdrungen. Nun ging es nicht mehr darum, einfach satt zu werden, sondern um den Genuss. Die Glücksgefühle, die dabei entstehen, werden automatisch über die Herzfrequenz des Partners empfangen und können für dessen Ekstase sorgen. Man schaukelt sich damit gegenseitig hoch und erfährt ein unbeschreiblich schönes sexuelles Erlebnis. Ich kam an diesen Punkt, wo ich anfing, meine Sexualität voll auszuleben. Ohne Hemmungen und ohne Scham. Ich erkundete mich, meinen Körper und meine sehnlichsten Wünsche. Ich spürte endlich die Lebenslust, die ich als junger Mensch gesucht und nicht gefunden hatte.
Von der Gesellschaft wird körperliche Liebe durch negative Glaubenssätze oft unterdrückt. Doch Sexualität sorgt für Reife und sinnliches Erleben. Durch eine Unterdrückung wird der natürliche Fluss der Energie verhindert. Diese Energie sucht sich einen anderen Weg in Form von Macht, Gewalt oder Habgier. Wird dieser Energie jedoch im positiven Sinne Raum gegeben, so kommt es zu folgendem Phänomen: Während des Orgasmus ist der Kopf vollkommen befreit von Gedanken. Dieser Moment ist die totale Bewusstheit – das Gefühl der Glückseligkeit. Das Faszinierende daran ist, dass Gedankenleere zur Ekstase führt. Leider währt dieser Moment nur kurz und man möchte diesen Zustand ausdehnen. Deswegen sind Systeme wie Yoga und Tantra so beliebt. Der Ursprung von Meditation ist sozusagen der Sexualakt. In einer tiefen Meditation kann die gleiche Glückseligkeit erfahren werden wie bei einem Orgasmus, dafür jedoch sehr viel länger. Nur leider finden nicht alle Menschen Zugang zur Meditation. Deswegen wurden beim Tantra und auch Kamasutra Wege aufgezeigt, wie der Orgasmus länger erfahrbar gemacht werden kann: über das Herz und tiefe Liebe. Die Erfahrung des Einsseins ist die Auflösung von „Ich und Du“. Das Ego hat kein Gewicht mehr. Wenn zwei Menschen zu einem werden, lösen sich alle gedanklichen Grenzen auf. Bewusstheit ist Stille. In diesem Moment blühen wir auf, bekommen Gänsehaut, Energie durchflutet den Körper, die Sinne nehmen extrem wahr und Emotionen kommen hervor, die der Verstand unterdrückt hat. Natürlich hätte mein Herz auch gerne diese Erfahrung mit Nick geteilt. Wir waren jedoch durch unsere gesellschaftlichen Pflichten beide nicht frei dafür. Also wollte ich lernen, diesen Mann zu lieben und ihn gleichzeitig freizulassen, obwohl die Sehnsucht mein Herz fast zerriss. Was mir blieb, war die Meditation, meine Träume und Phantasien. Über die Meditationen wurde mir auch bewusst, dass ich Marcel von Herzen liebte. Ich liebte ihn und vermisste unsere alten Zeiten, aber ich wusste auch, dass die Liebe zu Nick immer zwischen uns stehen würde. Ich wollte Marcel nicht verletzen oder ihn an die zweite Stelle rücken. Es war an der Zeit, Klarheit in die Situation zu bringen, den Weg des Herzens zu beschreiten und eine Pause einzulegen. Oft weinte ich, weil während der Meditation Gefühle hochkamen, die mir wehtaten. In diesen Momenten war ich sehr verletzlich. Mein Urvertrauen wurde auf eine harte Probe gestellt. Dann sagte ich mir innerlich: „Was zu dir gehört, wird zu dir zurückkommen.“ Vertrauen und Geduld waren noch nie meine Stärke. Daher ist es mir nicht leichtgefallen, mich derart dem Lebensfluss hinzugeben und darauf zu vertrauen, dass alles kommt, wie es kommen soll. Ich suchte Gründe dafür, warum ich mich in den folgenden Wochen allein oder einsam fühlte. Mein Verstand plapperte die ganze Zeit und redete mir Schuldgefühle ein, was das Ganze nur noch verschlimmerte. Ich wollte auch Marcel seine Trauer nehmen – wie immer ein fataler Fehler! Ich konnte es nicht lassen, schlug mir auf die Wange und sagte immer wieder laut: „Lieber Marcel, es ist dein Seelenschmerz, er gehört nicht zu mir.“ Während ich mit meinen Freundinnen Zeit verbrachte, ging es mir gut. Manchmal, in der Stille der Einsamkeit, kamen plötzlich schlimme Gefühle hoch und ich fühlte mich einsam und allein. Ich glaubte, das zu brauchen, was ich gerade nicht haben konnte. Mein Verstand unterlag einer Illusion, die großen Schmerz verursachte. Doch wenn man das Wort „All-ein-Sein“ genauer betrachtet, bekommt es eine völlig neue Bedeutung. Während ich allein war, besann ich mich auf meinen Ursprung. Dieser Ursprung ist die tiefe Verbundenheit mit der Quelle in mir selbst. Es war alles da, was ich brauchte. Ich musste in meiner Verzweiflung keinen Gott um Hilfe bitten, denn das Göttliche war in mir selbst vorhanden. Ich musste lediglich lernen, diese Essenz richtig zu nutzen. Die wichtigste Regel dabei: „Identifiziere dich nicht mit deinen eigenen Gedanken, sondern werde still und beobachte, was passiert.“ Ich konnte wählen, was ich erfahren und denken wollte. Für mich gab es nur eine gute Wahl: die Wahl, die das Herz getroffen hat. Wenn ich auf diesem Weg positiv denken würde, dann würde ich auch positive Erfahrungen sammeln. So viel stand fest. Es war die einzige Möglichkeit, die ich hatte. Nick war in den folgenden Wochen und Monaten weiterhin wie ein Schlüssel für mich. Er schloss nach und nach all die verborgenen Schätze in mir wieder auf, die durch Blockaden von früher verschlossen waren. Dabei ergänzte er mich wie ein Spiegelbild. Ich reflektierte mein Verhalten und begab mich freiwillig in den Meditationen in die schmerzhaften Situationen aus meiner Kindheit, um diese aufzulösen. Ich lernte zu vergeben. Mir selbst und anderen Menschen.