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Der ›Schwarze Bock‹ war eine Kneipe, in der sich in den letzten Jahrzehnten nichts verändert hatte. Selbst die Einrichtung war noch haargenau dieselbe. Der Wirt, den alle immer nur ›Joke‹ nannten, war längst über 70 Jahre alt, führte die Kneipe noch, allerdings hatte er den Gastraum um mehr als die Hälfte verkleinert. Einen Nachfolger gab es nicht, man würde für den alten Laden wohl auch keinen finden. So führte er die Kneipe weiter. »Bis ich hinter’m Tresen liege, aber nicht, weil ich duhn bin«, fügte Joke meistens noch hinzu. »Ich mache das, was die Regierung und die Arbeitgeberverbände immer als Allheilmittel gegen die Arbeitslosigkeit und zur Rentensicherung predigen – ich arbeite bis 80. Wenn ich einen Nachkommen hätte, würde ich allerdings nicht mehr hinter dieser gottverdammten Theke stehen …«

Für den Lebensunterhalt brauchte er die Kneipe nicht mehr, er hatte zeit seines Lebens in die Rentenkasse eingezahlt, das reichte ihm jetzt, auch wenn es, angesichts einer erneuten Nullrunde bei den Renten, nichts würde mit den drei Wochen auf den Malediven, die Jokes Lebenstraum waren. Angesichts der mittlerweile um sich greifenden Billigflüge hatte August ihm vorgeschlagen, er könne doch wenigstens mal nach Mallorca fliegen, aber Joke brachte diese schöne Mittelmeerinsel ausschließlich mit dem Ballermann in Verbindung, was ein Fehler war, denn sie war zweifelsohne überaus schön. Sangria trinken mit überlangen Strohhalmen aus 10-Liter-Eimern, das wäre nichts für ihn. Und ein ordentliches friesisches Pils könne er sich auch selbst an der eigenen Theke zapfen. Seine Frau war schon seit über zehn Jahren tot, und Kinder hatte er keine. Von anderen Verwandten war nichts bekannt, und eigentlich wusste auch keiner, ob Joke tatsächlich Freunde hatte.

Peter Kümmel hatte den Vorschlag gemacht, gemeinsam mit Schorsch ein Bier im ›Schwarzen Bock‹ zu trinken. Joke öffnete nur noch an drei Tagen pro Woche, von Mittwoch bis Freitag; sie hatten sich für den Freitag entschieden. Das war Georg Redenius’ Vorschlag gewesen, da könne er dann auch ein, zwei Bier mehr trinken, weil er am nächsten Tag nicht auf’s Amt müsse.

Um die Runde aufzulockern, hatten sie beschlossen, Skat zu spielen, und das erwies sich als gute Idee, denn insbesondere Schorsch war ein begeisterter – und guter – Skatspieler. Doppelkopf, von August ins Gespräch gebracht, der zunächst anvisiert hatte, Wiard mitzunehmen, hatte Schorsch abgelehnt – das sei ihm zu kompliziert, und was das überhaupt solle, anstatt des Kreuz-Bauern, die Herz-Zehn zum höchsten Trumpf zu erklären. Außerdem, das müsse er gestehen, wäre er nicht besonders gut auf Wiard zu sprechen, seit diesem Sportfest, neulich. Da Wiard an diesem Abend ohnehin keine Zeit hatte, waren sie zu dritt, und damit hatte sich Doppelkopf von selbst erledigt. Joke stand hinter seiner Theke und sprach mit zwei Gästen, die hier jeden Freitag saßen, den Arbeitstag ausklingen ließen und das Wochenende einläuteten.

Schorsch Redenius spielte gut, was natürlich auch durch gute Blätter bedingt war, die er gerade in der Anfangsphase zugespielt bekam. Im Moment stand er unangefochten auf Platz eins. Bis auf einen vergeigten Null-Ouvert war bei Schorsch alles im grünen Bereich, bis Peter sich nicht verkneifen konnte, zu Beginn des nächsten Spiels prahlerisch anzukündigen, dass er sie nun alle satt machen werde. Er legte einen Grand Hand hin, der ihm eine Menge Punkte bescherte, zumal er mit Dreien war. August sah sich indes auf Platz drei und hatte bisher kaum Land gewonnen.

Während eines Spiels, bei dem August eine erneute Niederlage drohte, entschloss sich dieser, das Gespräch, das sich vorher nur um Kommentare zu den Spielen, Fußball und die Arbeit gedreht hatte (Frauen würden wohl erst bei weiterem Alkoholgenuss einbezogen), auf den Deich zu lenken.

»Also, diese Geschichte um den Deich, die hat mich immer noch nicht ganz losgelassen, Herr Redenius«, begann er.

»Herr Redenius«, sagte Georg beinahe etwas abfällig, »das ist das Stichwort, Joke, bring mal drei Corvit.«

»Oh nee, bloß nicht«, kommentierte Peter Kümmel, allerdings schien das nicht ganz ehrlich gemeint, und Joke war auch schon blitzschnell mit drei eiskalten Corvit im Anmarsch. Umsatz.

»Auf meinen Deckel.« Schorsch Redenius hob sein Glas und sagte: »Herr Redenius ist nun nicht mehr, Herr Saathoff. Ab jetzt Georg, oder besser, Schorsch.« Er hielt August sein Glas hin.

»Na dann, von mir aus, ich bin August.«

Die drei kippten den Klaren, nicht ohne sich danach kräftig zu schütteln.

»Ich nehme noch einen«, raunte Schorsch Joke zu, sah in die Runde, aber die beiden anderen lehnten ab. Wenig später stand ein Schnaps da, und so schnell er vor Schorsch Redenius gelandet war, so schnell war er auch geleert.

»Jetzt geht’s mir besser.« Schorsch atmete tief durch und fügte hinzu: »Wir können doch nicht bei Joke sitzen, Skat spielen und uns immer mit ›Herr Redenius‹, ›Herr Saathoff‹ ansprechen. So’n Tüdelkrams. Also, ab jetzt auf Du.« Er lachte etwas krampfig und fuhr fort: »Nun lass uns nicht über den vermaledeiten Deich reden, der steht, und der steht auch noch in 100 Jahren, das sage ich euch. Auch dir, Peter, du hast heute auch schon zweimal danach gefragt.« August sah kurz Peter an, der nichtssagend zurückblickte. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Schorsch Redenius’ plötzliche Freundschaftsgeste nicht ganz ehrlich, ja, gespielt war.

»Na, Georg«, versuchte August es erneut, »ich wohne nun mal knapp hinter dem Deich, da interessiert man sich schon dafür, ob er stabil ist oder nicht. Davon hängt die Zukunft meiner Familie ab. Es hat schon mal einer behauptet, sein Bauwerk werde noch in hundert Jahren stehen, und ruckzuck war’s weg.«

»Da haben auch zu viele dran rumgehämmert, und es wurde zugelassen, dass sie dran rumhämmern. Du siehst ja: Der neue Deich wird heute gesichert wie einst die Mauer, da geht schon nix kaputt.«

»Aber diese Gerüchte gehen herum im Polder, dem Baukonsortium sei damals das Wasser bis zum Hals gestanden, die mussten schnell fertig werden, und eben vielleicht zu schnell, da fehlt es am Ende an Qualität.«

»Das sind Gerüchte, du hast es selbst gesagt, August. Du solltest nicht so viel darauf geben. Wir sind nicht beim ›Schimmelreiter‹ im Hauke-Haien-Koog, wo es darum ging, über Deichstabilität zu sprechen, weil man keine Ahnung hatte, wie man einen Deich baut. Aber ich verstehe deine Sorgen. Wie gesagt, es hat Unregelmäßigkeiten gegeben«, offenbar wurde Schorsch Redenius nach Bier und Corvit nun doch etwas redseliger, und er hatte noch einen dritten Korn bestellt, »aber ich weiß auch, dass alle Stellen, bei denen was zu beanstanden war, ordnungsgemäß erneuert wurden, oder was heißt erneuert, sie wurden eben nachgebessert.«

»Alle Stellen? Ich dachte, es wäre nur eine. Auch die Ostkrümmung?« August hatte entschieden, mit der Tür ins Haus zu fallen, drum herumreden und sich langsam dem Ziel nähern, das war nicht seine Stärke.

»Die Ostkrümmung? Ja, die Ostkrümmung …«, Schorsch zögerte, sein Gesicht ergraute plötzlich. »Ja, sicher, klar, auch die. Ach, da war nicht viel. Also, ich war nicht oft dort und kann das nicht so gut beurteilen. Mein Chef erzählte davon. Das wurde nachgebessert, soweit ich weiß. Genaues ist mir zur Ostkrümmung aber nicht bekannt. Man kann sich nicht um jede Einzelheit kümmern, wir hatten schließlich die amtliche Aufsicht über das Gesamtwerk. Leute, ich habe keine Lust mehr, darüber zu reden. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, verdammt noch mal.« Tatsächlich verfinsterte sich Georgs Miene für einen Moment.

»Ja, sicher, das Gesamtwerk«, bemerkte August noch. »O. k., lasst uns nicht mehr über den Deich sprechen. Er soll wohl halten.«

»Sicher tut er das«, bemerkte Redenius und bestellte drei Bier. August indes strich mit Genuss einen Stich ein, zwei Asse, geholt mit dem Karo-Bauern. Gestochen, ha, machte 24 Punkte. Damit hatten die anderen nicht gerechnet, er hatte nur zwei Farben auf der Hand. Jetzt hatte er den Sieg so gut wie in der Tasche, war sich aber von vorneherein schon recht sicher gewesen. Das war nicht immer so.

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