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Am Samstag war August mit Wiard verabredet, um ihm von dem Abend mit Peter Kümmel und dessen Schwager zu erzählen. Er hatte sich auch vorgenommen, Wiard von dem Schuss in den Reifen zu erzählen – und mit ihm zusammen die Polizei zu alarmieren. Die musste nun informiert werden, davon war er überzeugt. Sollten die den nächtlichen Unbekannten jagen und festsetzen – wozu war die Polizei schließlich da?

Vor allem anderen musste August jedoch die Entmistung reparieren. Sie war heute Morgen ausgefallen, weil irgendeines der Kinder ein etwa ein Meter langes Brett in die Anlage geworfen hatte, das mitgeschleift worden war, sich verhakt und zum Bruch eines Bolzens geführt hatte. Eine Brücke hätten sie gebaut, über eine 1.000 Meter tiefe Schlucht, in der ein Ungeheuer hauste. (Das war der Mitnehmer, der den Mist abtransportierte.) August hatte vor Wut gekocht, zumal keines der Kinder ihn informiert hatte und alle erst einmal behaupteten, es nicht gewesen zu sein.

»Nee, das war wieder mal der dicke Bär«, hatte August wütend gerufen und war schnaubend davongestapft, um sich erst einmal zu beruhigen. Nun musste er den Bolzen dringend ersetzen, denn es war erstaunlich, in welch kurzer Zeit seine Kühe allerhand Mist produzierten. Angenehm überrascht war er, als er noch einen entsprechenden Bolzen in seiner Werkstatt fand und nicht extra in die Stadt fahren musste, um einen neuen zu kaufen. Beim Auswechseln jedoch kehrte sein Groll zurück:

»Düfel, Düfel, Dönnerschlag. Und die Kinnings vergnügen sich wer weiß wo, kein Schwein schert sich um die kaputte Entmistung …«, doch August fluchte nur für sich. Niemand hörte ihn.

Nachmittags machte er sich gegen 15 Uhr auf den Weg zu Wiard. Er fuhr mit dem Trecker, da er glaubte, es würde seltsam aussehen, wenn er mitten unter der Woche und mitten am Tag einfach so durch das Dorf spazieren würde – er sah schon bestimmte Leute hinter den Gardinen:

»Het de vandaag nix to dohn?«

Oder hörte Malte Kröger mit den Worten: »Na, Landwirte haben aber auch oft Urlaub pur, was?«

Das sagte er vor allem dann gerne, wenn die Zeiten kamen, in denen es wegen Wind und Wetter im Herbst und Winter tatsächlich nicht mehr so viel draußen zu tun gab. August hatte es aufgegeben, sich zu verteidigen, er ließ diese Sprüche einfach durchrauschen, links rein, rechts raus. Dennoch entschied er, jetzt mit dem Trecker zu fahren: Mit dem Trecker unterwegs – das sah immer nach Arbeit aus.

Wiard öffnete gleich nach dem ersten Klopfen mit dem schweren, eisernen Ring nebst Löwenkopf, den er nach dem Brand des Hofes von Eilert Onken hatte mitgehen lassen. Eilert hatte das später entdeckt, glaubte sich Wiard aber zu Dank verpflichtet, obwohl er sich nicht hundertprozentig sicher war, ob Wiard tatsächlich etwas über die Brandstiftung wusste, geschweige denn, ob er es beweisen konnte. Aber Eilert Onken wollte die ganze Angelegenheit so schnell wie möglich in Vergessenheit geraten lassen, daher war ihm der Türklopfer an Wiards Hauseingang durchaus recht.

»Moin, Wiard«, grüßte August, als Wiard ihm Platz machte, einzutreten.

»Moin, schön, dass du kommst, ich habe etwas Neues zu berichten.«

»Ich auch, wenigstens ein bisschen«, schränkte August gleich ein, um nicht schon zu viel zu verraten.

»Tee?«, bot Wiard an.

»Wenn du gerade einen fertig hast, sonst mach dir aber keine Umstände«, bat August.

»Nee, ich habe keinen fertig – aber ich mag auch eine Tasse, hast du etwas Zeit?«

»Na, ’ne halbe Stunde, ich bin extra mit dem Trecker gekommen, weil …« August war froh, dass Wiard ihn unterbrach:

»Egal, ich weiß ja, ihr Landwirte habt auch alle einen 24-Stunden-Tag. Wie alle fleißigen Deutschen, jedenfalls die, die Arbeit haben.« Wiard entschwand in die Küche und setzte den Wasserkessel auf.

»Mann, der glänzt aber«, meinte August, der ihm gefolgt war.

»Habe ihn gestern beim ›Tatort‹ blitzblank geputzt. Ich habe fast die Auflösung des Mordes verpasst, als ich einen neuen Lappen holen musste«, Wiard lachte.

»War er gut?«

»Wer?«

»Der ›Tatort‹.« August musste über Wiards verblüfftes Gesicht lachen.

»Ach, der ›Tatort‹, ja, war gut, war einer von diesen älteren, mit Manfred Krug und dem – na, wie heißt er noch – jedenfalls die, die immer am Ende zusammen singen. Spielt auf einer Insel, das ist natürlich eine tolle Atmosphäre. ›Tod auf Scharhörn‹, ja, so hieß der Titel. Gut gemacht. Und spannend. Manfred Krug ist vielleicht nicht der schönste Kommissar, aber der beste. Nee, die schönste Kommissarin ist ja wohl Charlotte Lindholm, ganz klar«, meinte Wiard etwas geistesabwesend.

»Ja, machst wohl recht haben«, sagte August und ergänzte unvermittelt: »Brockmüller.«

»Wie, Brockmüller?«

»Brockmüller heißt der andere, der mit Stöver singt.«

»Richtig, genau, Brockmüller.« Eine kleine Pause entstand.

»Wir können auch ins Wohnzimmer gehen«, Wiard zeigte in die genannte Richtung, aber August winkte ab.

»Du, deine Küche ist so gemütlich, lass man gut sein. Dein Wohnzimmer ist mir auch zu gefährlich«, fügte er etwas sarkastisch hinzu.

Wiards Küche war klein, alle Möbelstücke und Küchengeräte waren bunt zusammengewürfelt, und da Wiards Aktivitäten vielfältig waren und er ständig irgendwelche Bücher, Zeitschriften oder Unterlagen las, lagen diese ebenso bunt verstreut herum. Dazwischen waren viele Erinnerungsstücke von seinen Reisen untergebracht, die er in der Vergangenheit gemacht hatte, und das alles, zusammen mit dem jetzt durch die zwei kleinen Fenster hereinfallenden Sonnenlicht, machte die Küche tatsächlich urgemütlich, obwohl sie mancher als den Inbegriff des Chaos bezeichnet hätte.

»So ein Durcheinander würde Henrike nicht durchgehen lassen, was?« Wiard hatte beobachtet, dass Augusts Augen durch den ganzen Raum schweiften.

»Holl mi up. Nee. Aber, man muss ja den Kindern wenigstens ein bisschen ein Vorbild sein.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich denke, die machen sich schon ihren Reim, früher oder später. Du sagtest, du hast Neuigkeiten?«

»Ja, nichts Weltbewegendes«, August legte eine kurze Pause ein. »Ich war mit Peter Kümmel und dessen Schwager Skat spielen bei Joke.«

»Ist ’ne Neuigkeit, aber so weltbewegend nun wirklich nicht, hast du wenigstens gewonnen?«, meinte Wiard, merkte dann, dass hinter der lapidaren Aussage von August mehr stecken könnte, wartete Augusts Antwort gar nicht erst ab und fragte: »Ach, der Schwager von Peter, der, wie heißt er noch …?«

»Georg, genannt Schorsch«, half August aus.

»Ja, richtig, Schorsch Redenius, der vom Amt für Küstenschutz, der mir einen auf die Nase geben wollte? Na, wir waren reichlich duhn. Und nun hat mir ja jemand anderer eine Kopfnuss verpasst«, Wiards Gesicht zeigte ein gequältes Lächeln.

»Ich dachte mir, der weiß vielleicht etwas mehr über die Deichgeschichte – immerhin war das die damals zuständige Aufsichtsbehörde, die übrigens mittlerweile ›Landesamt für Wasserbau, Küsten- und Inselschutz‹ heißt, oder so ähnlich. Hat auch ’ne tolle Abkürzung, hmm, ach, hab’s schon wieder vergessen.«

»Ja, immer wenn die auf’m Amt nichts zu tun haben oder wenn die Regierung wechselt, wird umstrukturiert, und dazu gehört dann auch eine Namensänderung. Dann sagt man, man habe alles neu, besser und schöner gemacht, und danach geht’s genau so weiter wie zuvor«, begann Wiard zu lamentieren, worauf August intervenierte:

»Nee, ganz so ist das auch nicht mehr. Als ich den Hof übernommen habe, waren da 84 Leute untergebracht, jetzt, 15 Jahre später, sind es noch ganze 53. Die machen jetzt das, was vorher 84 gemacht haben. Und die Aufgaben haben sich erweitert, das lässt sich ja prüfen, also die machen den anderen Kram jetzt mit, und die ganzen EU-Auflagen und so, das müssen die auch machen. Ich kenne ja nicht nur Schorsch Redenius, sondern auch ein paar von den Arbeitern, die immer mal am Deich, am Siel oder am Kanal zu tun haben. Die sitzen nicht mehr einfach so rum den halben Tag. Das war früher so, ich habe es ja selbst gesehen, wenn ich auf’m Acker war, da kreiste auch schon mal vormittags das Bier. Aber heute, wo es überall an Geld fehlt, die Stellen gestrichen werden, wohin man guckt, haben die einiges auf dem Tagesplan stehen.« August wusste, wovon er sprach, und war im Gegensatz zu früheren Jahren dazu übergegangen, die Staatsdiener auch einmal in Schutz zu nehmen: »Also, diejenigen, die dableiben, haben jetzt ganz gut zu tun. Die Gefahr ist natürlich, wenn man sieht, so klappt’s auch, dass so weitergemacht wird, und dann wird’s irgendwann haarig, dann hapert’s wieder an allen Ecken und Kanten, dann wird zu viel gespart.«

»Darauf wird’s hinauslaufen, die kürzen auf Teufel komm raus«, merkte Wiard noch an, kam dann aber auf das Wesentliche zurück: »Aber was sagte denn Schorsch Redenius, hast du ihn auf den Deich angesprochen?«

August erzählte von dem Skatabend, nicht ohne seine gegen Ende doch noch einsetzende Siegesserie unerwähnt zu lassen.

Anschließend schaute er ein Weilchen aus dem Fenster, in die Weite des Polders hinaus, während Wiard, ebenfalls schweigend, eine neue Tasse Tee eingoss, die dritte und letzte. Vorerst. Er ergriff als Erster wieder das Wort:

»Jedenfalls hat er versäumt, glaubhaft darzustellen, dass wirklich alles in Ordnung ist, finde ich. Und was ich sehe, ist ein Deich ohne ausreichende Kleischicht. Es suppt übrigens immer noch, ich war gestern da; der ist im Innern zu feucht!«

»Vielleicht kommt das Wasser auch woanders her.«

»Woher denn, bitte schön?« Wiard klang ein wenig ruppig. »August, denken kannst du doch auch, aber manchmal willst du die Realität einfach nicht wahrhaben. Wasser am Deichfuß. Obwohl der ja auch noch Gefälle hat, auch der Deichverteidigungsweg ist an der Ostkrümmung schön Richtung Binnenland geneigt – da lief gestern noch das Wasser in breiten Schlieren runter, obwohl die hohe Flut schon einige Tage her ist. Ein bisschen Wasser ist ja o. k., aber so viel und so lange? In dem Deich haben wir Treibsand, sage ich dir, da ist nichts Festes.«

Treibsand kannte August vom Westende von Juist, der Insel, auf der er mit Henrike und den Kindern schon öfter gewesen war, im Spätsommer, wenn die Ernte eingefahren und die Tage noch schön waren. Zweimal waren sie für drei, vier Tage dorthin gefahren. Wenn man auf Treibsand lief, wabbelte der Boden plötzlich unter den Füßen, und man musste zusehen, wegzukommen, weil man sonst schnell einsank, so durchtränkt war der Sand an diesen Stellen mit Wasser. Wenn sich so etwas auch nur ansatzweise im Deich befinden sollte, konnte der Deichfuß schnell aufweichen und wegbrechen, wenn von der Wasserseite Druck auf ihn ausgeübt wurde. Ihm schauderte bei dem Gedanken, er verwarf ihn aber gleich wieder. Das konnte einfach nicht sein. Es durfte nicht sein.

»Und was hast du herausgefunden?«, fragte er Wiard, obwohl er sich am liebsten wieder auf seinen Trecker gesetzt hätte, um nach Hause zu fahren und vielleicht die letzte Helligkeit des Tages zu nutzen, um einen Zaun zu reparieren. Nicht weit vom Hof waren einige Pfähle unten weggefault und mussten ersetzt werden.

»Wie viel Zeit hast du noch?«

»20 Minuten, mehr ist im Moment nicht drin.«

»Das reicht. Komm mal mit.« Wiard stand auf und zog August geradezu in sein Wohnzimmer, in dem es angesichts des noch nicht ersetzten Fensters etwas kühler war, zum Schreibtisch, auf dem Wiards neuestes Steckenpferd stand, ein Notebook, das jetzt – Wiard wurde nicht müde, es zu betonen – per DSL mit dem Internet verbunden war. August wusste zwar, dass sein 56k-Modem nicht mehr ganz dem aktuellen Stand der Technik entsprach, wohl auch nicht die schnellste Verbindung bot, aber man kam damit ins Internet und fand letztlich alles, was man brauchte. Bei Bildern wurde es etwas langsam, aber dafür wie auch für Musik und DVDs interessierte er sich wenig, deshalb reichte ihm die Übermittlungsgeschwindigkeit. Viel verstand er von der Sache ohnehin nicht, Freerk hatte den Internetzugang eingerichtet und war auch der Hauptnutzer. Er hatte allerdings schon öfter gesagt, sie müssten nun bald mal auf ISDN oder, besser, DSL umstellen, sonst würden sie technologisch noch in der Steinzeit landen. Diese Dramatik konnte August allerdings nicht erkennen, aber das war wohl ein typisches Generationsproblem, obwohl sich August noch gar nicht so alt fühlte. Wenn Freerk sich dann aber weiter ausließ über schnelle Verbindungen, Verbesserung der Performance und billige Flatrates, schaltete August meistens schnell ab, nickte zwar, aber dachte schon übers Melken, die nächste Fahrt zur Raiffeisengenossenschaft oder die schlechten Milchpreise nach.

Wiard bot August schweigend einen Hocker an, er selbst setzte sich auf einen alten Drehstuhl, den vierbeinigen (also in Amtsstuben gar nicht mehr zugelassen, denn die mussten fünf Beine haben. Er hatte einen der ausrangierten mitgenommen. Ein Kollege hatte zwar akribisch Buch geführt, und ein Stuhl musste in der Endstatistik gefehlt haben, aber gefragt hatte nie jemand, jedenfalls nicht ihn …). Wiard schaltete das Notebook ein. Beide starrten auf den Bildschirm, auf dem sich das altbekannte, weltweit verbreitete Betriebssystem mit der netten, aber allzu oft gehörten Begrüßungsmelodie meldete. Die Tonfolge schien zu vermitteln, dass sich der große Boss des Ganzen dafür bedankte, dass sich wieder jemand bereit erklärt hatte, sein Betriebssystem zu kaufen, ohne es vielleicht zu wollen, aber es war nun mal beim Kauf schon auf der Festplatte.

»Billyboy«, sagte Freerk immer, wenn es um den großen Boss ging.

»Der«, dachte August, »könnte nicht nur den Polder, der könnte ganz Deutschland mal eben aufkaufen.«

Den Spruch hatte er von Freerk, der gleichwohl auf Linux schwor.

Tatort Nordsee

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