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Am darauffolgenden Tag war Lübbert Sieken durch eine Magen-Darm-Grippe ans Bett gebunden. (»Bin ständig auf der Latrine.«) Zwei Tage später kam er per Fahrrad bei August vorbei und teilte ihm mit, am Nachmittag könnten er und Wiard, wenn sie Zeit hätten, zu ihm kommen, die Därme arbeiteten wieder halbwegs normal, und er habe Zeit, zur Ostkrümmung zu gehen.

Am Morgen war es schon recht windig gewesen, der Nachmittag gestaltete sich zunehmend stürmisch, als August Wiard mit dem Auto abholte. Sie fuhren zu Lübbert Sieken, auch wenn es kein weiter Weg war, aber der Wind brachte manchen starken Regenschauer mit. Sie hatten keine große Lust, schon vor der Ankunft bei Lübbert durchnässt zu sein. Sie hatten Blaumänner an, aber trotzdem beschlossen, Regenjacken überzuziehen. Wiard war vollständig in Regenzeug eingepackt. Zwar würde sich derjenige, der sie am Deich sah, ohnehin wundern, dass sie arbeiteten und nicht auf Schlechtwetter machten, aber das konnte man – solange es Unbekannte waren – ohne Probleme mit dem steigenden Druck auf dem Arbeitsmarkt begründen, der erforderte, dass man sich hervortat. In Zeiten zunehmenden Wettbewerbs in allen Gesellschaftsbereichen würden das die meisten akzeptieren und für richtig befinden, warum nicht arbeiten, nur weil es ein wenig regnete und stürmte? Und die Gewerkschaft würde hier draußen schon nicht so schnell auf der Matte stehen, schon gar nicht bei solchem Wetter. August stellte den Scheibenwischer auf die höchste Stufe.

»Moin«, Lübbert öffnete die Tür, an der laut vernehmbar geklopft worden war.

»Moin«, erwiderten die beiden anderen unisono und duckten sich instinktiv, da eine Bö um die Hausecke schlug.

»Lasst uns mal gleich losgehen. Die Wettervorhersage ist nicht so berauschend, und besser wird es nicht, so viel ist sicher. Und – falls ihr es noch nicht bemerkt haben solltet – es ist schon miserabel genug, Schietwedder.« Lübbert lachte sie verschmitzt an, und Wiard und August sahen für einen Moment wie die verdutzten Badegäste aus dem Binnenland aus, denen man am Strand von Juist den Rat gibt, heute nicht auf die Wasserkante zu treten (und auf die Frage »Warum denn nicht?« antwortet: »Dann könnte der Strand unterspült werden.«).

»Wir werden wohl einiges abbekommen. Aber vielleicht ist das ganz gut so, es werden kaum Leute vor Ort sein. Die können sich dann auch nicht vor dir erschrecken, Wiard. Wären deine Regenklamotten weiß, würde ich denken, der Yeti steht vor mir«, rief August mehr, als dass er es sagte. Der Wind heulte in Schüben gewaltig.

»Vielleicht ist Yeti-Sein gar nicht so schlecht. Obwohl – der lebt in den Bergen … Jedenfalls ist das Wetter auf unserer Seite«, bestätigte ihn Wiard. »Da können wir mal in aller Ruhe den Deich begucken. Außerdem wird das Hochwasser auch ein wenig über Normal auflaufen. Vielleicht ist das gleich ein interessanter Aspekt.«

»Nee wat, glaub ich kaum«, mutmaßte Lübbert, »so stark ist der Wind nun auch wieder nicht, und ein paar Plätscherchen wird der Deich schon noch aushalten.«

»Na, wir werden sehen«, mischte sich August ein, »nun mal los, ich will spätestens um 18 Uhr wieder zu Hause sein.«

Es war jetzt 15 Uhr. Die Erwähnung Wiards, dass eigentlich Teezeit sei, hatte Lübbert mit der Bemerkung abgetan, sie sollten jetzt lieber gehen, er hätte sich ja eine Thermoskanne mitnehmen können, zum Picknick am Deich sei das Wetter andererseits wohl kaum geeignet.

Die drei Männer erreichten schnell den neuen Zaun am Deich und entdeckten, dass kurz nach einer Biegung noch eine Baulücke bestand. Also betraten sie den Deich gänzlich ohne akrobatische Kletterkünste – allerdings auch ohne Genehmigung. Wenn das Redenius erfährt, ging es August durch den Kopf.

Oben auf der Deichkrone pfiff ihnen ein ordentlicher Nordwest ins Gesicht. Zudem näherten sich dunkle Wolken und kündigten aus der Ferne neuen starken Regen an.

»Wie sollen wir’s nun machen?«, fragte Lübbert die beiden anderen.

»Wir sollten uns aufteilen. August geht Richtung Ost, du gehst Richtung West, und ich schaue mir den Außendeichfuß genau an, vielleicht auch ein bisschen den Heller.« Wiard übernahm die Leitung der Expedition.

»Von mir aus ist das o. k.«, erklärte August sich einverstanden, und Lübbert fügte sich, leicht die Schultern zuckend, ohne weitere Worte.

So gingen die drei Männer, kaum dass sie auf dem Deich waren, auseinander, und jeder überlegte sich, wie er sich in kurzer Zeit einen möglichst systematischen Überblick über die Ostkrümmung verschaffen konnte. Die dunklen Wolken waren indes wesentlich schneller angekommen als erwartet. Es schlug ihnen bei einem heftiger werdenden Nordwest starker Regen entgegen.

August wanderte zunächst etwa 15 Minuten Richtung Ost, oben auf der Deichkrone. Anschließend wollte er im Zickzackkurs an der Außenseite des Deiches zurückgehen in der Hoffnung, zufällig auf Besonderheiten zu stoßen. Wiard lief unten am Deichfuß, sodass, wenn der Wind nicht allzu sehr pfiff, eine Unterhaltung möglich war.

»Stell mal den Regen ab!«, rief August Wiard zu.

Der lachte zurück und entgegnete, mit wesentlich weniger Anstrengung, da er mit dem Wind sprach: »Stell du dich mal nicht so an – das bisschen Regen. Du weißt doch, es gibt kein schlechtes Wetter, nur die falsche Kleidung.«

Die beiden Freunde gingen weiter. August fiel zunächst nichts Besonderes auf, hier gab es auf der Deichkrone sogar einen gepflasterten Weg, umso weniger verstand er das Begehungsverbot der Behörden und den Bau des Zaunes, was beides dafür sorgen würde, dass nicht nur der gemeine Tourist, sondern auch solche Leute wie Wiard, August und Lübbert schon in Kürze nicht mehr auf den Deich gelangen konnten.

Der Wind nahm weiter zu und war so stark, dass August Wiard, der ihm aus größerer Entfernung etwas zurief, kaum noch verstehen konnte. Ihn erreichten nur Wortfetzen, aus denen er sich keinen zusammenhängenden Satz zusammenreimen und daher auch keinen Sinn erschließen konnte. Da er nun die Außenseite genauer unter die Lupe nehmen wollte, plante er, zu Wiard zu gehen, wenn er unten am Deichfuß angelangt war. Vorsichtig lief er schräg die Außenseite des Deiches hinunter. Durch den Regen war das Gras extrem glitschig, der Wind wehte in starken Böen, und es war ein Leichtes, auszurutschen. Das wollte August unbedingt vermeiden, da er eine Resttrockenheit unter der langen Unterhose verspürte, die nur von einer Jeans geschützt wurde und bei einem Sturz unweigerlich verloren gehen würde. Unter gedämpft ausgesprochenen Flüchen hatte er zu Hause vergeblich seine Regenhose gesucht und war schließlich nur in Jeans (»Wenigstens ’n langen Hinni an.«) mit Wiard abgefahren. Später stellte sich heraus, dass Freerk sich die Regenhose ausgeliehen hatte.

Schließlich erreichte August den Deichfuß. Er schaute sich um und sah Wiard etwa 50 Meter weit im Heller, dem Deichvorland, stehen. Er ging in dessen Richtung, und als er nah genug herangekommen war und der Wind für eine Weile nicht ganz so heftig blies, rief er Wiard zu: »Dein Deichfuß ist aber reichlich breit!«

Wiard antwortete nicht, sah nur auf und winkte August, zu ihm zu kommen.

»Schau mal hier«, forderte er August auf, als dieser herangekommen war. Sie standen mit den Stiefeln teils knöcheltief im Salzwasser, aufgrund des starken Windes gab es eine höhere Flut, das Normalhochwasser erreichte den Deich an dieser Stelle nicht.

»Hier hat einer gesodet«, stellte August fest.

»Allerdings. Ich nehme mal ein Stück mit, und dann zeige ich dir etwas.«

Der Regen ließ ein bisschen nach, die Wolken lichteten sich in diesem Moment, und es wurde etwas heller.

Mangels Spaten musste Wiard seine Hände benutzen, um eine Sode auszubuddeln. Hier hatte tatsächlich erst vor kurzer Zeit jemand weitere Grassoden entnommen. Der Bereich betrug etwa zehn mal fünfzehn Meter. Mit dem bewachsenen Erdstück in der Hand wandte sich Wiard wieder dem Deich zu, August folgte ihm wortlos. Am Deichfuß angelangt, betraten sie den Asphaltstreifen, der hier, schräg dem Wasser zufallend, angelegt worden war und im unteren Bereich mit hinausragenden Betonquadersteinen versehen war. Wiard ging ein Stück ostwärts, blieb kurz stehen und stieg den Deich ein kleines Stück hinauf. Wieder verdunkelten Wolken den zur Neige gehenden Tag, aber es war noch hell genug für August, um zu erkennen, dass es hier einen Bereich am Deich gab, der erst vor Kurzem ausgebessert worden war. Deutlich zeichneten sich noch die Soden gegenüber dem gesäten Gras ab, selbst ein Laie hätte das sofort gesehen.

»Vergleich mal«, sagte Wiard nur, und August bemerkte sofort, dass die Soden, die im Heller jetzt fehlten, hier verarbeitet worden waren.

»Ist doch erstaunlich, wie hier ein neuer Deich repariert wird, was?«, spottete Wiard und grinste zunächst, wurde aber sofort darauf sehr ernst. Der Regen peitschte ihm direkt ins Gesicht.

Nach einer Weile stimme August zu: »Du hast recht, so kann man das nicht machen, das ist nicht professionell. Das mache ich ja besser, wenn ich die Stücke im Rasen mit Soden ausbessere, an denen die Schiet-Maulwürfe mir alles zerwühlt haben.« Mehr fiel ihm im Moment nicht ein.

»Maulwürfe als solche sind ja durchaus nützliche Tiere, hier sind aber ganz andere Maulwürfe am Werk gewesen. Dahinter steckt noch eine andere Gattung, Geldhai genannt. Und noch was. Komm mal mit.« Wiard ging nun wieder zum asphaltierten Weg und folgte diesem etwa 200 Meter westwärts. Vor einem Bereich, der von Kuhlen und Unebenheiten geprägt war, blieb er stehen.

»Auch ein bisschen seltsam, oder?« Erwartungsvoll sah er August an.

»Hm«, machte dieser nur, ging in die Hocke, merkte dabei, dass der Regen nun durch die Jeans drang, die lange Unterhose erreichte und teilweise schon unangenehm auf der Haut zu spüren war. Er zwang sich aber, den Asphalt im Auge zu behalten. Hätte jemand seinen Wirtschaftsweg zum Hof so angelegt, hätte er Regressforderungen an die Baufirma gestellt.

»Ist ja nur eine kleine Stelle«, gab er zu bedenken, wohl mehr, um überhaupt etwas zu sagen.

»Kleine Stelle ist gut. Weißt du, woher das kommt?«

»Da wird wohl der Untergrund nicht sorgfältig vorbereitet sein, ich hatte das vor zwei Jahren, als ich …« August kam nicht weiter.

»So ist es – das ist der Pudding!«, Wiard betonte ›Pud-ding‹, indem er beide Silben aussprach, als seien es einzelne Worte.

»Tja, wenn du meinst, also …«

»Du nicht?« Innerlich regte sich Wiard schon wieder über Augusts Zögerlichkeit auf: Mann, Mann, Mann, bis der mal eindeutig Ja oder Nein sagt …

»Na, der Deich ist neu, da darf so etwas nicht sein, das steht wohl fest. Unsauber gearbeitet«, murmelte August in sich hinein.

»Steht wohl fest. Nur nicht so zögerlich, Herr Saathoff. Ich fasse es nicht! Mann, August, das ist nicht nur unsauber gearbeitet, das ist hingepfuscht, sonst gar nix! Ich sage dir: Die haben hier in Windeseile Soden draufgelegt und ebenso schnell den Deichfuß asphaltiert – ohne groß darauf zu achten, was darunter ist. Ich rede von zu schnell zusammengeschobenem Sand. Vielleicht haben sie hier den Klei ganz weggelassen? Alles schnell, schnell; time is money. Und was folgt? Qualität? Vergiss es! Punkt. Aus.«

»Also …«, setzte August an, wurde aber von Wiard unterbrochen:

»August, ich kann es nicht mehr hören, ehrlich nicht. Mach bitte deine Augen ganz weit auf: Die Stelle mit den Soden und diese miserable Asphaltierung – das siehst du doch, oder? Und wenn der Asphalt nicht mies ist, dann das, was darunter ist …«

»Klar sehe ich das!« August war ein wenig verärgert über Wiards Art, mit ihm zu sprechen.

»Aha – und darf so etwas sein, nach wenigen Monaten?«

»Nein, sicher nicht … nein, ist ja gut. Lass mich doch erst mal nachdenken.« August hatte große Lust, auf stur zu schalten, war sich aber bewusst, dass er im Unrecht war und sich lediglich an Wiards Art störte – nicht an den Tatsachen, die waren sonnenklar.

»Also, Entschuldigung, alter Knabe, aber ich finde, jetzt gibt’s nichts mehr zu deuteln«, beharrte Wiard, wobei er lauter sprechen musste, da Wind und Regen wieder zunahmen. »Hier ist das Ergebnis dessen, über das geredet wurde, wovon die Zeitungen zwei Wochen voll waren. Und kurz danach regte sich schon bald niemand mehr auf. Ging ja offenbar alles wieder seinen Gang. All das, was wir vermutet haben und was man nun vor der Öffentlichkeit verbergen will. Daher auch der Zaun – ist doch überdeutlich. Wenn das Wetter nicht so hundsmiserabel wäre, würde ich das gleich fotografieren, aber bei der Dunkelheit und dem Regen würde man auf dem Foto nichts erkennen können. Aber ich muss hier noch mal hin – wenn man das den Leuten zeigt, ein Bild sagt schließlich mehr als tausend Worte.«

So ein Scheißwetter und dann solche Sprüche, ging es August durch den Kopf. Er sah Wiard an und dachte nach, schließlich meinte er: »Wahrscheinlich hast du recht. Ich bin jetzt klitschnass, lass uns gehen, es wird eh dunkel. Wo ist Lübbert?«

»Da hinten, ist kaum zu sehen, wenn wir zurückgehen, treffen wir ihn. Guck mal, als hätte er unterschiedlich lange Beine, der läuft ganz gerade am Deich entlang.« Sie stapften wieder, Wind und Regen jetzt im Rücken, den Deich hinauf.

Die Dämmerung kam an diesem späten Herbstnachmittag schnell, der Wind nahm weiter zu, und der Regen hatte sich längst zu einem andauernden Ereignis gemausert. Wiard und August hatten auf der Deichkrone Richtung Westen beigedreht und liefen schweigend nebeneinanderher. Augusts Hose war langsam aber sicher total durchnässt. Sie liefen, etwas nach rechts gebeugt, dem Wind ein Gegengewicht bietend. Lübbert, der ihnen ein Zeichen gab, kam ihnen entgegen. Nach wenigen Minuten standen sie zu dritt auf der Deichkrone.

»Und?«, fragte Wiard und Lübbert antwortete nur: »Es ist so, wie wir dachten. Ich habe zwei Stellen gefunden, die erst vor Kurzem nachgebessert wurden, außerdem gefällt mir der Weg am Deichfuß nicht. Die Steine, die sie oberhalb gesetzt haben, sacken teilweise schon weg. Nur an wenigen Stellen, aber immerhin. Das kann doch nicht sein, das ist ein echter Witz! Selbst bei einem zehn, zwanzig Jahre alten Deich nicht, und dieser ist ja noch nicht mal ein Jahr alt!«

»Genau dasselbe wie bei uns«, Wiard sah August an.

»Ja, so langsam wird’s mir auch klar.«

»Also, war doch erfolgreich. Lass uns bei Lübbert noch ’ne schöne Tasse Tee trinken, und dann ab nach Hause. Wir müssen uns überlegen, wie es weitergehen soll.«

»Ich fahre sofort nach Hause, ich bin nass, und mir wird langsam kalt«, winkte August ab. »Außerdem habe ich meinem Vater gesagt, dass ich wahrscheinlich rechtzeitig zum Melken da sein werde, was ich schon nicht mehr halten kann, und Henrike, dass ich auf jeden Fall zum Abendessen zurück bin, was knapp würde, wenn wir noch Tee trinken«, beeilte er sich zu erklären. »Sauwetter!«, fügte er noch hinten an.

»Ist gut, dann trinken Lübbert und ich eben allein Tee, wenn du nichts dagegen hast.« Wiard wandte sich Lübbert zu.

»Nee, nee, komm man mit«, stimmte Lübbert zu, und August meinte: »Dann überlegt euch was Schlaues, das man nun tun kann, mir fällt im Moment nichts Rechtes ein.«

Lasst uns zusehen, dass wir von diesem Deich herunterkommen, besser kann man sich dem Nordwest und dem Regen ja nicht präsentieren.«

In diesem Augenblick übertönte ein peitschender Knall das Rauschen des Windes und das Prasseln des Regens.

»Jäger – jetzt?« August traute seinen Ohren nicht.

»Hörte sich an wie ein Schuss …« Wiard schaute sich ungläubig um.

»Auf Jagd ist jetzt sicher niemand, bei dem Mistwetter, außerdem ist es hier auch verboten«, entgegnete August.

Sie wandten sich Lübbert Sieken zu, der nicht nur über den Fischfang im Wattenmeer, sondern auch über die Entenjagd im Heller gut Bescheid wusste. Lübbert antwortete nicht. Er verdrehte nur die Augen und sackte langsam in sich zusammen.

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