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6. Kapitel

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Noch reichlich müde setzte Thamsen sich hinters Steuer. Er hatte in der Nacht wenig geschlafen und seine morgendliche Koffeindosis wirkte nur bedingt. Doch die Arbeit rief nun einmal, und heute früher als gewöhnlich, da er nach Kiel zur Obduktion musste. Es war bisher noch nicht oft vorgekommen, dass er persönlich bei der Leichenschau dabei war, aber der Staatsanwalt hatte ihn gebeten, ihn diesmal zu vertreten. Sicherlich hatte er auch aufgrund der bevorstehenden Sektion schlechter geschlafen als sonst, denn obwohl er schon des Öfteren Leichen gesehen hatte, war solch eine Untersuchung alles andere als angenehm. Absichtlich hatte er heute deshalb nicht gefrühstückt, wusste aber nicht, ob das wirklich eine gute Idee war.

Er fuhr über die Bundesstraße zur Autobahn, die in diesem Abschnitt relativ leer war. Unter der Woche kamen nur wenige PKWs aus Richtung der dänischen Grenze, die nur wenige Kilometer nordwärts lag. Größtenteils waren es Lastwagen, die auf der A7 unterwegs waren. Doch je weiter südlicher er fuhr, umso dichter wurde der Verkehr. Die LKWs behinderten nun den eh schon dichten Berufsverkehr und machten die Fahrt mehr als anstrengend. Thamsen war erleichtert, als er endlich auf dem Parkplatz der Rechtsmedizin in Kiel stand und durchatmen konnte. Doch schon als er die Eingangstür passierte, war seine Erleichterung wie weggeblasen und eine nervöse Anspannung machte sich breit, die sich noch verstärkte, als der Sektionsassistent Herr Malkovich ihn begrüßte und ihm Kittel und Schutzüberzieher für die Schuhe reichte. Nur langsam und mit Magendruck folgte er dem Assistenten in den Sektionssaal.

Dr. Becker erwartete ihn bereits. »Na, dann kann’s ja losgehen«, grinste der Mediziner ihn an und griff nach einem der bereitgelegten Instrumente.

Thamsen hatte kaum eine Möglichkeit, sich in der ungewohnten Umgebung zu orientieren. Er sah Ralf Burgers Leichnam auf dem Sektionstisch, an dem sich Dr. Becker und ein Kollege zu schaffen machten. Plötzlich stieg ihm dieser leicht süßliche Geruch in die Nase, den er vorher aufgrund seiner Aufregung gar nicht wahrgenommen hatte. Automatisch wich er einen Schritt zurück.

»Alles in Ordnung?« Dr. Becker war sein Zurückweichen trotz der Leichenöffnung nicht entgangen.

Thamsen nickte. »Ja, ja, alles in Ordnung. Machen Sie ruhig weiter.«

Haie hatte Niklas wie jeden Morgen im Kindergarten abgeliefert und war dann zum Freibad hinübergeradelt. Obwohl die Arbeit der Spurensicherung abgeschlossen schien, blieb das Schwimmbad geschlossen. Verständlich, denn wer wollte schon in dem Wasser, in dem eine Leiche getrieben hatte, baden gehen? Man würde wohl das komplette Becken reinigen müssen, nahm er an. Das rote Absperrband mit dem Schriftzug der Polizei flatterte noch stellenweise am Zaun, vor dem sich nach wie vor einige Schaulustige herumtrieben. Haie stellte sich neben Boy Nahnsen, einem Bauern aus dem Koog, der seinen Hof allerdings mittlerweile an seinen Sohn überschrieben hatte. Er selbst war aufs Altenteil gezogen. »Moin, Boy«, grüßte er den Mann, der erschrocken zusammenzuckte und sich langsam umdrehte. Als er Haie erblickte, wirkte er erleichtert. »Na, auch mal an den Ort des Geschehens gucken?«

»Nee, bin nur ’ne Runde mit dem Hund unterwegs«, erklärte Boy Nahnsen mit einem Seitenblick auf den Labrador, der schnaufend zu seinen Füßen lag. Der braune Hund hatte etliche Kilos zu viel auf den Rippen, was vorrangig daran lag, dass er sich immer selbst am Kuhschrot bediente – und zwar reichlich, wie man sah.

Haie nickte. »Und gibt es schon was Neues?«

»Woher soll ich das wissen, du bist doch hier der Hilfssheriff«, empörte sich der Mann.

Natürlich wusste auch er von Haies Kontakten zur Polizei, aber was sollte dieser feindselige Unterton? Haie konnte das Verhalten des anderen nicht deuten. »Und, was macht Irmi?«, versuchte er daher das Thema zu wechseln. »Hab sie lange nicht gesehen.«

Augenblicklich verfinsterte sich die Miene seines Gegenübers. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Wat geiht di dat an?« Boy Nahnsen drehte sich um, zerrte seinen Hund hoch und stapfte ohne ein weiteres Wort davon.

Was hat der denn, wunderte sich Haie, während er dem Bauern sprachlos hinterherschaute.

»Und, geht’s wieder?« Dr. Becker saß ihm gegenüber und beobachtete, wie Dirk einen großen Schluck aus dem Wasserglas nahm.

»Ja, danke!« Er hatte wirklich versucht, sich nichts anmerken zu lassen, seinen Ekel hinunterzuschlucken, doch als der Sektionsassistent die Säge zur Schädelöffnung angesetzt hatte, war Thamsen geradezu aus dem Obduktionssaal geflohen. Allein das Geräusch war ihm durch Mark und Bein gefahren und die Vorstellung von der Entnahme des Gehirns hatte ihn den Brechreiz kaum noch unterdrücken lassen können. Jetzt hatte sich sein Magen Gott sei Dank wieder beruhigt und er konnte sich zumindest einigermaßen auf die Ergebnisse der Obduktion konzentrieren.

»Ja, also wie du ja noch mitbekommen hast, ist der Mann tatsächlich ertrunken. Das Wasser in seiner Lunge belegt das eindeutig.«

Thamsen nickte.

»Die Kopfwunde war nicht tödlich, jedenfalls haben wir keine größeren Einblutungen oder gar einen Schädelbruch ausfindig machen können.«

»Was war es dann?«

»Nun ja, es mag Zufall gewesen sein, denn fest war der Schlag wohl nicht, aber er hat wahrscheinlich zur Bewusstlosigkeit geführt.«

»Kann er sich die Verletzung selbst zugefügt haben? Quasi als Unfall?«

Dr. Becker schüttelte sofort den Kopf. »Kann mir keinen Winkel vorstellen, aus dem man sich selbst einen derartigen Schlag verpassen kann. Außerdem muss ihn ja anschließend auch noch jemand ins Wasser befördert oder zumindest dabei zugesehen haben, wie er bewusstlos hineingefallen und dann ertrunken ist.«

Da hatte der Rechtsmediziner natürlich recht, denn wer hantierte schon angekleidet beim Schwimmen mit einer Stange oder einem ähnlichen Gegenstand herum? »Also Fremdeinwirkung?«

»Zumindest der Schlag«, nickte Dr. Becker.

Leonie hatte Mühe, ihre Schüler heute im Zaum zu halten. Im Klassenraum herrschte eine Unruhe, an Unterricht war kaum zu denken. Natürlich hatten die Kinder von dem toten Bademeister erfahren und mitbekommen, dass Jonas Lützen heute nicht zur Schule gekommen war. Auch einige andere Kinder fehlten, trotzdem machten die anwesenden Jungen und Mädchen Lärm für die doppelte Schüleranzahl.

»Hat die Polizei Jonas festgenommen?« »Hat Jonas den Herrn Burger ermordet?«, löcherten die Kinder sie. Leonie war verwundert über die Fragen, denn sie hatten versucht, die Kinder aus dem gestrigen Trubel, so gut es ging, herauszuhalten, und sie nach Hause geschickt. Aber sie konnte sich vorstellen, wie schnell der Leichenfund sich im Dorf herumgesprochen hatte und was unter anderem die Eltern ihren Kindern erzählten. Schon oft war sie in ihrer Ausbildung erstaunt darüber gewesen, wie offen ihr gegenüber Familieninterna ausgeplaudert wurden. Manchmal war es ihr sogar peinlich, wenn sie nach Schulschluss oder bei Besorgungen im Dorf die Eltern traf, über deren Sexualleben sie mehr wusste, als die sich träumen ließen.

Sie ließ die Kinder einige Aufgaben im Mathebuch lösen, bei denen sie den Rest als Hausaufgabe in Aussicht stellte. Augenblicklich sank der Lärmpegel im Klassenzimmer, denn alle Schüler wollten natürlich noch im Unterricht fertig werden, um am Nachmittag mehr Freizeit zu haben. Trotzdem es dadurch ruhiger wurde, war Leonie Oldsen froh, als endlich die Schulglocke läutete und die Kinder aus dem Klassenraum stürmten. Eilig packte sie ihre Sachen zusammen, denn sie musste auf den Schulhof, da sie Pausenaufsicht hatte.

Als sie im Flur am Schulbüro vorbeikam, sah sie Haie Ketelsen vor dem Schreibtisch der Sekretärin stehen. »Hast du das denn nicht mitgekriegt?«, wunderte die sich gerade. »Die Irmi ist doch schon vor ein paar Wochen bei Boy ausgezogen.« Frau Vogel sah Haie mit großen Augen an.

»Kein Wunder, dass der vorhin so mürrisch reagiert hat«, schlussfolgerte Haie aufgrund der Neuigkeit. »Hast du denn eine Ahnung, warum sie weg ist?«

Die Sekretärin schüttelte den Kopf. »Weißt ja selbst, wie das manchmal so ist. Kann ja sogar nach Jahren mal vorkommen«, spielte sie auf Haies eigene Trennung an.

Er war jahrelang mit Elke verheiratet gewesen, sogar silberne Hochzeit hatten sie noch zusammen gefeiert, doch dann hatte es einen Vorfall gegeben, an den Haie nicht gerne zurückdachte. Wer wusste also, was zwischen Boy und Irmi vorgefallen war? Haie kratzte sich am Kopf. Interessiert hätte es ihn schon, und er konnte sich auch gut vorstellen, wer darüber im Dorf Bescheid wusste.

Friesenschrei

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