Читать книгу Friesenschrei - Sandra Dünschede - Страница 5
1. Kapitel
ОглавлениеJonas trat kräftig in die Pedale. Den Kopf tief über den Lenker seines blauen Mountainbikes gebeugt und dennoch sein Ziel fest im Visier. Er spürte gar nicht, wie sein T-Shirt unter dem sperrigen Schulranzen bereits klatschnass an seinem Rücken klebte und er an den Haarwurzeln zu schwitzen begann.
Es war noch früh am Morgen – sehr früh –, doch die Sonne schickte bereits ihre heißen Sommerstrahlen von einem leuchtend blauen Himmel, an dem nicht eine einzige Wolke auszumachen war. Selbst der leichte Wind, der hier im Norden eigentlich immer wehte und so auch das wärmste Wetter erträglich machte, schien gelähmt von der Hitze, und das bereits seit Tagen. Nachts sanken die Temperaturen kaum und Jonas hatte sich wieder einmal unruhig in seinem Bett hin und her gewälzt, nur wenig Schlaf gefunden. Trotzdem war er noch vor Sonnenaufgang aufgestanden.
Heute, heute würde er es endlich schaffen, vor Oke Matthiesen am Fahrradständer der Schule zu sein. Ganz lässig wollte er an dem Metallkonstrukt lehnen und den anderen mit einem breiten Grinsen im Gesicht begrüßen. Mit dem in ihm aufsteigenden Triumphgefühl trat er noch kräftiger in die Pedale. Ja, heute würde er der Sieger sein.
Schon seit einigen Tagen lagen die Jungs in diesem Wettstreit, von dem eigentlich keiner der beiden genau wusste, worin er begründet war. Es ging einfach nur darum, besser als der andere zu sein. Und so wetteiferten er und Oke jeden Morgen darum, wer als Erster an der Schule war, wessen Mutter das leckerste Pausenbrot zubereitet hatte oder wer von ihnen die besseren Ergebnisse im Sportunterricht erreichte. Bisher war Oke stets vor Jonas an der Schule gewesen, aber dies sollte sich heute ändern. Das hatte er sich fest vorgenommen.
Jonas passierte den kleinen Sielzug kurz vor dem Spielplatz und sah gleich darauf den Fahrradständer einsam und verlassen in der Morgensonne daliegen. Sein Herz machte einen Satz und er jubelte innerlich. Ja, heute würde er es vor Oke schaffen. Nun stand es so gut wie fest. Er mobilisierte ein letztes Mal all seine Kräfte und beschleunigte nochmals das Tempo, doch gleich hinter dem Spielplatz bremste er kräftig, sodass sein Fahrrad ruckartig stehen blieb. Nur mit viel Mühe schaffte er es, nicht kopfüber über den Lenker zu fliegen.
Was war denn das? Die Tür des Freibads stand sperrangelweit offen. Und das um diese Zeit?, wunderte sich Jonas. Er schob sein Rad bis zum Eingang. »Hallo?«, rief er laut, behielt dabei den Fahrradständer jedoch fest im Blick. Nicht, dass ihn dieser Zwischenfall den Sieg kostete. »Hallo?« Da musste doch jemand sein. Warum stand sonst die Tür auf? Vielleicht waren Handwerker an der Arbeit? Das Freibad war nicht gerade das neueste und daher gab es eigentlich ständig etwas zu reparieren. Gut möglich also, dass auch jetzt Reparaturen ausgeführt wurden, nur warum war es dann so still? Und wieso antwortete niemand auf sein Rufen? Noch einmal wanderte Jonas’ Blick hinüber zur Schule, doch nach wie vor war am Fahrradständer niemand zu sehen. Zögernd schob er das Fahrrad zum Zaun und lehnte es gegen den grobmaschigen Draht. Er spürte, wie das Triumphgefühl verflog und sich ein unangenehmes Grummeln in seiner Magengegend ausbreitete. »Was soll schon sein?«, murmelte er laut vor sich hin. Sicher waren nur Handwerker oder Putzleute im Freibad. Wieder schaute er zum Fahrradständer hinüber, dann stieg er langsam die wenigen Stufen zum Kassenhäuschen hinauf. »Hallo? Ist da wer?« Auf seine Frage folgte nur Stille, als habe die Welt die Luft angehalten. Nicht einmal ein Vogelzwitschern war zu hören. Eilig lief Jonas die Treppen wieder hinunter und hielt nach Oke Ausschau. Wieso musste er ausgerechnet heute später kommen? Wenngleich er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als vor seinem Mitschüler an der Schule zu sein, wäre er jetzt froh, wenn Oke endlich um die Ecke biegen und auf den Fahrradständer zusteuern würde. Doch es kam niemand. Jonas trampelte von einem Fuß auf den anderen. Er spürte, dass etwas nicht stimmte und genau dieses Gefühl zog ihn beinahe magisch erneut die Stufen ins Freibad hoch. »Hallo?« Seine Stimme war nur noch eine leichte Schwingung, die sich auf die glitzernde Oberfläche des Beckens legte, die Jonas nur kurz mit den Augen streifte, ehe er zusammenzuckte. Jede Faser seines Körpers verkrampfte sich plötzlich. Unfähig, sich zu bewegen, stand er da. Nicht einmal den Kopf konnte er wegdrehen, sodass sich dieser scheußliche Anblick für immer in sein Gedächtnis einbrannte.