Читать книгу Friesenschrei - Sandra Dünschede - Страница 11
7. Kapitel
ОглавлениеThamsen war pünktlich zur angesetzten Besprechung wieder in Niebüll. »Also, Dr. Becker ist ganz sicher, dass die Kopfverletzung des toten Bademeisters auf Fremdeinwirkung zurückzuführen ist«, berichtete er von der Obduktion. »Ob der Mann anschließend von dem Täter ins Becken befördert worden ist oder durch den Schlag und eine daraus resultierende Bewusstlosigkeit selbst ins Wasser gefallen und ertrunken ist, kann er allerdings nicht sagen.«
»Das passt zum Bericht der Spurensicherung«, fuhr Ansgar Rolfs dazwischen. »Die haben quasi einen herrenlosen Laubcatcher am Beckenrand gefunden, der als Tatwerkzeug infrage käme.«
Lorenz Meister runzelte die Stirn. »Und den Schlag kann Ralf Burger sich nicht zufällig selbst beim Laubfischen verpasst haben?«
Thamsen verdrehte die Augen, hielt sich aber zurück. Warum konnten die Kollegen von der Kripo nicht einmal ihren Mund halten? Alles hinterfragten sie. Zu allem mussten sie ihren besserwisserischen Senf hinzugeben. Als wenn Thamsen und seine Kollegen Anfänger wären und nicht wüssten, was sie täten. Dabei würden sie wie immer die Aufgaben von Husum aus delegieren und die Beamten vor Ort sämtliche Arbeit erledigen lassen, sich am Ende aber doch in den Ermittlungserfolgen sonnen. Thamsen räusperte sich. »Nein, aus dem Winkel, so meint Dr. Becker, kann man sich die Verletzung nicht selbst zugefügt haben.«
Lorenz Meister nickte. »Was habt ihr sonst noch?«
Dirk erzählte von dem Besuch bei der Witwe, ließ allerdings das seltsame Telefonat mit der Mutter unerwähnt.
»Und was ist mit dem Jungen?«
»Der war gestern noch nicht vernehmungsfähig«, erklärte Ansgar Rolfs, und Thamsen versicherte, sie würden heute noch mit Jonas Lützen sprechen. »Ich habe vorsichtshalber auch schon Frau Sönnichsen, die Psychologin, informiert.«
»Gut«, kommentierte der Husumer Kollege die Vorgehensweise und erhob sich, um die Besprechung aufzuheben.
»Ist ja mal wieder typisch«, zischte Ansgar Rolfs, nachdem Lorenz Meister den Raum verlassen hatte. »Die ganze Mistarbeit dürfen wir wieder machen.«
Thamsen sah das Blitzen in den Augen seines Mitarbeiters und fühlte sich in die Zeit vor seines Dienststellenleiterseins zurückversetzt. Damals hatte er sich einiges gegenüber der Kripo herausgenommen; und das tat er auch heute noch, nur dass Lorenz Meister das gar nicht merkte. Er grinste und klopfte Rolfs auf die Schulter. »Na, dann mal ran!«
Haie hatte Dirk noch nicht erreichen können und daher beschlossen, seine Nachforschungen erst einmal weiterzubetreiben. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, der Auszug von Irmi Nahnsen könne etwas mit den Gerüchten um Ralf Burger zu tun haben. Gut, Irmi war etliche Jahre älter als der tote Bademeister, aber es kam schließlich öfter vor, dass sich Frauen einen jüngeren Liebhaber suchten. Außerdem fand Haie Boys Verhalten am Freibad mehr als fragwürdig. Wenn der mal nicht etwas zu verbergen hatte.
Mit Niklas im Schlepptau, dem er ein Eis versprochen hatte, betrat er den SPAR-Markt. Im Vergleich zum Vortag war heute wenig los. Der Tod des Bademeisters hatte sich herumgesprochen und die eigentlichen Diskussionen über solche Fälle im Dorf fanden bekanntlich woanders statt. Haie bedauerte, dass Tom noch auf Geschäftsreise war und erst morgen wiederkam, denn dadurch konnte er abends nicht in die Gastwirtschaft, wo man sicherlich über den Tod des Bademeisters hitzige Gespräche führte. Ob er Elke bitten sollte, auf den Kleinen aufzupassen? Er verwarf den Gedanken daran sofort wieder und überlegte stattdessen, Mona von nebenan zu fragen. Er hatte das junge Mädchen schon öfter zum Babysitten engagiert, bisher jedoch nur tagsüber und nie abends.
Er legte ein paar Grundnahrungsmittel, die sie immer benötigten, in den Einkaufskorb und ließ Niklas an der Kühltruhe ein Eis aussuchen. Dann stellte er sich an die Kasse.
Helene sortierte gerade einige Belege von Kartenzahlungen. »Moment kurz«, sagte sie und legte die Zettel der Reihenfolge nach aufeinander. Haie ließ Niklas das Eis auspacken und wartete anschließend geduldig. Auf keinen Fall durfte er Helene verärgern, wenn er an Informationen kommen wollte. Die Kaufmannsfrau war zwar äußerst mitteilsam, hatte aber so ihre Starallüren.
Endlich machte sie sich daran, die Preise seiner Waren in die Kasse einzutippen. »Und, hat die Polizei schon eine Spur?«, fragte sie dabei wie beiläufig, hielt aber trotzdem inne. Natürlich hoffte sie, an exklusive Neuigkeiten zu gelangen. Schon ihr lauernder Blick verriet ihm das.
»Nee«, schüttelte Haie den Kopf. »War auch noch mal am Freibad, aber da ist noch zu.«
Helene nickte und tippte weiter schweigend die Beträge ein. »Aber stell dir vor, wen ich dort getroffen habe. Boy Nahnsen.«
»Jo«, entgegnete die Ladenbesitzerin, ohne aufzublicken. »Seit Irmi weg ist, spaziert der öfter durch die Gegend. Mit sin Fruu hat er das ja nich gemacht.«
»Na, deswegen wird sie ihn ja wohl nicht verlassen haben, oder?«
»Ach wat«, winkte sie ab und blickte auf Niklas. »Wat für’n Eis war das?«
Niklas Musbart war der letzte Zeuge der verspeisten Ware. Er hatte die kühle Köstlichkeit in Windeseile verputzt. »Maracuja Split«, antwortete Haie rasch an seiner Stelle.
»Gut, dann macht das 38,17.«
Haie wühlte in seiner Geldbörse. »Ja, aber weswegen hat die Irmi Boy denn verlassen?«
Helene zog die Augenbrauen hoch. »Midlife Crisis?« Anscheinend kannte auch sie die genauen Umstände nicht.
»Aber war die dafür nicht zu alt?« Haie reichte ihr einen Fünfzigeuroschein.
»Zu alt?« Helenes Blick verfinsterte sich. Die Kaufmannsfrau war etwa im gleichen Alter wie Irmi Nahnsen.
»Außerdem habe ich gehört, das bekämen nur Männer«, versuchte Haie, seine vorherige Frage zu relativieren.
»Mag sein«, die Kaufmannsfrau grüßte eine junge Mutter mit Kinderwagen, die gerade den Laden betrat, und beugte sich dann ein Stück vor. »Ich vermute ja, da steckt ein anderer Mann dahinter. Warum sonst gibt man als Frau ein solch bequemes Leben, wie Irmi es hatte, auf?«
Haie runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Na«, klärte Helene ihn auf. »Die hatte es doch gut. Musste nicht arbeiten und hatte trotzdem reichlich Geld. Wahrscheinlich war ihr langweilig und da hat sie sich halt einen Liebhaber gesucht.«
»Und wer soll das gewesen sein?«
Helenes Miene verdunkelte sich erneut. Nie schien der ehemalige Hausmeister ihr Wissen über die Dorfbewohner zu honorieren. Immer verlangte er noch weitere Informationen. »Hier, dein Wechselgeld«, entgegnete sie schroff und lächelte dann an Haie vorbei bereits die nächste Kundin an. »Und, was gibt es Neues, Meta?«
Thamsen klingelte zum wiederholten Male, als endlich die Haustür geöffnet wurde. Jonas Lützen stand vor ihm und blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Ist deine Mutter nicht da?«
Jonas schüttelte den Kopf. »Die muss arbeiten.«
Seltsam, befand Thamsen. Wie konnte man sein Kind in solch einer Situation allein lassen? »Darf ich reinkommen?«
Jonas blickte ihn ein wenig unsicher an, nickte dann aber. Thamsen folgte dem Jungen in eine dunkle, miefige Küche. Auf der Spüle stand nicht nur das Geschirr vom Frühstück. Und auch der Esstisch quoll vor lauter Zeugs über. Jonas hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und blickte zu Boden. Dirk spürte, wie unwohl das Kind sich fühlte und ihm ging es ähnlich.
»Weißt du was?« Jonas rührte sich nicht. »Ich rufe deine Mutter an und sage ihr, dass ich dich mitnehme.«
»Mitnehmen?«, erschrocken sprang der Junge vom Stuhl.
»Keine Angst!«, versuchte Thamsen, ihn zu beruhigen. »Nur zu einem Gespräch mit einer sehr netten Frau. Wo kann ich deine Mutter erreichen?«
Noch immer starrte Jonas Lützen ihn an, wies dann aber auf das Telefontischen im Flur. »Die Nummer steht auf dem Zettel.«
»Wie, mitnehmen?«, Frau Lützen verstand nicht, was Thamsen ihr sagen wollte. »Auf keinen Fall!«
»Es soll nur eine Psychologin mit ihm sprechen. Ich denke, das wird gut für Ihr Kind sein.« Thamsen wusste, dass er die Einwilligung der Mutter für dieses Gespräch brauchte.
»Da will ich aber dabei sein!«
»Glauben Sie mir, es ist besser, wenn Ihr Sohn alleine mit Frau Sönnichsen spricht.«
»Besser? Wieso?«
Thamsen räusperte sich. »Hören Sie, ich verstehe Sie ja. Aber wollen Sie Ihrem Kind nicht helfen?« In Wirklichkeit verstand er die Frau ganz und gar nicht. Sie ließ Jonas nach dem gestrigen traumatischen Erlebnis heute einfach allein zu Hause, wollte aber nicht, dass er professionelle Hilfe bekam. Ohne die, so fürchtete Thamsen, würde das Kind den Vorfall allerdings nicht verarbeiten können. Man musste sich den Kleinen nur einmal ansehen. Total verängstigt und blass war er, sicherlich quälten ihn die Bilder seiner grausamen Entdeckung. »Er braucht Hilfe, um mit alldem fertigzuwerden«, versuchte er der Frau daher unmissverständlich klarzumachen.
»Okay«, stimmte die Mutter zu. »Aber ich will, wie gesagt, dabei sein.«
»Na gut«, stöhnte Thamsen und nannte der Frau die Adresse der Psychologin. »Wir treffen uns dort in einer halben Stunde.«
Haie war nach dem Einkauf schnell heimgeradelt und hatte versucht, Thamsen zu erreichen. Dieses miese Gefühl, Boy Nahnsen könne etwas mit dem Tod des Bademeisters zu tun haben, ließ ihm einfach keine Ruhe. Erst recht nicht nach Helenes Äußerung, Irmi Nahnsen habe einen Liebhaber gehabt. Das wäre doch ein fabelhaftes Motiv für Boy gewesen, Ralf Burger umzubringen. Zumal der ja mehrere Affären gehabt haben sollte, warum also nicht auch eine mit einer reiferen Frau wie Irmi? Doch statt des Freundes meldete sich Ansgar Rolfs und erklärte, sein Chef sei unterwegs. Haie bat den Mitarbeiter, Thamsen seine Bitte um Rückruf auszurichten.
Um die Wartezeit zu überbrücken, machte Haie sich daran, das Wohnzimmer zu putzen. Er traute sich zwar nicht, den Staubsauger anzuwerfen, aus Angst, er könne durch den Höllenlärm, den das Gerät verursachte, das Klingeln des Telefons überhören, und wischte daher zunächst Staub. Doch auch nachdem das letzte Staubkrümelchen vom Regal entfernt war, hatte der Freund sich nicht gemeldet. »Das gibt es doch gar nicht«, murmelte Haie und starrte auf den Telefonapparat. Sicherlich steckte Thamsen tief in den Ermittlungen, aber Haie fand seine Spur derart heiß, dass sie unbedingt verfolgt werden musste, ehe der Täter die Möglichkeit hatte, sie zu verwischen. Entschlossen wählte er die Handynummer des Kommissars.
Thamsens Mobiltelefon vibrierte in der Hosentasche und er warf einen flüchtigen Blick auf das Display, auf dem Haie Ketelsens Name erschien. Sicherlich hatte der Freund Neuigkeiten, doch er drückte den Anruf weg, da sich gerade in diesem Moment die Tür des Büros von Frau Sönnichsen öffnete und Jonas mit seiner Mutter erschien. Er hatte die Frau natürlich nicht davon überzeugen können, die Psychologin allein mit dem Kind sprechen zu lassen. Ansonsten hätte Frau Lützen ihre Einwilligung zu dem Gespräch verweigert. Um den Jungen jedoch nicht zu überfordern, hatte er auf Empfehlung der Expertin draußen gewartet.
Er stand auf und steckte sein Handy ein. Haie Ketelsen würde er später zurückrufen, nun wollte er erst einmal wissen, was bei der Befragung des Jungen herausgekommen war. Doch schon am Seufzen der Psychologin, die ihn nach der Verabschiedung von Mutter und Sohn in ihr Büro bat, meinte er auszumachen, dass Jonas Lützen wohl nicht besonders gesprächig gewesen war.
»Er ist total geschockt«, begann Frau Sönnichsen, das Kind zu verteidigen, »braucht eigentlich dringend Hilfe, aber die Mutter lehnt das ab.«
»Können Sie das nicht einfach verordnen?«
»So leicht ist das nicht«, stöhnte die Frau, »dazu müsste er schon gefährdet sein, aber wie soll ich das herausfinden? Er spricht ja kaum.«
»Was hat er denn gesagt?« Thamsen hoffte trotz allem, dass das Kind wenigstens einen kleinen Hinweis für ihn in dem Gespräch geäußert hatte.
»Jonas hat erzählt, er sei um halb sieben zur Schule aufgebrochen.«
»So früh?«
»Ja«, entgegnete Frau Sönnichsen, sie habe sich auch gewundert, aber der Junge hatte erklärt, dass er und sein Freund Oke darum wetteiferten, wer von ihnen morgens zuerst an der Schule sei.
»Das heißt, dieser Oke war auch beim Freibad?«
Die Psychologin schüttelte den Kopf. »Nein, Jonas war ja extra früh unterwegs, um vor seinem Freund da zu sein.«
»Aha«, nickte Thamsen, nahm sich aber vor, diesen Oke trotzdem zu befragen. Man konnte schließlich nicht wissen, ob der andere Schüler nicht doch dagewesen und etwas bemerkt hatte.
»Dann hat er die offene Tür gesehen und den Bademeister gefunden.«
Dirk wartete einen Moment auf weitere Details der Befragung, aber Frau Sönnichsen schwieg. »Das war alles?«
Sie hob die Hände. »Mehr jedenfalls hat Jonas nicht gesagt.«