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8. Kapitel
ОглавлениеHaie saß an Niklas’ Bett und las ihm aus dem Buch mit den Geschichten vom Klabautermann vor. Der Junge liebte die alten Erzählungen – ganz wie seine Mutter. Heute hatte er sich eine besonders lange Episode über eine stürmische Schifffahrt des kleinen Kobolds ausgewählt. Natürlich hatte Niklas mitbekommen, dass sein Patenonkel heute ausgehen wollte; schließlich saß Mona, das Nachbarsmädchen, schon im Wohnzimmer und sah fern.
Nach zwei weiteren Geschichten jedoch war der Junge endlich eingeschlafen und Haie schlich sich aus dem Kinderzimmer.
»Also, Mona, ich bin dann weg. Wird aber sicher nicht spät.«
Das junge Mädchen nickte. Es war das erste Mal, dass er sie gebeten hatte, abends auf Niklas aufzupassen. Elke hatte er nicht fragen wollen. Sie hätte wahrscheinlich gerne auf den Kleinen aufgepasst, aber irgendwie mied er, wenn möglich, den Kontakt mit seiner Exfrau. Der Umgang mit ihr bereitete ihm keine Probleme, doch wenn er sie traf, hatte er stets das Gefühl, als trauere sie ihm nach all den Jahren immer noch nach. Auf der einen Seite fühlte er sich zwar geschmeichelt, aber auf der anderen Seite wollte er auf gar keinen Fall Hoffnungen in ihr wecken. Für ihn war das Kapitel abgeschlossen. Ein für alle Mal. Daher ging er Elke meist aus dem Weg. Außerdem würde Mona das schon hinbekommen.
Er stieg auf sein Fahrrad und fuhr das kurze Stück zur Gastwirtschaft die Dorfstraße entlang. Es war noch hell, und eine laue Brise streifte während der Fahrt sein Gesicht. Ein wunderschöner Sommerabend. Haie liebte diese Jahreszeit, die viel zu schnell vorbeizog. Solche Abende wie heute waren selten, meist herrschten hier im Norden selbst im Sommer durch den Wind vom Meer kühlere Temperaturen. Und doch konnte er sich nicht vorstellen, irgendwo anders auf der Welt zu leben. Hier war seine Heimat, sein Zuhause.
Er stoppte direkt vor der kleinen Gastwirtschaft, die etwas zurückgelegen auf einem kleinen Hügel lag und lehnte sein Fahrrad an die Hauswand. Schon als er den kleinen Vorraum betrat, hörte er, dass trotz des guten Wetters viele andere Dorfbewohner anwesend waren. Ein Stimmengewirr drang aus dem Gastraum, an dessen Lautstärke er bereits im Flur ausmachen konnte, welch hitzige Diskussionen in Gange waren. Als Haie die Gaststube betrat, blickten etliche Gäste auf, und der Wirt sprach aus, was diese dachten: »Na, was verschlägt dich denn hierher?«
Haie war, seitdem er sich um Niklas kümmerte, eher selten zu Gast in der Wirtschaft. Früher hatte man ihn öfter angetroffen, doch Marlenes Tod hatte alles verändert.
»Bist du im Auftrag der Polizei hier?«, witzelte ein Bauer aus dem Koog, der am Tresen saß. Jeder wusste von seiner Verbindung zu Thamsen.
Haie ging darauf gar nicht ein, sondern bestellte sich ein Bier. Dann fiel sein Blick auf einen Zettel, der auf der Theke lag. »Was ist das denn?«, fragte er den Wirt und deutete auf das Blatt.
»Ach dat. Hat hier einer von der Polizei abgegeben. Die suchen Zeugen.« Er reichte Haie das Flugblatt. »Als wenn wir uns nicht melden würden, wenn wir etwas wüssten. Aber alleine sind die mal wieder unfähig, den Mörder zu finden«, kommentierte der Wirt die Aktion.
Haie schwang sich auf den Barhocker und las den Text. »Ja, manchmal sind es allerdings nur Kleinigkeiten, die man selbst für nichtig hält, die aber in einem größeren Rahmen eine ganz andere Bedeutung haben und daher als Infos für die Polizei enorm wichtig sind«, verteidigte er die Flugblattkampagne.
»Wat denn für Kleinigkeiten?«
»Na, zum Beispiel habe ich gehört, der Ralf Burger soll nicht gerade treu gewesen sein.« Haie wandte sich seinem Sitznachbarn zu und blickte ihn unverwandt an, doch in dessen Gesicht zeigte sich keinerlei Regung.
»Echt?«, fragte er stattdessen. »Davon habe ich nichts gehört. Kannte den aber auch nicht sonderlich gut.«
»Und du?«, fragte Haie den Wirt, da er wusste, dass der Betreiber der Gastwirtschaft jede Menge über die Leute und deren Verhältnisse wusste.
»Ich?« Der Mann schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an, lehnte sich dann jedoch ein wenig vor. »Also, ganz ehrlich, ich habe da neulich so einen Streit mitbekommen. Zwischen Ralf Burger und Hinark Baumann.«
»Mist«, fluchte Thamsen und beendete den Anruf. Er saß auf dem Sofa und wartete auf Dörte, die noch einmal nach der weinenden Lotta schaute. Siedend heiß war ihm plötzlich eingefallen, dass er total vergessen hatte, den Freund zurückzurufen, und nun konnte er ihn nicht erreichen – weder unter seiner Festnetznummer noch auf dem Handy. Thamsen war nach dem Gespräch mit der Psychologin in die Dienststelle gefahren und hatte mit Ansgar Rolfs die Flugblätter entworfen. Diese waren eine Idee seines Mitarbeiters, denn sie brauchten dringend Hinweise in dem Fall. Mit dem, was sie bisher herausgefunden hatten, kamen sie jedenfalls nicht weiter. Das war Thamsen bewusst und er hielt die Flugblätter für eine gute Möglichkeit, neue Ansatzpunkte zu erhalten. Ansgar Rolfs hatte vorgeschlagen, die Blätter noch am Abend im Dorf zu verteilen und eigentlich hatte Thamsen ihm helfen wollen, doch da hatte Dörte angerufen und wild ins Telefon gekreischt, er müsse dringend nach Hause kommen. Er hatte nicht genau verstanden, was sie in den Hörer geschrien hatte und natürlich befürchtet, etwas Schlimmes sei passiert. Als er jedoch daheim angekommen war, hatte Dörte weinend mit der schreienden Lotta auf dem Schoß in der Küche gesessen, beide nervlich am Ende. Dirk hatte sich zunächst um Lotta gekümmert, sie gefüttert und gebadet und anschließend ins Bett gebracht. Dann wollte er mit Dörte sprechen. So konnte es schließlich nicht weitergehen. Er musste arbeiten, hatte einen Mord aufzuklären. Er konnte nicht einfach von der Arbeit weg, nur weil Lotta schrie und Dörte weinte. So leid es ihm tat, aber er musste schließlich ihr Geld verdienen. »Wir müssen eine Lösung finden«, hatte er daher zu Dörte gesagt, die allerdings beim ersten Knäckeln von Lotta aufgesprungen und ins Kinderzimmer gerannt war. Das war vor mehr als einer halben Stunde gewesen und als er nun aufstand, um nach seiner Freundin zu schauen, fand er sie schlafend neben dem Kinderbett. Er stöhnte und ging zurück ins Wohnzimmer, wo er sich ein Glas Rotwein eingoss, mit dem er sich auf dem Sofa zurücklehnte. Was konnte er bloß tun? Was sollte nur werden? Wie lange sollte das hier so weitergehen? Dieses Chaos? So hatte er sich sein Leben mit Dörte, Lotta, Timo und Anne nicht vorgestellt. Sie existierten gar nicht als Familie. Das funktionierte nicht. Sie funktionierten nicht. Oder war er es, der etwas ändern musste? War es seine Schuld, dass alles hier auseinanderzubrechen drohte? Sein Sohn hatte bereits die Flucht ergriffen. Was kam als Nächstes? Derlei Fragen und Gedanken waren ihm unangenehm, daher stürzte er sich lieber in seine Arbeit. Er holte sein Merkbuch und schrieb die Aufgaben für den nächsten Tag hinein. Haie anrufen, Witwe zu ihrem Alibi befragen, mit Frau Mommsen sprechen, Oke aufsuchen. Er bezweifelte, dass er all diese Punkte morgen würde abarbeiten können, da erfahrungsgemäß aufgrund der Flugblattaktion sicherlich das Telefon kaum stillstehen würde. Wie deprimierend, wenn man, noch ehe der Tag begonnen hatte, wusste, dass man niemals alles schaffen würde, was es zu erledigen gab. Plötzlich empfand er aufgrund der vielen Aufgaben eine unendliche Müdigkeit und schloss die Augen. Nur eine Minute, dachte er, und war bald darauf fest eingeschlafen.
Ausgeruht fühlte er sich jedoch am nächsten Morgen keineswegs. Er hatte zwar einige Stunden auf dem Sofa geschlafen, doch in einer derartig verkrampften Stellung, dass ihm beim Aufwachen sämtliche Glieder schmerzten und er seinen Hals kaum bewegen konnte. Früher hatte ihm solch eine Schlafposition nichts ausgemacht. Da hatte er neben seinem Partner bei Observationen in jeder noch so unbequemen Körperhaltung im Wagen schlafen können, aber er wurde halt auch nicht jünger, das spürte er deutlich, als er sich in der Küche einen Kaffee machte, um überhaupt in die Gänge zu kommen. Es war früh, sehr früh. Alle anderen im Haus schliefen noch, als er wenig später, geduscht und nach einer entsprechenden Koffeindosis, in seinen Wagen stieg und in die Dienststelle fuhr.
»Moin, Chef«, grüßte Ansgar Rolfs, der bereits an seinem Schreibtisch saß und erste Anrufe aufgrund der verteilten Zettel entgegengenommen hatte.
»Und, schon was Brauchbares dabei?«
Der Mitarbeiter schüttelte den Kopf.
»Gib Bescheid, falls was ist«, wies Thamsen Rolfs an und verschwand zunächst in der Gemeinschaftsküche, um sich einen weiteren Kaffee zu holen. In seinem Büro schaltete er seinen Computer ein und blickte dann auf die Uhr. Zehn vor sieben, aber der Freund war sicher schon wach, überlegte er, während er auf die Seite mit seinen Aufgaben im Merkbuch blickte.
»Dirk, endlich!«, begrüßte Haie ihn aufgeregt. »Gibt es was Neues?«
Diese Frage hatte Thamsen eigentlich stellen wollen, denn er hatte kaum etwas zu berichten, außer dass Ralf Burger wahrscheinlich ermordet worden war. »Zumindest war der Schlag Fremdeinwirkung.«
»Also doch«, entfuhr es Haie und erzählte gleich von den Gerüchten über die vermeintlichen Affären des Bademeisters. »Und Boy Nahnsen halte ich für ziemlich verdächtig.«
»Stop, stop, stop!«, unterbrach Thamsen ihn. »Wer ist Boy Nahnsen?«
»Ein Bauer aus dem Koog, dem die Frau weggelaufen ist«, klärte Haie ihn auf und berichtete von seinen Vermutungen, Irmi Nahnsen könne auch ein Verhältnis mit Ralf Burger gehabt haben.
»Gut«, beschloss Dirk Thamsen, »ich komme später vorbei, dann können wir da zusammen hinfahren.« Anschließend würde er die anderen Punkte auf der Liste abarbeiten.
»Ja, aber nicht so spät. Ich bin alleine und muss Niklas aus dem Kindergarten abholen.«
»Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Häwelmann«, begann Leonie Oldsen, aus dem Märchenbuch von Theodor Storm vorzulesen. Die Kinder saßen im Kreis um sie herum und waren mucksmäuschenstill. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. So still war es. Leonie bezweifelte allerdings, dass es an der Geschichte lag, denn seitdem sie gestern noch einmal mit den Kindern über den toten Bademeister gesprochen und die Fragen der Kinder, so gut es ihr möglich war, beantwortet hatte, waren sie still geworden. Wahrscheinlich weil sie Angst hatten vor dem Mörder, der irgendwo da draußen frei herumlief. Einige Kinder waren vermutlich daher auch heute nicht zum Unterricht erschienen – Jonas Lützen jedenfalls war nicht zur Schule gekommen. Wie es dem Jungen wohl ging? Sie selbst verspürte ein beklemmendes Gefühl; die Stimmung im Dorf war unheimlich. Die Vorstellung, ein Mörder lebe mitten unter ihnen, jagte Leonie Schauer über den Rücken. Daher kam ihr der Schulausflug am Montag gerade recht. Schon vor ein paar Wochen hatte sie die Tagestour nach Husum mit einer Kollegin zusammen geplant. Sie wollten das Schloss besichtigen und natürlich war ein Besuch des Theodor Storm Museums vorgesehen. Die Märchen und Geschichten des berühmten Dichters dienten zur Vorbereitung.
Sie las weiter und ließ ihren Blick über die Schüler und Schülerinnen schweifen. Wie ungerecht, dass ein einziger Mensch diese zarten Geschöpfe derart verschreckt, ihre unbedarfte Art und die Welt um sie herum zerstört hatte. Viele der Kinder waren durch den Mord im Freibad das allererste Mal in ihrem Leben mit dem Bösen konfrontiert worden. Und das nicht im Fernsehen, sondern live und in Farbe, keine 500 Meter von ihrem jetzigen Aufenthaltsort entfernt. Leonie strich sich unbewusst über den Arm. Sie hatte Gänsehaut. »Ja, und dann? Weißt du nicht mehr?«, las sie. »Wenn ich und du nicht gekommen wären und den kleinen Häwelmann in unser Boot genommen hätten, so hätte er doch leicht ertrinken können.« Erschrocken schlug Leonie das Buch zu. War die Stunde noch nicht zu Ende? Sie blickte auf und sah die bleichen Gesichter der Kinder, als sich plötzlich einer der Jungen übergab.