Читать книгу Friesenschrei - Sandra Dünschede - Страница 8
4. Kapitel
ОглавлениеHaie blickte auf seine Uhr. In einer halben Stunde musste er Niklas wieder aus dem Kindergarten abholen. Eigentlich hätte der Kleine gar nicht in die Betreuung gemusst, denn seitdem Haie in Rente war, hatte er genügend Zeit, sich um sein Patenkind zu kümmern. Doch da Niklas keine Geschwister hatte und auch in direkter Nachbarschaft keine Kinder in seinem Alter wohnten, hatten Tom und er beschlossen, dass es für den Jungen gut war, zumindest ein paar Stunden am Tag unter Gleichaltrigen zu sein. Außerdem brauchte er dringend eine weibliche Bezugsperson. Sie waren nun einmal ein reiner Männerhaushalt und Haie glaubte nicht, dass sich das in naher Zukunft ändern würde. Tom trauerte noch immer um Marlene und litt nach wie vor sehr unter dem Verlust. Wenngleich es für seine Umwelt nicht mehr ganz so stark ersichtlich war, so wusste Haie doch, dass es Tom oftmals viel Kraft kostete, jeden Morgen aufzustehen und sich nicht seiner depressiven Stimmung hinzugeben. Und er selbst? Haie lebte bereits etliche Jahre getrennt von seiner Exfrau Elke, doch eine wirklich ernsthafte Beziehung hatte er seitdem nicht geführt. Anfänglich hatte er sich für eine neue Partnerschaft nicht bereit gefühlt und seit Marlenes Tod hatte er sich ausschließlich um Tom und vor allem um Niklas gekümmert.
Trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit beschloss Haie, noch schnell zum Schlachter in Lindholm zu fahren. Das Wetter war wieder sonnig und warm, und er hatte Niklas versprochen, heute zu grillen. Am liebsten mochte der Junge die Würstchen vom Schlachter im Dorf, deshalb schlug Haie den Weg Richtung Bundesstraße ein. Außerdem konnte er dann gleich in der Bäckerpost, die sich quasi neben der Schlachterei in der Dorfstraße befand, etwas Brot besorgen.
Als Haie um die Kurve bog, sah er die Schlange der wartenden Kunden bis auf den Gehsteig stehen und stöhnte. Natürlich war der Andrang ein Zeichen für die gute Qualität in diesem Laden, aber mussten die Leute gerade jetzt einkaufen? Die Schlachterei bot neben besten Fleisch- und Wurstwaren auch diverse Mittagsgerichte an, die bei den Dorfbewohnern äußerst beliebt waren. Haie hatte selbst bereits einige Male von dem Angebot Gebrauch gemacht, wenn er keine Lust zum Kochen gehabt hatte. Und diese Möglichkeit musste er natürlich auch anderen Leuten zugestehen.
Er stellte sein Fahrrad im vorgesehenen Ständer ab und reihte sich in die Warteschlange ein. »Moin!«, grüßte er in die Runde, doch niemand nahm wirklich Notiz von ihm. Der Kunde vor ihm schüttelte permanent den Kopf in der Unterhaltung mit seiner Vorderfrau. Natürlich ging es um den Leichenfund, was Haie sehr schnell den aufgebrachten Äußerungen der Dame entnehmen konnte.
»Das kann doch meist nicht wahr sein! Was sind das für Irre, die hier frei herumlaufen?«
Wie so oft verallgemeinerten die Leute den Vorfall, sahen ihr eigenes Leben in Gefahr. Gleich kommt bestimmt wieder eine abfällige Bemerkung über die Polizei, dachte Haie und behielt recht.
»Und was tut die Polizei, um uns vor solchen Verbrechern zu schützen?«
»Nichts«, pflichtete der Mann vor Haie der Frau bei. »Die haben bestimmt wieder keinen blassen Schimmer.«
Haie räusperte sich und die beiden blickten ihn irritiert an. »Na, so ganz ohne Grund wird man Ralf Burger bestimmt nicht umgebracht haben. Vielleicht hat jemand seine zahlreichen Seitensprünge bestraft?« Er wollte gleich mal austesten, wie viel Helenes Gerüchte wert waren. Sofort drehten sich weitere Kunden um und starrten Haie an. So ziemlich jeder im Dorf wusste von seiner Freundschaft zu Kommissar Thamsen und daher hatte seine Äußerung ein enormes Gewicht. Er hatte allerdings nicht geahnt, was er mit der Aussage anrichtete.
»Was willst du denn damit sagen?«, kreischte die Frau, die zuvor kein gutes Haar an der Polizei gelassen hatte. »Weiß man etwa schon, wer den Bademeister umgebracht hat?«
Die starrenden Blicke wurden intensiver. Eigentlich hatte Haie gedacht, er könne an neue Erkenntnisse in dem Fall kommen, doch seine Aktion war irgendwie nach hinten losgegangen. »N… n… nö«, stammelte Haie und überlegte fieberhaft, wie er die Situation wieder in den Griff kriegen konnte. »Ich meine nur, dass hier kein Irrer herumläuft und einfach wahllos Leute umbringt. Es gibt bestimmt einen Grund, warum Ralf Burger sterben musste.«
»Ist denn überhaupt klar, dass es Mord war?« Der Mann vor ihm in der Warteschlange blickte ihn neugierig an.
Haie schluckte. Hatte er sich doch zu weit aus dem Fenster gelehnt? Er hatte doch nur ein paar Informationen für Thamsen einholen wollen. »Na ja, vielleicht war es auch ein Unfall«, versuchte er nun, wieder ein Stück weit zurückzurudern.
»Ach ja?« Die Frau schaute ihn misstrauisch an, und auch er selbst glaubte nicht an diese Möglichkeit. »Und was meintest du dann mit den zahlreichen Seitensprüngen?«
Anscheinend hatten diese Leute noch nichts von Helenes Gerüchten gehört, ansonsten wären sie doch wahrscheinlich gleich darauf eingegangen. »Wat weiß ich. War nur so daher gesagt«, entgegnete Haie und nickte Richtung Fleischtheke, an der die Verkäuferin ungeduldig auf den nächsten Kunden wartete.
Dirk Thamsen fuhr die Steege entlang und stoppte seinen Wagen vor einem kleinen Einfamilienhaus in der Nähe des Friedhofs, in dem Ralf Burger gewohnt hatte. Wie besprochen, hatte er sich nach der Versammlung auf den Weg zur Witwe gemacht. Zunächst hatte er es im Krankenhaus versucht, doch dort hatte er erfahren, dass Grit Burger auf eigenen Wunsch entlassen worden war. Daraufhin war er nach Risum gefahren.
Er räusperte sich ausgiebig, ehe er den schwarzen Klingelknopf drückte. Zunächst machte es den Anschein, als sei niemand da, aber nach dem zweiten Klingeln hörte er dann doch schlurfende Schritte, ehe die Tür einen winzigen Spalt breit geöffnet wurde. Grit Burgers bleiches Gesicht erschien zwischen der Haustür und deren Rahmen. Sie schien leicht benommen, vermutlich wirkte das Beruhigungsmittel noch.
»Sind Sie ganz allein?«, wunderte Dirk sich. Grit Burger nickte. Sie öffnete die Tür ganz, nachdem er um Einlass gebeten hatte. »Soll ich jemandem Bescheid geben?«, fragte er, während er der Witwe durch den schummrigen Flur ins Wohnzimmer folgte.
Frau Burger ließ sich wie ein nasser Sack auf einen Sessel plumpsen und schüttelte den Kopf. »Nicht nötig«, flüsterte sie.
Seltsam, befand Dirk Thamsen. Er würde in solch einer Situation nicht allein sein wollen, oder doch? Schnell schob er den Gedanken zur Seite, schließlich ging es hier nicht um ihn. »Frau Burger, momentan können wir noch nicht sagen, wie Ihr Mann ums Leben gekommen ist, aber ich gehe davon aus, dass es sich um einen Mord handelt.«
»Mord?« Sie blickte ihn mit glasigen Augen an, und er bezweifelte, dass sie überhaupt verstand, wovon er sprach. Eigentlich war er vor der Obduktion nicht befugt, derlei Behauptungen aufzustellen, aber das war ihm in dieser Situation egal. Er brauchte Hinweise. »Können Sie sich vorstellen, wer Ihrem Mann so etwas angetan hat? Hatte er Feinde, gab es Ärger oder Streit?«
Sie schüttelte stumm den Kopf.
»Und was war mit Ihrer Ehe? Entschuldigen Sie, aber ich muss Sie das fragen. Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Mann beschreiben?«
Die Frau auf dem Sessel holte tief Luft und nickte. Thamsen wartete einen Augenblick, doch sie schien gar nicht wahrzunehmen, dass er mit einer Antwort rechnete.
So kam er nicht weiter. »Soll ich nicht doch jemanden anrufen? Aus der Familie?« Er hoffte, etwas über weitere Verwandte zu erfahren. Vielleicht konnten die ihm eine Auskunft erteilen. Die Witwe war dazu momentan augenscheinlich nicht in der Lage.
»Meine Mutter?« Die Antwort klang wie eine Frage, und er nickte ihr aufmunternd zu. »Die Nummer ist auf dem zweiten Speicherplatz im Telefon hinterlegt.«
Er stand auf und nahm das mobile Telefon von der Ladestation. Zwei Fingertipps und die Nummer wurde automatisch gewählt. Thamsen wartete, doch auch nach mehreren Freizeichen wurde am anderen Ende nicht abgehoben. »Vielleicht ist sie schon auf dem Weg zu Ihnen?«
Grit Burger zuckte gleichgültig mit den Schultern, während er überlegte, was er tun sollte. Die ganze Situation war ihm unangenehm. Der Umgang mit den Angehörigen von Todesopfern war ihm noch nie leichtgefallen, doch diese Frau machte ihn ratlos. Hinzu kam ihr glasiger Blick. Thamsen konnte das Verhalten der Witwe nicht einordnen. Und dann diese sterile Atmosphäre. Er blickte sich um. Kein Fussel, kein Staubkrumen. Nur überall diese Bilder. Grit und Ralf Burger lächelnd Arm in Arm. Am Strand von St. Peter-Ording, vor ihrem Haus, auf dem Hamburger Michel. Waren die echt oder inszeniert? War das Paar glücklich gewesen?
»Haben Sie Kinder?«
»Nein. Ich kann keine bekommen.«
Ihre direkte Antwort machte ihn verlegen. Was tat er hier eigentlich? Wühlte in dem Leben einer Frau herum, die gerade auf brutalste Weise ihren Mann verloren hatte. »Tut mir leid, ich wollte nicht …« Das Klingeln des Telefons unterbrach seine entschuldigenden Worte. Da er immer noch stand, nahm er das Gespräch entgegen. »Bei Burger.« Es folgte eine kurze Pause.
»Wer ist denn da?«, krächzte schließlich eine ältere Frauenstimme aus dem Hörer.
»Kommissar Dirk Thamsen. Und Sie sind?«
»Else Mommsen. Ist meine Tochter nicht da?«
»Doch, aber …«, er räusperte sich. »Vielleicht haben Sie es noch nicht erfahren?«
»Was?«
»Nun ja, Ihr Schwiegersohn ist heute Morgen tot im Freibad aufgefunden worden. Es wäre gut …«
»Hat sie es also endlich geschafft«, johlte Else Mommsen dazwischen.
»Bitte was?« Thamsen verstand nicht, was die Frau damit sagen wollte.
»Na«, gab seine Gesprächspartnerin jedoch sogleich bereitwillig Auskunft, »mit ihrer ständigen Eifersucht hat sie ihn nun doch in den Selbstmord getrieben.«
»Wie kommen Sie darauf, dass es Selbstmord war?« Dirk Thamsen war mehr als verwundert. Er war aus seiner langjährigen Dienstzeit zwar so einiges gewohnt, hatte eine Menge unfassbarer Dinge erlebt, aber diese Frau war ihm suspekt. Ihr Schwiegersohn war tot und sie hatte nichts Besseres zu tun, als ihrer Tochter die Schuld daran zu geben?
»Na, wer soll dem armen Kerl denn sonst etwas angetan haben?«