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Von Maden und Halunken in Spelunken (von Jasmin Aurel)

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Ein einzelner Tropfen Blut lief ihr über das Handgelenk.

Kay zuckte zusammen und bemerkte erst jetzt, dass sie unbewusst ihre Fingernägel brutal in ihren Handballen bohrte. Mit einem Keuchen öffnete sie ihre Hand und betrachtete im bunten Lichtschein der Armaturenanzeigen die blutigen Male in ihrer Haut.

Sie seufzte und sah aus dem Fenster. Shuttles und Raumschiffe unterschiedlichster Größe und Bauart schwebten vor, hinter und über ihr in drei langen Reihen. Der Zubringertunnel war mehr als voll. Sie steckten fest, was im Zeitalter von Leitsystemen, in die sich Bord-KIs einwählen konnten, eigentlich kaum möglich war.

Und doch standen sie hier.

»Benedict, wie lange dauert dieser Stau noch?«

»Diese Gegend ist hartnäckig verstopft um diese Uhrzeit. Scheinbar müssen die Flugbahnen hier wegen dem großen Andrang per Zwang in Bahnen gelenkt werden. Es kam wohl in letzter Zeit zu einigen schweren Zusammenstößen. Ich bitte vielmals um Verzeihung für diese Unannehmlichkeiten, Darling«, schnurrte Benedict, die KI ihrer Spacelimousine, aus den Lautsprechern.

Die meisten KIs waren weiblich, aber es hatte sich sowas von gelohnt, sich die Stimme von Benedict Cumberbatch als Modul einzukaufen. Sein tiefer, britischer Bass kratzte wenigstens nicht wie rostige Nägel an der Innenseite ihres schmerzenden Schädels.

»Halte noch ein wenig durch. Möchtest du, dass ich Musik auflege? Sanfte klassische Klänge, Sweetheart?«

Kay überlegte, während sie ihre zittrigen Finger betrachtete und den blutigen Handballen dann gegen den schwarzen Stoff ihrer Hose presste. »Einverstanden.«

Die klaren Töne eines Klaviers perlten über sie hinweg und Kay rutschte tiefer in die weichen Polster.

»Vielleicht war es doch keine so gute Idee, unter Leute zu gehen.«

»Es war die einzig gute Idee. Du unterhältst dich seit Wochen nur mit mir, das ist nicht gesund, Beautiful.«

Jetzt war es soweit: Sie wurde von ihrer KI bemuttert. Jeder wusste, was das bedeutete: Man war ganz unten angekommen.

»Es wird Zeit, dass du nach deinem Umzug neue Sozialkontakte knüpfst. Mit lebenden Personen wohlgemerkt.«

Auch das entsprach leider der Wahrheit.

»Außerdem seien wir ehrlich, Darling, wenn du dich weiter so hängen lässt, musst du mich verkaufen, weil du dir deinen gewohnten Lebensstandard nicht mehr leisten kannst.«

»Aha, daher weht der Wind«, lachte Kay. »Du hast Angst, bei irgendeinem geleckten Schnösel zu landen.«

»Nun, die Wahrscheinlichkeit, dass ich noch einmal bei einer Space Nekromantin lande und eine derart aufregende Existenz führe wie bei dir, ist statistisch gesehen sehr gering. Das musst du zugeben, my dear.« Benedict ließ die Spacelimousine ein Stück weiter rücken, als der Stau sich bewegte. Dann standen sie wieder.

»Möglicherweise wird es bei mir jetzt aber auch langweilig und öde werden, Benedict. Du weißt, ich habe aufgehört.«

»Sagen wir, du gönnst dir eine Auszeit.«

Auszeit. Das war keine Auszeit.

»Benedict, der letzte Auftrag war … das war … ein Massaker. Ein. Massaker.« Kay betonte jedes einzelne Wort. »Diese Bilder verfolgen mich immer noch. Ich kann nicht mehr schlafen. Ich kann nicht mehr essen. Ich …« Tatsächlich konnte sie nicht einmal in Worte fassen, was sie empfand. Deshalb hatte sie auch noch mit niemandem darüber gesprochen. Nicht dass es irgendjemanden geben würde, der sich für ihr Seelenleben interessieren würde. Das Leben als freischaffende Auftragsnekromantin war zwar gut bezahlt, aber einsam. Sehr einsam.

So einsam, dass sie von Benedict bemuttert wurde.

Dieser schwieg höflich.

Das Klavier klimperte.

Sie standen immer noch im Stau.

»Benedict, gibt es denn noch eine andere Bar, wo wir hinfahren könnten? Bis wir beim Palace of Glass ankommen, habe ich eine Panikattacke.«

»Wenn wir hier rechts aus der Hauptverkehrsader abbiegen, könnten wir in zehn Minuten die große Dimensionsschleuse für Raumschiffe erreichen. So könnten wir relativ schnell den Rand unserer Galaxy erreichen. Dort gibt es eine Weltraumkneipe. Allerdings …« Er zögerte einen vielsagenden Moment lang. »Nun ja, sie ist nicht so hochklassig.«

»Nicht so hochklassig?«

»Von fragwürdiger Reputation.«

»Wovon sprichst du?«

»Eine Spelunke, Darling. Sie heißt Waypoint FiftyNine

»Was ist denn das für ein Name für eine Bar?«

»Darüber möchte ich mir keine Meinung anmaßen, Honey.«

Das versprach zumindest unterhaltsam zu werden. Sicherlich spannender als sich die High Society beim Champagnersüffeln anzusehen und sich dabei wie eine Ausgestoßene zu fühlen.

»Bring mich in diese Spelunke, Benedict.«

Kurz vor ihrem Ziel verringerte Benedict plötzlich deutlich die Geschwindigkeit. Kay kämmte sich gerade die Haare, überprüfte ihr Make-up und überlegte, ob es besser wäre eine Augenklappe über ihrem Nekromantenauge zu tragen, als sie bemerkte, dass sie nahezu auf der Stelle schwebten. »Ben, was ist los?«, fragte sie verwirrt.

»Ich habe gerade eine Nachricht der Stations-KI der Kneipe erhalten. Ein defekter Sensor verhindert, dass sich freie Buchten öffnen.«

»Na und? Wenn eine Bucht wie allgemein üblich drei bis fünf Raumschiffe aufnehmen kann, wo liegt dann das Problem? Da wird doch wohl trotzdem genug Parkraum sein.« Kay entschied sich gegen die Augenklappe und deaktivierte mit einer Handbewegung die Bildschirmkamera, die ihr gelegentlich als Schminkspiegel diente. Nun zeigte der Bildschirm die Meldung der Stations-KI an. »Die wollen uns doch nicht etwa erzählen, dass sie sonst keine freien Plätze mehr haben? Wird diese Spelunke derart überrannt von Besuchern? Das kann ich mir kaum vorstellen.«

»Beruhige dich, Darling. Du bist etwas gereizt.«

Kay schnaubte nur als Antwort.

»Tatsächlich verfügt dieses Etablissement ausschließlich über Einzelparkbuchten.«

»Wow. Die sind ja dekadent. Einen solche Luxus bietet uns der Palace of Glass nicht. Wir sollten wirklich weniger lästern.«

»Das Klientel dieser Kneipe wird derartige Maßnahmen verlangen«, meinte Benedict verschnupft. Er mochte den Palace of Glass. Was natürlich an der süßen Service-KI lag, mit der er dort regelmäßig während seiner Updates flirtete.

»Die Stations-KI des Waypoint FiftyNine fragt, ob wir uns ausnahmsweise einen Parkplatz teilen würden. Scheinbar lassen sich nur noch die belegten Buchten steuern. Oder wir warten, bis eine gewisse Nova den Schaden behoben hat.«

Ein Bestatterraumschiff zog an ihnen vorbei. Eine Klappe am äußeren Ring der Raumstation öffnete sich. Das Bestatterraumschiff schwebte langsam hinein, die Klappe schloss sich wieder. Nun, offensichtlich funktionierte es problemlos, wenn sie zusagten.

»Sag ja und dass du eine artige kleine KI bist, die sich nicht mit anderen KIs um frisches Kühlwasser streitet.«

»Das habe ich wortwörtlich so übermittelt, Love.«

»Du bist ein Schatz.«

Wenig später parkte Benedict neben einer dreckigen, kleinen Weltraumschubse.

Mit einem sanften Klicken schloss sich die Luke ihrer Spacelimousine hinter Kay. Ihr Voice Plug hatte sie auf ihrem Sitz liegen lassen. Nur Loser unterhielten sich noch außerhalb ihres Schiffes mit ihrer KI, wenn es die Arbeit nicht gerade erforderte. Nein, sie würde sich mit echten Personen unterhalten. Oder mit niemanden. Je nachdem. Aber sie würde nicht so tief sinken, ihre KI als einzige Gesellschaft zu haben, wenn sie etwas trinken ging.

Kay straffte sich und wandte sich dem Schott zu, das zum Inneren der Bar führen musste. Dabei fiel ihr Blick auf den Namen der klapprigen Nussschale neben sich. George Washington. Alles klar. Der Besitzer konnte auch nur ein Mann sein.

Sie trat durch das Schott und fand sich in einer Kammer wieder.

»Willkommen«, ertönte eine männliche Stimme aus einem Lautsprecher in der Wand. »Mein Name ist Security-Jack. Ich sorge für die Sicherheit an Bord. Haben Sie irgendwelche Waffen abzugeben?«

»Nein«, sagte Kay. Die einzige Waffe, die sie bei sich führte, waren die Fähigkeiten, die in ihrem Körper verborgen lagen. Die konnte man nicht abgeben.

»Scan wird durchgeführt.«

Kay hielt artig still, bis die blinkenden Lichter erloschen waren und das Surren aufhörte. Das gegenüberliegende Schott öffnete sich.

»Wo geht es zur Bar?«, fragte sie.

»Laufen Sie einfach den Ringkorridor entlang. Da hän-gen Schilder, die sie ins Zentrum der Station führen. Viel Spaß.«

Kay folgte der Wegbeschreibung und stand schließlich vor einem weiteren Schott, das sie per Knopfdruck öffnete. Sie trat ein und ging einige Schritte über den glänzenden Boden, dessen Farbe im Schummerlicht schwer zu definieren war.

Dann blieb sie stehen und sah sich einen Moment einfach nur um. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an das dämmrige Halbdunkel des gefüllten Schankraums.

Die Wände waren mit einem Sammelsurium an bunt zusammengewürfelten Artefakten bestückt. Am Tresen war es etwas heller als an den Tischen, denn die verspiegelte Wand hinter dem Barkeeper beleuchtete die unzähligen Flaschen in den Regalen.

Es roch nach Bier, Zigarettenrauch und ungewaschenen Körpern. Auf einer kleinen Bühne spielte eine Band, sie wurde aber von einem stetigen Murmeln übertönt, das von den Besuchern ausging.

Vor ihr kroch ein mannshoher Oktopus mit neongrüner Mähnenperücke vorbei und hinterließ eine glitschige Spur. Ein Putzroboter fuhr hinter ihm her. An der Bar hing eine Meute Trolle herum, die wohl aus einer anderen Dimension stammten.

»He, Tentakelhirn, du schummelst!«, quäkte es am Billardtisch.

Hinter Kay öffnete sich das Schott. Ein Rudel Werwölfe – angeführt von einem schwarzen Einhorn – trat ein. Das Einhorn rauchte Pfeife und peitschte Kay im Vorbeigehen den geflochtenen Schweif ins Gesicht.

»Nicht in der Tür rumlungern«, wieherte es.

Eine Spelunke. Genau wie Benedict gesagt hatte.

Wo ging sie jetzt am besten hin? Hier schien jeder jemanden zu kennen, überall saßen Gruppen beisammen und unterhielten sich. Sie war allein und wusste nicht, wohin mit sich.

Ein menschlicher Mann steuerte auf sie zu. Er schwankte stark. Seine Nase war geschwollen und mit verschmiertem Blut bedeckt. Und er war über und über mit rötlichem Staub verkrustet.

Oh bitte, geh einfach an mir vorbei, betete Kay.

Der Mann rempelte sie an. »Huch, Entschuldigung!«, lallte er und stolperte ein paar Schritte zurück, wobei er sie anstarrte, als wäre sie aus dem Nichts erschienen und nicht die ganze Zeit hier an diesem Fleck gestanden.

»Schon gut«, murmelte Kay und wollte an ihm vorbei. Der Mann sah unangenehm abgerissen aus.

An die Bar. Am besten sie ging direkt an die Bar …

»Hey!« Der Typ hielt sie auf. Er beugte sich leicht vor. »Willst du …« Mit einem Ruck öffnete er seinen langen Mantel.

»Oh, bei Galaktikas Titten!«, stöhnte Kay und hielt sich die Augen zu. »Nein, geh weg!« War dieser Perverse ernsthaft nackt unter dem Mantel? Warum schrie denn keiner bei diesem Anblick? Andererseits: Würde in dieser Spelunke überhaupt jemand schreien, wenn sich einer entblößte? War das hier vielleicht normal?

»… ein Rückgrat?«, hörte sie ihn lallen.

Ein Rückgrat? Kay wagte es, hinzusehen. Neben diversen Knochen, Versteinerungen und dubiosen anderen Gegenständen – war das eine verdreckte Harry Potter Wollsocke? – steckte auch ein voll funktionsfähiges Rückgrat in eigens dafür eingenähten Schlaufen in seinem Mantel. Was stimmte mit diesem Kerl eigentlich nicht?

»Heute zwei zum Preis von einem!«, verkündete er stolz.

Kay starrte ihn an. Wenigstens war er nicht nackt. »Da ist aber nur ein Rückgrat«, wandte sie ein.

»Hä? Susi, wo ist das andere Rückgrat hin?« Er guckte sich panisch um, als könnte er es verloren haben. »Wie, wir haben nur eins?«

»Mit wem sprichst du?«

»Nicht mit dir.« Er drehte sich im Kreis. »Hätte schwören können, wir hätten noch ein zweites Rückgrat …«

Okay, alles klar. Ein Loser, der sich mit seiner KI über Voice Plug unterhielt. Natürlich.

Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihr rechtes Auge. Wieso bei Neptuns Nebeln regte sich ihr Nekromantenauge bei diesem Spinner? Der war vieles, aber ganz sicher nicht tot.

»Wenn du mich entschuldigst«, murmelte Kay und flüchtete auf die Toilette.

Vor dem Spiegel richtete sich gerade eine Dragqueen das schillernde Make-up. Erst im zweiten Moment bemerkte Kay, dass es ein Androide war. Vermutlich ein Erotik-Androide, wenn man sich die Kundschaft dieser Kneipe so ansah.

Sie ging in eine der Kabinen und wartete, bis der Androide den Raum verlassen hatte. Endlich allein trat sie wieder aus der Kabine und drehte den Wasserhahn auf. Während kaltes Wasser aus dem Hahn spritzte und dabei mehr ihre Kleidung einnässte als ihre Hände, betrachtete sie ihr Gesicht im verschmierten Spiegel.

Sie sah krank aus. Krank und bleich. Ihr linkes Auge blickte traurig. Ihr rechtes Nekromantenauge glänzte gewohnt purpurrot im billigen Neonlicht der Toilette. Nichts Ungewöhnliches. Wie immer blickte es in die Ferne und fokussierte sich auf die Welt hinter dieser Welt. Dieses Auge blickte stets hinter den Schleier, auf der Suche nach einer Beute für ihre Kräfte. Seltsamerweise hatte ihr Nekromantenblick vorhin auf diesen Trottel reagiert. Und sie verstand nicht, warum. Vermutlich waren es einfach ihre Nerven. Sie brauchte wirklich ganz dringend einen Drink. Der Barkeeper hatte auf den ersten Blick erstaunlich fähig ausgesehen. Vielleicht beherrschte er ja sogar ein paar Cocktails.

Ihre Gedanken wanderten zu dem verschrobenen Trottel zurück. »Ganz ruhig. Das war nur ein Spinner mit ein paar nutzlosen Knochen und einer ausgefransten Wollsocke«, redete sie sich selbst leise zu. »Der hat dich schon längst wieder vergessen und du kannst einen neuen Versuch starten, an die Bar zu gehen.«

Ihr Spiegelbild verzog angewidert das Gesicht.

Eilig verließ sie die Toilette und marschierte diesmal vehement direkt auf die Bar zu, damit sie keiner mehr anquatschte.

Leider saß der Besoffene inzwischen ebenfalls an der Bar. Natürlich. Überall hier in dieser Kneipe könnte er sich niederlassen. Nein, er musste ausgerechnet den Barkeeper mit seinem Elend vollheulen.

»Ich verstehe einfach nicht, warum keiner ein Rückgrat kaufen will! Das ist erstklassige Qualität!«

»Hallo«, grüßte Kay den Barkeeper und ignorierte den Trottel rechts von ihr, während sie sich an den Tresen lehnte. Sofort zuckte wieder dieser scharfe Schmerz hinter ihrem Auge. Es musste doch an diesem Typen liegen. Nur warum? Sie tat, als wäre nichts. »Kannst du mir einen Broken Galaxy mischen?«, fragte sie den Barkeeper.

Dieser nickte und schien froh zu sein, diesem Gespräch entfliehen zu können.

»Ich kann dir aber auch unseren Hausdrink den FiftyNiner empfehlen, wenn du etwas Starkes suchst«, merkte er an, während er Eiswürfel in ein Glas schaufelte.

»Nie gehört.«

»Er schmeckt für jeden anders.«

Das Schildchen am Revers des Barkeepers wies ihn als Virginio aus. Mit dem weißen Hemd und der schwarzen Fliege sah er beinahe zu kompetent für diesen Laden aus.

»Das ist immer wieder spannend.«

»Den hatte ich auch!«, mischte sich der Trottel ungefragt ein. »Kann ich nur empfehlen! Schmeckt wie … ach, jetzt ist mir das Wort entfallen.«

Kay ließ ihren Blick über seine abgewrackte Erscheinung schweifen und sah dann wieder den Barkeeper an. »Lass mich raten, man muss für diesen Drink einen Verzicht auf Klageanspruch unterzeichnen, richtig?«

Virginio grinste. »Muss man das nicht für alles, was Spaß macht?«

»Den Broken Galaxy, bitte.«

»Also wirklich!«, empörte sich der Trottel darüber, dass sie seine Empfehlung überging. »Huch, du bist ja Nekromantin!«, keuchte er dann. Scheinbar war der Anblick ihres roten Auges nun auch durch seinen FiftyNiner-Rausch gedrungen.

Virginio verdrehte die Augen. »Wow. Das war dezent, Cornelius.«

»Hä? Was meinst du?« Cornelius guckte verwirrt.

Sollte sie sich jetzt wirklich mit diesem Loser unterhalten? Sie könnte ihn auch einfach ignorieren, bis ihr Drink fertig war und sich dann in eine ruhige Ecke verziehen. Andererseits war sie ja extra hierhergekommen, um mal wieder soziale Interaktionen zu pflegen. Damit sie nicht so erbärmlich endete wie diese schräge Gestalt neben ihr.

»Ja, ich bin Nekromantin. Mein Name ist Kay. Und du bist …?« Na also. Die Grundlagen einer Konversation beherrschte sie ja doch noch.

»Cornelius Smith, freiberuflicher Archäologe. Zu Ihren Diensten.« Er zog eine Visitenkarte aus dem Mantel und reichte sie ihr.

Die Karte war aus Papier. Echtem Papier. Kay hatte bis gerade eben nicht mal gewusst, dass so etwas noch hergestellt wurde.

»Ah ja.« Nach kurzem Zögern nahm sie die Karte an und wischte mit dem Ärmel darüber, um die rötliche Staubschicht zu entfernen.

»Und was treibt Sie hierher, gnädige Dame?«, fragte Cornelius Smith auf einmal superhöflich.

»Warum siezt du mich jetzt auf einmal?«, fragte Kay misstrauisch.

Sogar Virginio blinzelte verwirrt.

»Hä?«

Okay, der war zu betrunken, um überhaupt zu bemerken, was er tat. Cornelius schien außerdem schon wieder vergessen zu haben, dass er ihr eine Frage gestellt hatte. Sollte sie trotzdem darauf antworten oder so tun, als wäre es ihr ebenfalls entfallen?

»Ich wollte einfach mal wieder unter Leute«, erklärte sie möglichst neutral.

»Nun, es ist mir ein exorbitantes Vergnügen, Sie kennenzulernen«, palaverte Cornelius. »Sind Sie oft hier?«

»Tatsächlich bin ich zum ersten Mal hier.« Kay blickte sich um. »Das ist eigentlich nicht so meine Gegend. Aber der Verkehr zum Palace of Glass war komplett dicht, da säße ich immer noch im Stau.«

Cornelius fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Oh, gnädige Dame, dann seid Ihr aber hier völlig falsch.«

Benutzte er nun wirklich die Ihr-Form ihr gegenüber als Anrede? Ernsthaft?

»Du bist schon ein schräger Vogel«, stellte Kay fest, während Virginio seinen Becher schüttelte.

»Oh, danke sehr.«

Cornelius verbeugte sich so halb. Jedenfalls glaubte Kay, dass seine ungelenke Verrenkung eine Verbeugung darstellen sollte, ganz sicher war sie sich allerdings nicht. Vielleicht hatte er auch nur einen Knochen verloren und bückte sich danach.

»Es ist sehr freundlich, dass Ihr das sagt.« Er hielt inne und lauschte kurz auf seinen Voice Plug. »Wie meinst du das, das sei kein Kompliment? Du hast doch keine Ahnung, Susi!«

Virginio grinste nur, während er die fertig geschüttelte Mischung sorgfältig über die Eiswürfel goss.

»Und weshalb hast du dich so abgeschossen?«, fragte Kay höflich.

»Nun, wisst Ihr, mein Auftraggeber hat mich versetzt.« Darüber schien er sehr unglücklich. »Und jetzt warte ich hier wie ein Häufchen Elend und weiß nicht, was ich mit diesen blöden Maden anfangen soll. Habt Ihr denn Interesse an Maden, gnädige Frau?«

»Igitt, nein.«

Virginio stellte ihr den Cocktail hin und Kay nahm schnell einen großen Schluck, um den aufsteigenden Ekel zu dämpfen. »Und überhaupt, was hat denn ein Archäologe mit Maden zu tun? Arbeitest du nicht so wie ich mit toten … Ressourcen?«

»Ich versichere Euch, es handelt sich um eindeutig tote Maden. Tote, pestverseuchte Maden, um genauer zu sein.«

»Oh. Nett.« Vielleicht sollte sie doch nochmal Händewaschen gehen. Hing in der Toilette eigentlich Desinfektionsmittel?

»Ich habe sie erst vor kurzem auf R108 ausgebuddelt, sie sind in einem erstklassigen Zustand«, fügte Cornelius stolz hinzu.

Das erklärte, weshalb ihre Nekromantensinne unterschwellig auf Cornelius reagierten. Er musste diese Viecher bei sich tragen. Wie hatte er die nur an Security-Jack vorbeigeschmuggelt?

»Danke, nein. Ich arbeite zwar mit totem Material, aber das gehört mir nie selbst.« Es gab zwar Gerüchte von Nekromanten, die sich gleich mehrere Tiefkühltruhen mit Toten daheim hinstellten, um sie je nach Bedarf als Haushaltshilfe wiederzubeleben und wieder einzufrieren – aber Kay gehörte nicht dazu.

»Ach, niemand will mir meine Maden abkaufen!«, beklagte er sich. »Da geht ein armer alter Archäologe wie ich doch bald pleite.«

»Man verdient schlecht als Archäologe?« Das überraschte Kay. Man brauchte sie doch heutzutage ständig, zumindest in ihrem Arbeitsmilieu.

»Dank dieser ungeheuerlich neumodischen Firmen wird uns klassischen Archäologen das Wasser abgegraben.« Cornelius hielt kurz inne und schien darüber nachzusinnen, was er gerade gesagt hatte und was eigentlich das Thema war. »Aufträge sind rar und werden oft an solche Idioten wie Alfredo vergeben, die immer alles in den künstlichen Hintern geschoben bekommen und in ihrem Leben noch nie richtig arbeiten mussten!«

»Bitte was?«

»Na, verwöhnte Bengel eben.«

»Ah ja, verstehe.« Kay verstand kein Wort. Da schien ein persönlicher, tief schwelender Konflikt vorzuliegen. Besser nicht darauf eingehen.

»Ich gestehe, ich habe selbst noch nie mit Archäologen zusammengearbeitet und bin daher nicht über die üblichen Gehälter informiert. Das sind meist die Angelegenheiten meiner Auftraggeber.« Als Nekromantin hatte sie sich noch nie Gedanken über Geld machen müssen. Sie konnte sich ihre Aufträge heraussuchen. »Meine KI kümmert sich um meine Finanzen. Benedict lehnt zu gering bezahlte Aufträge direkt ab.«

»Susi nicht«, grummelte Cornelius. »Außerdem kriegen wir viel zu wenige Aufträge, weil uns immer alles vor der Nase weggeschnappt wird.«

»Uns?«, echote Kay.

»Susi und mir«, antwortete Cornelius ganz selbstverständlich.

»Verstehe.« Oh weh.

Kay nippte an ihrem Glas und ließ den kühlen Schluck langsam ihre Kehle hinabwandern. Mittlerweile drückte ihr Auge nicht nur ein wenig, sondern schmerzte penetrant. Was war denn nur los? Das konnte doch unmöglich an den Maden liegen.

»Jedenfalls ist es eine Ungeheuerlichkeit, dass dieser schmierige Typ nicht auftaucht!«, empörte sich Cornelius derweil. »Da macht man sich solche Mühe und dann hält der sich nicht mal an unsere Vereinbarungen.«

»Was will der überhaupt mit toten Maden anfangen?«, fragte Kay, um sich abzulenken. Sie verstand nicht, was mit ihr los war, und sie wollte jetzt nicht zurück in ihre Spacelimousine gehen, um einen Vitalscan zu machen. Endlich führte sie mal wieder so etwas Ähnliches wie ein zivilisiertes Gespräch mit jemandem, der nicht aus Codezeilen und Schaltkreisen bestand. Auch wenn Cornelius stockbesoffen war – oder gerade deshalb –, war er eine leichte Gesellschaft, die nicht so viel von ihr forderte. Bestimmt ging es gleich vorbei. Sie nahm noch einen Schluck von ihrem Cocktail, um den Schmerz zu betäuben.

»Ach, das weiß ich auch nicht. Ich habe nicht gefragt«, sagte Cornelius.

Kay rieb sich das schmerzende Auge. »Mit dem solltest du nicht mehr zusammenarbeiten. Oder nur gegen Vorkasse. So mache ich das. Wenn der Auftrag schwieriger wird als erwartet, stelle ich die Mehrkosten hinterher in Rechnung. So ist man aber über den größten Teil des Betrages abgesichert.« Für ihren letzten Auftrag hatte sie sich wegen seelischer Beeinträchtigung sogar sehr großzügig entschädigen lassen. Dennoch hatte Benedict recht: Ewig konnte sie nicht mehr von ihren Ersparnissen leben.

»Solche Forderungen zu machen, kann ich mir nicht leisten«, sagte Cornelius traurig.

»Ich mir vielleicht bald auch nicht mehr«, gestand Kay schneller, als sie ihre Zunge kontrollieren konnte. Verfluchter Cocktail! Böser Alkohol!

»Ach?«, horchte Cornelius auf. »Weshalb denn?«

»Ich will das nicht mehr machen. Es macht mich kaputt.«

Wow. Zwei kleine Sätze, mehr nicht. Wie leicht sie ihr von den Lippen gegangen waren. Bis gerade hatte sie sich diesen Fakt nicht einmal selbst richtig eingestehen können, ohne vorher wochenlang an die Decke ihres Raumschiffes zu starren und sich selbst zu hassen. Und jetzt, bei einem besoffenen Fremden, offenbarte sie sich, einfach so.

»Ah, verstehe.« So wie er es sagte, war ihr klar, dass er rein gar nicht verstand. »Und was wollen Euer Gnaden jetzt machen?«

»Das weiß ich noch nicht. Es ist nur, dass …«

Sollte sie ihm das jetzt auch noch sagen? Andererseits – sie würde diesen Idioten sowieso nie wiedersehen und Cornelius wäre morgen viel zu verkatert, um sich noch an irgendetwas zu erinnern. Warum also eigentlich nicht? Ach, scheiß drauf. Das war die perfekte Gelegenheit, sich das alles von der Seele zu reden.

»Mein letzter Auftrag war furchtbar. Wirklich furchtbar. Ich meine, ich werde oft zu fragwürdigen Aktionen angestellt, ich bin einiges gewohnt. Du willst gar nicht wissen, wie oft ich tote Mädchen für Männer … ach, lassen wir das, ich schweife ab.« Wenn ihr Auge nur nicht so sehr schmerzen würde. Wieso wurde das immer schlimmer? Die Sicht in diese Welt und hinter den Schleier wechselte laufend, als stände sie mitten auf einem Feld voller Toter. Aber sie war doch nur in dieser abgeranzten Kneipe. Was ging hier vor sich? Kay kniff das Auge zusammen, um den flackernden Bildern zu entkommen, die sich immer mehr mit der Bar vermischten. »Was ich erzählen wollte: Ich wurde von einem Ultrareichen auf einen der Exoplaneten gerufen.«

Mehr konkrete Daten durfte sie nicht nennen, aber wenn Cornelius nicht ganz abgeschottet vom Weltgeschehen lebte, dürfte er mitbekommen haben, dass auf den bitterarmen Exoplaneten wertvolle Rohstoffe lagen, die mit dreckigem Blut geborgen wurden.

»Ich habe ein Meer aus Toten wiederbelebt. Man sagte mir, um Rohstoffe abzubauen. Billige Arbeiter, du verstehst schon. Tatsächlich …« Kay holte tief Luft. Die folgenden Worte auszusprechen, fiel ihr schwer: »… tatsächlich missbrauchte der Ultrareiche meine Fähigkeiten auf schändliche Weise. Nachdem ich ihm die Gewalt über die Toten übertragen hatte, befahl er ihnen, dass sie jeden Überlebenden ihres Volkes, der sich noch irgendwo versteckte, aufspüren und töten sollte. Jeden Zeugen. Also all ihre eigenen Kinder, ihre Verwandten, ihre Liebsten. Sie wussten natürlich genau, wo sie sich verbargen. Und sie gingen los und taten, was man ihnen befahl. Ich stand hilflos daneben. Ich konnte nichts tun.«

»Hm. Das ist schlecht«, sagte Cornelius unsensibel. Mehr nicht.

»So kann man es auch bezeichnen«, brummte Kay.

In diesem Moment las der Barkeeper etwas auf dem Display, das an seiner Seite der Theke angebracht war. Er runzelte die Stirn und blickte zu einer fast zwei Meter großen Asiatin, die am Billardtisch beschäftigt war und so wirkte, als sollte man sie lieber nicht nerven.

»He, Nova!«, rief er lautstark hinüber. »Security-Jack meldet Probleme. Irgendwas ist bei den Docks im Argen. Die Meldung ist nicht eindeutig.«

Nova blickte auf, nickte und verließ eilig die Bar.

Eine der beiden haarigen Bedienungen, die exakt gleich aussahen, kam an den Tresen und stellte ungefähr zwölf Bierkrüge auf einmal ab, die an ihrem Fell festgesaugt gewesen waren. »Wenn die Meldung nicht eindeutig ist, bedeutet das immer die Sorte Probleme, die Überstunden verursacht.«

»Mach dir keine Sorgen, Mora«, sagte Virginio.

»Spar dir deine blöden Sprüche«, knurrte die Bedienung und schubste einen schwebenden Bierbrunnen vor sich her, während sie eine neue Ladung Bierkrüge mit sich nahm.

»Oh, oh! Probleme im Hangar«, brabbelte Cornelius wenig eloquent vor sich hin.

Am Tresen trat Schweigen ein. Kay wusste nicht, was sie erwartet hatte, wie ein völlig Fremder auf ihre Geschichte, die ihr den Schlaf raubte, reagieren würde. Aber wie gleichgültig Cornelius reagierte, brachte sie stark aus der Fassung. Vielleicht lag das Problem wirklich bei ihr, wenn sie sich das so zu Herzen nahm. Ganz offensichtlich würde jemand anderes keine zwei Gedanken an den Vorfall verschwenden und einfach weitermachen. Oder …

Cornelius fiel die Wollsocke aus dem Mantel und er versuchte sie wieder vom Boden aufzuklauben, ohne dabei den Barhocker zu verlassen, was sehr ulkig aussah.

… oder Cornelius war einfach zu besoffen, um eine tiefsinnige Reaktion zu haben. Vermutlich hatte er ihre Geschichte schon wieder vergessen und …

Roter Schmerz zuckte durch ihren Kopf. Kay stöhnte auf und presste sich die Hand auf’s Auge. Wieso bei allen Welten passierte ihr das hier und jetzt in einer Raumstation, weitab von Leichenhallen und Ausgrabungsstätten?

»Ha, ich hab sie!«, verkündete Cornelius neben ihr. Mit ihrem normalen Auge sah sie, wie er sich triumphal aufrichtete, um dann zu stutzen. »Geht es Euch nicht gut, Euer Gnaden?«

»Nein. Irgendetwas … stimmt nicht …« Kay hielt sich an der Kante des Tresens fest, um nicht vom Hocker zu kippen.

Ihr Nekromantenauge pochte und die Sicht auf diesem Auge zog sie immer weiter hinter den Schleier. Ihre Kräfte regten sich, ohne dass sie sie bewusst gerufen hatte.

»Ich verstehe nicht …«

Das Licht ging aus. Dann wieder an und ein Alarmläuten setzte ein.

Sämtliche Besucher der Kneipe hielten inne und sahen sich verdutzt an.

»Oh, oh! Das ist nicht gut«, sagte Cornelius sehr hilfreich.

»Ist das ein Feueralarm?«, fragte jemand.

»Nein«, sagte Virginio und trocknete sich die Hände ab. »Den Alarm hab ich noch nie gehört.«

Die beiden Bedienungen kamen angerauscht.

»Was machen wir jetzt?«

»Müssen wir evakuieren?«

Virginio tippte auf seinem Display herum. »Security-Jack reagiert nicht auf Anfragen!«

Ein Zischen, dann flog das Schott auf und eine Handvoll geleckter Typen in teuren Anzügen kam hereingestolpert.

»Hilfe!«, schrien sie. »HILFE!«

Cornelius sprang vom Barhocker auf. »Alfredo!«

»Aggressive Besucher im Ringkorridor«, teilte Security-Jack gelassen durch einen Lautsprecher in der Kneipe mit. Das trug nicht gerade zur Beruhigung der Gäste bei. Plötzlich redeten alle durcheinander.

Der Alarm setzte sich derweil fort und wurde nun durch ein Uuuuhweeehhh-Uuuuuhhhweeeeh ergänzt.

»Er will meine Maden!«, schrie Cornelius.

»Tote!«, schrie einer der Typen zurück. »Lebende Tote! Im Korridor!«

»Tote?« Ein alter Terraner mit beeindruckendem Schnauzbart blickte von seinem Bierkrug auf. »Doch nicht etwa meine toten Gulgolianer?« Das musste der Bestatter sein, der vor ihr gelandet war. Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Nee, nee, die sind völlig hinüber«, beantwortete er sich selbst mit schwerer Zunge seine Frage. »Das kann nicht sein. Geht mich bestimmt nix an.« Er wandte sich wieder seinem Bierkrug zu.

Niemand außer Kay achtete auf ihn. Alles drang wie durch Watte zu ihr durch.

Tote. Lebende Tote.

Das konnten nicht die Leichen des Bestatters sein, völlig ausgeschlossen. Außer sie hatte gerade eben … ohne es zu wollen …

Oh Scheiße.

Endlich fiel die Schockstarre von ihr ab und sie sprang von ihrem Barhocker. »Hier muss etwas sein. Etwas, das meine Kräfte aktiviert und verstärkt.«

Niemand achtete auf sie, außer dem Bestatter, der schützend seinen Bierkrug umarmte.

»Alfredo will meine verdammten Maden klauen!«, kreischte Cornelius panisch, der auch nicht zuhörte. Zur Selbstverteidigung riss er seinen Barhocker hoch und hielt ihn wie eine Waffe vor sich, die langen Stuhlbeine auf den blonden Typen gerichtet, der quer durch die Kneipe sprintete und nur »TOTEEE! LEBENDE TOOOOOTEEEE!«, brüllte. »Tut doch was!«

Falls dieser Alfredo wirklich wegen Cornelius’ Maden hier war, schien er nun andere Probleme zu haben.

Aus dem Korridor drang Gepolter und Novas Stimme. Sie fluchte lautstark.

»Aggressive Besucher im Ringkorridor«, erklärte Security-Jack weiterhin mit aller Seelenruhe durch den Lautsprecher. »Aggressive Besucher im Ringkorridor.«

Langsam brach doch Panik bei den Besuchern aus, die offensichtlich nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen waren.

»Aaaaaah!« Cornelius ging mit dem Stuhl auf Alfredo los. Dieser ging unvorbereitet mit einem kläglichen Japsen zu Boden.

Welcher persönliche Racheakt für Cornelius hier gerade auch im Gange war, Kay hatte keine Zeit, ihn zu verfolgen. Sie sah das alles durch einen wabernden Schleier roten Nebels. Ihr Kopf schmerzte, als würde er gleich implodieren. Ihre Kräfte entzogen sich völlig ihrer Kontrolle und strömten auf Cornelius zu, der wie wild mit dem Barhocker auf Alfredo einprügelte.

»Das ist für Heidi-Katharina!«

In seinem Mantel glühte etwas, das sie nur durch den Schleier sehen konnte. Vier kleine Kugeln, in die ihre Macht strömten und sie belebten.

Kleine Kugeln? Was hatte er in seinem Mantel gehabt, das sie wiederbeleben könnte? Da waren doch nur Knochen gewesen und …

Maden!

Cornelius schrie auf und stolperte rückwärts. Hektisch schälte er sich aus seinem Mantel und schmiss ihn zu Boden. »Hexerei!«, quiekte er.

Das Schott ging auf und ein zerfetzter Gulgolianer wankte herein.

»Virginio, schwing endlich deinen hübschen Hintern hier rüber und verriegele das Schott! Ich mache das bestimmt nicht alles alleine!«, rief Mora vom Eingang her, drosch mit einem Wischmopp nach dem Gulgolianer und beförderte ihn mit einem gekonnten Schubser zurück in den Korridor.

Virginio hechtete zur Wand und schlug auf einen Notfallknopf. Sofort schloss sich das Schott. Nun pochte es von außen dagegen. Natürlich. Die Toten versuchten, zu Kay zu gelangen, denn Kay war ihre Meisterin. Sie strömten deshalb in ihre Nähe.

Konzentrier dich!

Weder die Maden noch die lebenden Toten im Korridor waren der Selbstauslöser für Kays amoklaufenden Nekromantenkräfte, sie waren lediglich das Ergebnis. Was sie finden musste, war die Ursache.

Kay krabbelte auf ihren Barhocker und richtete sich auf. »ETWAS MUSS HIER SEIN!«, brüllte sie und fuchtelte mit den Armen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Endlich sah man zu ihr, endlich bemerkte man sie. »In diesem Raum! Hier muss etwas sein, etwas Altes, etwas MÄCHTIGES, was nekromantische Kräfte eskalieren lässt! Wir müssen es finden!«

Dong! Dong! Dong!, pochte es gegen das Schott.

»Führt jemand so etwas bei sich?«, fragte Kay mit erhobener Stimme.

Es gab keine eindeutige Reaktion auf ihre Anfrage. Eher panisches Gemurmel, weil ihr Nekromantenauge inzwischen für jeden sichtbar glühte.

»Oh Scheiße«, grunzte Alfredo vom Boden.

Cornelius stupste derweil mit einem abgebrochenen Stuhlbein seinen Mantel an.

Prompt leuchteten ungefähr vier kleine Lichtbälle darunter neongrün auf und stoben aus dem Mantel wie ein Schwarm Motten. Scherben glitzerten auf dem Boden, rund um den zerknitterten Stoff. Die Maden waren frei.

»DIE MADEN!«, kreischte Cornelius.

Nun schrien alle durcheinander und warfen sich zu Boden.

Dong! Dong! Dong!, rumste es immer wieder am Eingang.

»Aggressive Besucher im Ringkorridor«, warnte weiterhin der geduldige Security-Jack durch den Lautsprecher.

»Leute, ich könnte Hilfe gebrauchen!«, meldete sich Nova aus einem Lautsprecher hinter dem Tresen. »Die wollen mich beißen.«

Kay konnte nicht sehen, wo der Lautsprecher angebracht war, vermutlich hinter einer der Flaschen oder zwischen den Artefakten, die die Wände verschönerten, damit es hier drin nicht ganz so abgeranzt …

Moment!

Die Artefakte an der Wand.

Kay stieg vom Barhocker auf den Tresen, um besser sehen zu können.

Während alle von dem Schott zurückgewichen waren, raste Cornelius nun wie von Sinnen darauf zu. »Lasst mich raus! Lasst mich raus! Lasst mich raus!«

»Spinnt der?«, fragte Virginio, der hinter dem Tresen kauerte und dort gerade eine kleine Elektroschockpistole aus einer Schublade zog, was Kay von ihrem neuen Aussichtposten sehr gut sehen konnte. »Und was machen Sie da oben? Runter. Da fliegen Maden durch die Luft! Glühende Maden!«

»Ich weiß, die reagieren auf mich. Halb so wild. Die sind nur wiederbelebt, keine große Sache«, erklärte Kay ruhig. »Also eigentlich sind sie tot. Das ist zwar irgendwie eklig, aber ungefährlich.« Jedenfalls hoffte sie das.

Ihr Blick blieb am verglasten Schleimautogramm des berühmten Space-Tentakel-Rockstars Eddie Poe hängen, das in einem Rahmen zwischen den anderen Artefakten deutlich herausstach.

Es muss hier sein!

Sie hüpfte vom Tresen und rannte zur Wand. Doch sie war zu klein, deshalb krabbelte sie auf den nächsten Tisch und sprang von Tischplatte zu Tischplatte, stieß dabei Bierkrüge und Whiskeygläser zu Boden und schlitterte durch Wodkapfützen. Hier an den Wänden musste etwas hängen, ein Artefakt, ein Gegenstand, ein unscheinbares Etwas, von dem nie jemand bemerkt hatte, dass es magische Fähigkeiten besaß, weil in so einer Spelunke normalerweise keine Nekromanten verkehrten. Nur was war es? Wo war es, verdammt nochmal?

»Die Maden … sie sind verseucht!«, grunzte Alfredo. Dieser hatte sich endlich wieder aufgerappelt und schlug nun mit den Resten des zertrümmerten Barhockers nach einer schwirrenden Made.

»Das ist alles deine Schuld!«, brüllte Cornelius irgendwo hinter Kay Alfredo an. »Crandall ist nicht aufgetaucht! Und jetzt sterben wir wegen ein paar pestverseuchten Maden!«

»Pestverseucht?«, keuchte Virginio und riss die Augen auf.

Jetzt schrien alle und rannten in die Ecken der Kneipe, bewaffnet mit allem, was sie fanden. Der Bestatter zermatschte mit seinem Bierkrug eine Made auf dem Tresen und kicherte.

Und da sah Kay sie. Die Maske.

Sie war aus Holz, echtem Holz, wie es nur vor langer Zeit auf der Erde gewachsen war. Klein, nicht größer als ein Kindergesicht. Zwei Augenschlitze, faseriges Holz, bröckelig. Mit schwarzer Farbe waren Zeichen auf das Holz geschmiert. Verblichen. Schlicht. Unauffällig.

Eine Nekromantenmaske.

Kay riss sie von der Wand, schmiss sie zu Boden und sprang noch zusätzlich vom Tisch direkt auf die Holztrümmer.

Das Holz knackte und splitterte zu allen Seiten. Eine magische Druckwelle zischte durch den Raum.

Die Maden fielen zu Boden, ihr Glühen erstarb.

Das Pochen an der Tür verstummte.

Ihr Kopf implodierte. Der rote Schmerz rollte über Kay hinweg und riss sie mit sich.

Ihre Knie gaben nach und der Boden kippte ihr entgegen.

»Hör auf, mich mit diesem blöden Thema zu nerven! Ich kenne keine Erotik-Androiden, Susi!« Cornelius. Direkt neben ihr.

Kay schnappte nach Luft und öffnete die Augen.

Virginio grinste sie breit an. »Na also, da ist sie wieder.« Er verschwand aus ihrem Blickfeld.

Mit rasendem Herzschlag setzte sie sich auf.

In der Bar war es ruhig. In der Ecke spielten drei Trolle mit dem rauchenden Einhorn Billard, ein Bierbrunnen zockelte vorbei. Die meisten Tische waren besetzt. Mora kehrte mit trägen Bewegungen den Boden und gähnte, während ihr Zwilling an einem Tisch Gläser abräumte.

»Endlich aufgewacht?« Cornelius beugte sich zu ihr. Er klang erstaunlich nüchtern.

»Die Maden … die Toten … Alfredo … was ist passiert?« Als sie umgekippt war, war die Situation hier noch weniger friedlich gewesen.

»Die Toten sind wieder gestorben, als du bewusstlos geworden bist«, erklärte Cornelius. »Und die Lady da drüben hat Alfredo und seine Leute rausgeschmissen.« Er deutete zu Nova hinüber, die mürrisch an ihrem Flachmann nippte. »Die Maden sind leider zu Asche zerbröselt, als sich der Zauber gelegt hatte, was bedeutet, dass ich sie nicht mehr verkaufen kann.«

Das war normal. Gewebe zerfiel nach einem nekromantischen Akt. Die Gulgolianer hatten sicherlich eine ziemliche staubige Sauerei im Korridor hinterlassen. Sie fragte besser gar nicht danach.

»Das, äh, also … ich würde ja sagen, das tut mir leid, aber da die Viecher anscheinend verseucht waren, tut es mir gar nicht leid«, murmelte Kay und versuchte, sich zu ordnen. Sie saß auf dem Boden, ihr Körper tat weh, weil sie blöd gefallen war und … ihr Kopf war wunderbar leicht. Keine Schmerzen. Nur ein leichter Hauch von Schleier war durch ihr Nekromantenauge zu sehen.

Kay rappelte sich auf und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern. »Wieso bei allen Sternen der Galaxis hing hier eine antike Nekromantenholzmaske?«

Virginio, der nun hinter dem Tresen Scherben zusammenfegte, zuckte mit den Schultern. »Ach, das Zeug an den Wänden bringen Stammkunden mit, da kommt halt was zusammen über die Zeit.«

»Und die Maske, wo kam die her?«

»Keine Ahnung, die hing da schon, als ich hier angefangen habe.«

»Schien von der Erde und schon ziemlich alt zu sein.« Cornelius zuckte mit den Schultern. So nüchtern wirkte er richtig seriös, auch wenn er immer noch abgerissen aussah. »Solches Holz gibt es schon nicht mehr seit mindestens vier- oder fünfhundert Jahren.«

»Das heißt, hier hing unbemerkt all die Jahre ein wahnsinnig altes, nekromantisches Artefakt von ungeahnter Macht?«, fragte Kay ungläubig. »Die Maske muss unfassbar wertvoll gewesen sein.«

Virginio leerte die zusammengekehrten Scherben mit Schwung von der Kehrschaufel in den Mülleimer. »Hier hat sich jedenfalls nie eine Sau dafür interessiert.«

»Beim richtigen Käufer hätte das ein Vermögen eingebracht«, seufzte Cornelius.

Kay fühlte sich schwach auf den Beinen und ließ sich wieder auf ihren Barhocker plumpsen. »Na ja, die hab ich zertrümmert, da ist nichts mehr zu machen.« Sie fühlte sich nahezu euphorisch, nun, da die Gefahr überstanden war.

»Das habe ich inzwischen auch begriffen.« Cornelius ließ sich wieder neben ihr nieder.

Kay war eine erfahrene Nekromantin, aber wenn selbst sie die Kontrolle über ihre Kräfte in der Nähe dieser Maske verlor, was wäre erst geschehen, wenn dieses Artefakt in die völlig falschen Hände geraten wäre? Nein, es war gut so. Allerdings sagte sie das besser nicht laut, denn Cornelius schien beim Ausnüchtern in ein dunkles Loch gefallen zu sein.

»Und wieder ein miserabler Arbeitstag«, murmelte er gerade deprimiert.

»So übel war er doch gar nicht. Diesem Alfredo hast du es echt gegeben«, merkte Kay an und gestikulierte Virginio, dass sie gerne nochmal einen Cocktail hätte. Diesmal würde sie ihn auch austrinken und nicht nur auf den Boden kicken.

»Leider bin ich dafür aber nicht bezahlt worden«, merkte Cornelius an.

»Du brauchst eindeutig bessere Auftraggeber und Geschäftspartner.« Kay nickte mitfühlend. Nicht dass es ihr in naher Zukunft sonderlich besser ergehen würde als Cornelius. Noch hatte sie Geld, aber nicht mehr lange. »Der Markt ist echt unbarmherzig, wenn man allein ist.«

»Wem sagst du das?« Cornelius rieb sich die Augen. »Mein einziger Gesprächspartner ist meine KI, und die ist fürchterlich schnell beleidigt.«

»Ich hab seit Wochen mit niemand anderem als meiner KI geredet, also … ich kann’s verstehen«, gab Kay zögerlich zu.

»Ist deine auch immer gleich sauer?«

»Nein, aber Benedict bemuttert mich inzwischen. Wir wissen alle, was das heißt: Wir sind erbärmlich.«

»Das stimmt wohl.«

Virginio stellte ihr den Cocktail hin.

»Ihr solltet euch zusammentun«, meinte er und griff sich die Schnapsflasche, während er zu Nova hinüberging.

Kay lachte über seinen Witz und griff nach ihrem Glas. Dann hörte sie auf zu lachen und sah Cornelius an. »Warum eigentlich nicht?«

Cornelius nickte nachdenklich. »Eine Nekromantin und ein Archäologe? Könnte funktionieren.«

Das eröffnete ganz neue Möglichkeiten.

»Virginio, wir brauchen noch einen Drink. Aber keinen FiftyNiner.« Kay wartete, bis Cornelius das Glas zwischen den Fingern hatte und hob dann ihren Cocktail. »Auf uns, Geschäftspartner. Auf ganz neue Zeiten.« Sie stieß mit ihm an und wollte gerade trinken, als sie nochmal innehielt. »Aber in Zukunft ohne Maden.«

Sie tranken. Das darauf eintretende Schweigen war diesmal ganz und gar nicht unangenehm.

»Sag mal«, sagte Kay nach einer Weile, während sich ein wohliges Gefühl von Zugehörigkeit in ihr ausbreitete. »Was ich mich schon immer gefragt habe: Wie lange muss etwas tot sein, damit der Fund als Archäologie und nicht als Grabräuberei durchgeht?«

Waypoint FiftyNine

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