Читать книгу Tessiner Verwicklungen - Sandra Hughes - Страница 3
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ОглавлениеNoch war es in Merides Gassen angenehm kühl. Ein paar Bewohnerinnen und Bewohner nutzten den Morgen für einen frühen Spaziergang. Sie humpelten am Stock die enge Hauptstraße entlang, hielten einen Schwatz auf der Piazza Mastri. Andere gingen zielstrebig ihrem Tagwerk nach, auch der alte Savelli. Wie immer war er der Erste, der die kleine Spaghettifabrik an der Via Ercole Doninelli 7 betrat. Sie lag neben seinem Haus am östlichen Ende des Dorfes. Von da an zogen sich Reben am sanften Hang entlang, führte die kunstvoll gepflasterte Straße zur Cappella del Beato Manfredo, die nach einem Adligen aus Mailand benannt war, der vor 800 Jahren hier auf dem Tessiner Berg gelebt hatte. Aber für selige Einsiedler hatte der alte Savelli keinen Blick. Er wollte, wie jeden Tag, »ein wenig nach dem Rechten sehen«, wie er sagte, das Rührwerk mit einem feuchten Lappen reinigen, danach den Teig ansetzen. Er richtete die Säcke mit Hartweizengrieß in einer Linie aus, setzte im engen Büroraum den Ventilator in Gang, damit die Hitze des Julitages gar nicht erst eindringen konnte. Ging die Gestelle im Trockenraum durch, die mit goldenen Spaghettischnüren behangen waren, wedelte sie sanft ein wenig durch. Wechselte in den Kühlraum hinüber. Er öffnete die Tür, betätigte den Lichtschalter, blinzelte, als es neongrell aufblitzte. Dann sah er sie, die Gestalt am Boden. Die Haare büschelweise auf den blanken Fliesen. Antonio schrie, so laut er konnte, mit seinen 82 Jahren und einer Lunge, die von zehn Brissago originale täglich geteert war.
Auch die Tochter des alten Savelli, Alessia Bernasconi-Savelli, war früh unterwegs. Sie keuchte die Via alla Campagna entlang, links plätscherte der Spinirolo vor sich hin. Heute hatte sie die Route im Tal gewählt, um ihre Knie zu schonen. Sie rannte mit glühenden Wangen. Das T-Shirt klebte an ihrem Rücken. Der Schornstein der ehemaligen Ölfabrik schob sich in ihr Blickfeld. Wenn er auftauchte, dauerte es noch fünf Minuten, dann hatte sie ihr morgendliches Laufpensum zur Hälfte hinter sich gebracht. Sie erreichte die Gebäude, die von Zäunen umgeben waren. »Ca.Stella« stand auf grün-weißen Tafeln geschrieben. Niemand in Meride wusste genau, was sich dahinter verbarg. Die einen sprachen von einem »Münchner Club«, der hier ein Aussteigerzentrum gründen wollte, so wie die deutschen Künstler und Esoteriker damals auf dem Monte Verità bei Locarno. Andere hatten eine Limousine mit Comer Kennzeichen beobachtet und hinter dunkel getönten Scheiben George Clooney erkannt, der sich nach einer sicheren Residenz im Mendrisiotto umsah. An diesem Morgen zeigten sich ein Esel und eine Ziege. Auf den Hund war Alessia gefasst, trotzdem erschrak sie jedes Mal, wenn sich das Tier kläffend gegen den Zaun warf. Ihr Herz raste. In fünf Minuten konnte sie zurück zu ihrem Haus rennen, dort die Tür mit Absicht laut zuschlagen, damit Francesco oben in seinem Zimmer aufwachte. Falls er überhaupt zu Hause war.
Sie presste die Zähne zusammen, blies zischend Luft aus. Es gab ihr jedes Mal einen Stich, wenn sie sich das Bild vor Augen rief: Francesco, ihr Ehemann seit zwölf Jahren, der allein in dem Zimmer lag, das einst das Kinderzimmer hätte werden sollen. Sie einsam im großen Ehebett. Drei Meter Korridor und zwei geschlossene Türen zwischen ihnen. Ihr Herz zog sich zusammen. Sie versuchte, tief Luft zu holen. Nicht langsamer werden. Kalorien verbrennen. Die Verzweiflung auspusten, die ihr die Kehle zuschnürte. Bei der Cappella Madonna di Loreto wendete sie und lief zurück Richtung Dorf. Schon von Weitem sah sie ihren Bruder. Er stand vor ihrem Haus und schlug wie ein Besessener mit der Faust gegen die Tür.
»Luigi?«
Er fuhr erst herum, als sie ihn an der Schulter fasste. Sein Gesicht war verzerrt.
»Sie ist tot!«
Sie ist tot. Mamma? Der Satz löste in Alessia eine Frage aus, die völlig absurd war. Ihre Mutter war vor vierzig Jahren gestorben, als sie selbst zwei Jahre alt war. Die Frau, die tot war, war für Alessia mamma. Immer schon. Aber jetzt war jemand anderes gestorben.