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Emma wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der künftige Sitzplatz von Karins Rustico lag zwar im Schatten von Hopfenbuchen und Eichen, aber heiß war es trotzdem. Sie erhob sich, streckte den schmerzenden Rücken durch. Sah sich um, wieder erstaunt darüber, dass es solch stille Orte fernab von allem noch gab, samt Zufahrt bis zum Haus. Emma war den Schildern bis »La Perfetta« gefolgt, einem Betonklotz, der sich als Schul- und Ferienzentrum erwies, das einem Gefängnis gleich auf einer Anhöhe über Arzo lag, und von da aus über einen halb verwachsenen Waldweg geholpert, im Zweifel darüber, hier je irgendeine Spur menschlichen Lebens zu finden. Aber dann kam sie, die kleine Lichtung.

Karin hatte sie entdeckt, als sie ihren Traum vom Rustico im Tessin verwirklichen wollte. Als Ferienhaus zunächst, aber schon damals mit dem Wunsch, im Sommer und Herbst dort wohnen zu können. Wochenende für Wochenende war sie mit dem Auto auf der Suche gewesen, vor allem im Mendrisiotto, ganz im Süden des Tessin. Die horrenden Preise von Anbietern im Internet überstiegen ihre finanziellen Möglichkeiten. Aber den damals halb verfallenen Stall hatte sie erwerben können. Das war vor fünf Jahren gewesen. Nach und nach hatte Karin ihn in ein bewohnbares Häuschen umgebaut. Ohne weinüberrankte Pergola und Schiefertisch, ohne Blick in die Ferne, dafür mit Waldschatten, offener Feuerstelle und Mosaiken.

»Du fährst in die Sonnenstube der Schweiz?«, hatte Emmas Kollege Alex gespottet, als sie letzte Woche beim Pausenkaffee saßen. »Zu den deutschen Pensionären? Kampierst zwischen ihren fetten Eigentumswohnungen und Villen?«

Er hatte über die dreitausend Deutschen gelästert, die für immer dort lebten, in Ascona nach einem »Eis« statt nach gelato verlangten, »Tschianti« tranken und sich im Paradies breitmachten.

»Die haben es gut«, hatte Emma gesagt. »Du wirst es dir nie leisten können, in einer Villa mit Blick auf den Lago Maggiore zu wohnen. Mit deiner Pension. Nicht mal am Schattenhang über dem Vierwaldstättersee.«

Alex’ wütender Blick befeuerte sie.

»Zudem gibt es im Tessin auch Deutsche, die arbeiten, als Koch oder Yogalehrer. Oder Professorin. Und: Kann man das Paradies nicht einfach teilen? Auch wenn man Alex heißt und dauernd findet, einem werde etwas weggenommen?«

Der Kollege hatte nichts mehr gesagt. Emma musste grinsen, als sie sich an ihr Gespräch erinnerte.

»Sonnenstube der Schweiz«, murmelte sie und schaute sich wieder auf der wilden Waldlichtung um. »So ein Blödsinn.«

Ihr Magen knurrte. Seit dem Frühstück hatten Karin und sie pausenlos gearbeitet. Sie hatten Karins Skizze auf den Untergrund übertragen, und Emma hatte die Flächen markiert. Schwarz und weiß. Viele Variationen gab es nicht bei diesem Motiv. Sie ließen alles gut trocknen. Danach hatte Emma den Einbettungsmörtel vom Zentrum des Bildes her aufgetragen. Immer nur so viel, dass Karin die Mosaiksteine eindrücken konnte, bevor er aushärtete. Fasziniert hatte sie zugesehen, wie schnell und präzis Karin die kubischen Steinchen setzte, wie bestimmt sie anschließend das Brett auf die Fläche presste, um die Teilchen flach auszurichten. Wenn sie selbst an der Reihe war, dauerte das alles länger. Karin hatte die Mörtelflächen verkleinert und Emma zugelächelt. Sie schien sich von der Überraschung, dass Emma sich kurzfristig als Gast angekündigt hatte, erholt zu haben. Das gemeinsame Arbeiten war angenehm. Sie dienten einander zu, ohne viele Worte, wie im Workshop vor einem Jahr, als sie sich kennengelernt hatten. In der Mittagspause damals hatte Karin allein draußen auf dem Rasen gesessen, alle anderen waren gemeinsam ins Restaurant aufgebrochen. Emma hatte zwei Klappstühle aus ihrem Bus geholt, sie hatten beide Salat aus ihren Lunchboxen gegessen, sich über Mosaikkurse und die Pläne, die Karin für ihr Rustico hatte, unterhalten.

»Komm doch vorbei«, hatte Karin gesagt. »Wenn du mal in der Gegend bist!«

Das ließ Emma sich nicht zwei Mal sagen.

»Non è possibile!«, hörte sie nun Karin im Haus rufen.

Offenbar gab es einiges zu besprechen. Karins Handy hatte geklingelt, und nun war sie schon seit Längerem verschwunden. Emma ging zur Liege, die neben einem Tisch und zwei Stühlen halb im Wald stand. Sie trank Wasser, nahm sich eine Tomate aus der Schale, ließ sich auf die Liege fallen. Rubio war schon da. Er erhob sich, legte seinen warmen, schweren Kopf auf ihre Beine. Emma kraulte ihn. Er stupste sie, wenn sie aufhörte, das immer gleiche Spiel. Sie schreckten beide auf, als Karins Stimme über ihnen ertönte.

»Stefanie wurde ermordet!«

Emma sprang so schnell hoch, dass ihr kurz schummrig wurde.

»Stefanie? Die Stefanie von der Führung?«

»Ja, sie.«

»Wer sagt das? Mit wem hast du telefoniert?«

»Mit Valeria. Einer Bekannten aus Meride.«

Karin unterdrückte ein Schluchzen. Emma legte ihr den Arm um die Schultern. Ihre Gedanken rasten. Stefanie Schwendener. Die junge Frau, die sie am Tag zuvor durch die Spaghettifabrik geführt hatte, ermordet?

»Wie ungerecht«, murmelte Emma.

Das war immer ihr erster Gedanke. Schon als Kind fand sie vieles ungerecht. Dabei hätte sie wegschauen können, wie alle anderen. Was musste es sie kümmern, wenn eine Klassenkameradin verprügelt wurde? Die war selbst schuld, hatte ihr loses Maul zu weit aufgerissen, Gift versprüht gegen die Bande von Jungs. Andererseits war sie so ein zartes blondes Wesen. War es gerecht, wenn sich vier brüllende Kerle auf sie stürzten? Nein. Also warf Emma sich dazwischen. Und was hatte sie damit zu tun, dass der Klassenbeste einer mit Brille, abstehenden Ohren und Sommersprossen war? Nichts. War es gerecht, dass niemand mit ihm sprach? Dass sich alle mit einem Schulterzucken abwandten, wenn er das Wort an sie richtete? Emma hörte ihm zu, auch dann noch, wenn sich der Pausenhof längst geleert hatte. Als Emma verkündete, dass sie später einmal Kriminalkommissarin werden wollte, um die Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen, hatte ihr Vater gelacht. So auch Fräulein Huber, die Grundschullehrerin, bei der sie ihre Berufswünsche zeichnen mussten. Emma hatte sich eine Polizeimütze auf die wilden Locken gesetzt, eine Pistole in jeder Hand, von klobigen Fingern umfasst. Sie war bereit, das Böse zur Strecke zu bringen. Sollten die lachen, so viel sie wollten.

Seit einer Weile schon ging Emma hin und her, von Rubio schwanzwedelnd begleitet. In ihrem Hirn ratterten die Gedanken. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Einmal Ermittlerin, immer Ermittlerin, auch in den Ferien.

»Warum tötet jemand eine nette, hübsche Kindergärtnerin aus Oberwil, die nebenberuflich als Reiseleiterin im Mendrisiotto arbeitet?«

Karin reagierte nicht. Sie saß mit blassem Gesicht am Tisch und nippte an dem Wasserglas, das Emma ihr gereicht hatte.

»Wo wohnte sie?«, fragte Emma.

»Am Dorfeingang.«

»Bei der Spaghettifabrik?«

»Nein. Am anderen Ende. Dort, wo das Postauto hält. In dem kleinen Eckhaus mit der schönen Steinfassade.«

Emma wusste nicht, welches Eckhaus. Schöne Steinfassaden gab es hier einige, aber die Haltestelle hatte sie gesehen, »Meride Paese«. Eine Gruppe von rotgesichtigen Deutschschweizern hatte auf der Bank gesessen, die karierten Hemden nass geschwitzt, die Sprüche lahm nach einem oder zwei Bier.

»Zur Miete?«

»Ja. Das Haus gehört den Peverellis.«

»Warst du mal bei ihr?«

Karin schüttelte den Kopf.

»Wie gut kanntest du Stefanie?«

»Sie hat mir ein bisschen geholfen«, sagte Karin und deutete auf das Haus. »Auch mit dem Mosaik bei der Tür.«

Sie verbarg das Gesicht in den Händen. Emma setzte sich neben sie, legte einen Arm um sie.

»Wann war das?«

»Im April.«

»Komm, trink mehr Wasser«, sagte Emma, schenkte nach und schob das Glas sanft gegen Karins Arm. Sie drückte Karin erneut und erhob sich.

»Später erzählst du mir alles, was du über Stefanie weißt.«

Emma versuchte, ihre Erinnerung an die Führung in der Fabrik nochmals durchzugehen. Karin hatte den Ausflug vorgeschlagen und sie angemeldet. Montag, elf Uhr, wenn die Tour durch die Spaghettifabrik Savelli in deutscher Sprache angeboten wurde.

»Italienisch geht auch«, hatte Emma gesagt. »Eigentlich lieber auf Italienisch.«

Keiner traute ihr diese Sprache zu. Jeder riss die Augen auf, wenn sie loslegte, Emma Tschopp, geborene Bellucci. Karin hatte ihren Wunsch überhört, und so waren sie zusammen mit sieben weiteren Interessierten von Stefanie Schwendener in deutscher Sprache mit Basler Dialekt begrüßt worden. Eine zierliche Frau, Emma schätzte sie auf etwas über dreißig. Sie hatte ein hübsches Gesicht, helle Haut, rotes, schulterlanges, glattes Haar. Zurückhaltende Gesten, eine angenehme Stimme. Sie gab kompetente Erklärungen zum Produktionsprozess, ließ den Gästen genügend Zeit, sich selbst umzusehen. Emma war lange auf dem kleinen Steg gestanden, zwei Meter über dem Rührwerk. Es mischte Wasser und Hartweizengrieß, frei von Gentechnik und regional, wie Stefanie Schwendener betonte. Es schlug und knetete, verwandelte die kargen Zutaten in eine blassgelbe, zäh wabernde Masse, die sich aufbäumte und zusammensackte. Herrscher über das Rührwerk waren der Patron und Dante Savelli, der älteste Sohn. Der Mann mit weißem Arbeitskittel und Haarnetz hatte, der Gruppe den Rücken zugewandt, Spaghettischnüre auf dem Band geordnet. Laut Stefanie Schwendener wusste Dante noch besser als sein Vater, wie das Herzstück der Firma zu behandeln war. Einmal im Jahr zerlegte er das Rührwerk in seine Einzelteile, schrubbte und spülte, ölte und setzte alles wieder so zusammen, dass es für weitere zweitausend Stunden funktionierte.

»Er ist Historiker und Doktor der Philosophie«, flüsterte Stefanie Schwendener verschwörerisch, als der leicht gebückte Mann Richtung Trockenraum ging. »Er ist auch schon im Fernsehen aufgetreten.«

Emma hatte ihm erstaunt hinterhergesehen, während der Gruppe das nächste Mitglied dieser Familie vorgestellt wurde, die nur eines kannte, wie Stefanie Schwendener wiederholt versicherte: gemeinsam für Qualität einstehen.

»Francesco Bernasconi, er ist eingeheiratet«, sagte sie und gab dem Mann ein Zeichen, damit er ein paar Begrüßungsworte sagen konnte. Holpriges Deutsch, aber sehr charmant. Er war nebst dem Trocknungsprozess für das Schneiden der Pasta zuständig.

An der Schneidemaschine betätigte sich auch der Patron. Emma hatte ihn zuvor draußen eine Zigarre anzünden sehen, eine Krumme, die sie aus den Friedrich-Glauser-Filmen mit Wachtmeister Studer kannte. Der alte Savelli hatte mit geübter Geste den Grashalm herausgezogen und ein Stück der Spitze entfernt. Jetzt in der Fabrik streifte er sich dünne Gummihandschuhe über seine nikotingelben Finger. Danach schwang er die Klinge, wischte die halbierten Spaghettischlaufen resolut in Kistchen, mit Routine und Konzentration, ohne sein Publikum zu beachten. Er war groß, kräftig gebaut und sah aus wie die ältere Ausgabe seines Sohnes Luigi. Dem Zweitgeborenen waren sie zu Beginn der Führung begegnet. Er hatte sie vor der Weltkarte als Geschäftsführer begrüßt und die Firmengeschichte in ein paar Sätzen umrissen. Als Basis für den Erfolg pries er die Familie, arbeitsame Menschen, vor drei Generationen aus Kalabrien eingewandert. Migranten, die etwas wollten: Geld verdienen, nicht bloß überleben. Dann war er in einem winzigen Büro verschwunden. Im Packraum arbeitete Alessia Bernasconi-Savelli, Tochter des Hauses und Frau von Francesco. Sie lächelte der Gruppe freundlich zu und füllte von Hand Pasta in Tüten. Spaghetti und Penne, immer zu tausend Gramm. Sie verschloss die Tüten sorgfältig, ordnete sie in Kisten, die gestapelt auf den Transport zu jenen warteten, die sie in feinen Restaurants zu Gerichten mit schönen Namen verkochten.

Applaus. Damit endete die Führung.

Was hatte Stefanie Schwendener gesagt, als sie im Anschluss noch ein wenig geplaudert hatten? Als sie gefragt wurde, ob sie als eine aus der Deutschschweiz, als »Zücchina«, mit Feindlichkeiten seitens Einheimischer konfrontiert sei? So, wie es immer behauptet wurde?

»Noch nie«, hatte Stefanie Schwendener gesagt. »Es sind alle so nett hier.«

Wie man sich täuschen konnte.

Tessiner Verwicklungen

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