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ОглавлениеEmmas Kollege Alex rief an, als sie mit Karin und Rubio im Campingbus nach Meride unterwegs war. Karin hatte darauf bestanden, mitzukommen. Emma hatte nachgegeben, ihr aber das Versprechen abgenommen, sich von jemandem aus dem Dorf zurück zum Rustico fahren zu lassen oder ein Taxi zu nehmen, wenn ihr alles zu naheging. Sie hatten eben die Brauerei Maitri Beer hinter sich gelassen, und Emma hatte sich gewundert, weil sie Bier und das Tessin bisher noch nie zusammengebracht hatte.
»Störe ich dich?«, dröhnte eine Männerstimme durch den Bus, so laut, dass Karin auf dem Beifahrersitz zusammenzuckte.
»Aber nein, lieber Alex«, sagte Emma und drehte die Freisprechanlage etwas leiser. »Ich habe auf deinen Anruf gewartet.«
»Ach ja?«, sagte Alex, nun etwas misstrauisch. »Es tut mir leid, dass ich dich in deinen Ferien stören muss. Du bist doch im Tessin, richtig?«
»Richtig. Bei den Sportplätzen von Arzo. Hier spielen Mädchen Fußball, Alex, sehe ich eben. Bei euch im Club auch?«
Sein Gesicht lief jetzt rot an, sie wusste es und grinste. Er gab sich Mühe, freundlich zu bleiben.
»Wie gesagt. Es tut mir leid, dich in deinen Ferien zu stören, aber …«
»Geht es um die Kindergärtnerin aus Oberwil?«
Stille. Das gab zwei Punkte für Emma. Sie wartete.
»Du bist …?«
»Informiert, genau. Ich bin unterwegs zum Tatort.« Emma grinste immer noch vor sich hin. Noch zwei Punkte.
Alex fasste sich und schluckte alle Fragen herunter. Wie Emma es liebte, schneller als er zu sein.
»Das Opfer war zuletzt in Basel-Landschaft wohnhaft. Presser lässt fragen, ob du unseren Teil übernehmen und vor Ort nach dem Rechten schauen kannst.«
Ach, Alex. Falsches Spiel. Das war seine eigene Idee. Ihrem Vorgesetzten hatte sie nie gesagt, dass sie Ferien im Tessin machte.
»Dir würde es hier gefallen«, sagte Emma. »Jede Menge Rindsbraten und Ossobuco. Sogar lokales Bier haben sie. Artigianale.«
Stille.
»Die Überstunden werden mir ja alle ausbezahlt«, sagte Emma.
Alex seufzte.
»War ein Scherz.«
»Es würde die Sache vorantreiben, wenn du übernimmst.«
»Ja«, sagte Emma. »Es geht bestimmt schneller, als wenn du kommst.«
Zwei Punkte dazu. Sechs zu null für sie.
»Und wir schonen Ressourcen, gerade in diesen Zeiten«, sagte Alex. Er tat oft so, als würde er sie nicht hören. »So ein Zufall aber auch, dass du dort Ferien machst.«
»Die Ferien sind jetzt vorbei.«
»Dann übernimmst du?« Wie erleichtert er klang. Sie hätte ihn noch ein wenig zappeln lassen müssen.
»Mein Kontakt hier?«
»Commissario Bianchi vom Commissariato Lugano. Oder Chiasso. Die sind dort ganz anders organisiert, aufgeteilt nach Region. Wir haben telefoniert. Ich schicke dir seine Koordinaten.«
»Weiß er, dass ich komme?«
»Nein«, sagte Alex. »Ich wollte zuerst Rücksprache mit dir halten.«
Ein Punkt für Alex.
»Wurden die Angehörigen bereits informiert?«
»Der Vater ist zusammengebrochen, die Mutter betet.«
»Oh Gott«, sagte Emma. »Wer betreut sie?«
»Gaby.«
»Sehr gut. Geschwister, Partner, Kinder?«
»Keine.«
»Anstellungsbehörden?«
»Kindergarten und Primarschule Oberwil. Seit April hat sie unbezahlten Urlaub, geplant war er bis Ende Oktober.«
»Um was zu machen?«
»Laut Aussage der Mutter war sie von einem Ferienaufenthalt im Tessin im Oktober so begeistert gewesen, dass sie unbezahlten Urlaub genommen hat, um zurückzukehren.«
»Was hat sie so begeistert? Warum Meride?«
»Die Mutter hat keine Ahnung.«
»Hmm«, sagte Emma.
»Wir legen alle Informationen zum Fall ab. Du hast ja Zugang.«
Alex wusste genau, dass sie ihren Dienstcomputer immer bei sich hatte, für alle Fälle.
»Diesem Commissario«, sagte Emma, »kannst du schon mal ankündigen, dass ich mich bei ihm melde. Was ist er für einer?«
»Was weiß ich?«, brummte Alex. »Ein Beamter aus dem Tessin halt.«
»Bestimmt so ein richtiger Commissario mit dunklen Tränensäcken und zu enger Uniform.« Emma kicherte. »Er kämpft gegen einen wachsenden Bauch und Frauen im Dienst.«
»Ich habe dir den Kontakt geschickt. Mach’s gut, wir hören uns«, sagte Alex und legte auf. Er hatte erfolgreich delegiert, für ihn war die Angelegenheit erledigt.
»Aber gern«, sagte Emma ins Nichts. »Auch dir vielen Dank.«
Es war nun wieder still im Bus, nur Rubio grunzte im Schlaf. Emma ging die Informationen nochmals durch. Gut, dass Gaby den Fall betreute. Sie war die Beste im Care Team.
Emma sah eine betende Mutter vor sich, den verzweifelten Vater.
»Die armen Eltern«, murmelte sie. Und zu Karin gewandt: »Kanntest du sie?«
»Nein.«
»Erzähl mir von Stefanie.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir haben bloß dieses Mosaik zusammen gemacht. Und sie hat die Eingangstür abgeschliffen und gestrichen.«
»Woher kennt ihr euch?«
»Sie war bei mir im Nähkurs.«
Die Stimme klang, als würde Karin gleich wieder anfangen zu weinen.
»Du gibst Nähkurse?«
Emma realisierte, dass sie von ihrer Gastgeberin nicht viel mehr wusste, als dass diese ebenso leidenschaftlich gern Mosaike legte wie sie selbst. Karin nickte, Emma sah es aus dem Augenwinkel. Sie fragte noch ein bisschen weiter, und den knappen Antworten entnahm sie, dass Stefanie Schwendener im letzten September einen Kurs von Karin in Basel besucht hatte. Karin hatte ursprünglich Schneiderin gelernt, bevor sie dann über viele Weiterbildungen in der IT gelandet war. Sie wollte zurück in ihren ersten Beruf. Deshalb hatte sie begonnen, Nähkurse anzubieten. Ihr längerfristiger Wunsch war, davon leben zu können: Kurse im Winter und Frühling in Basel, wo sie wohnte, im Sommer und Herbst im Rustico bei Arzo.
»Du bist mutig«, sagte Emma. »Beginnst einfach mit etwas Neuem. Das würde ich nie wagen.«
Karin schwieg.
»Wann hast du mit Stefanie das Mosaik gelegt?«, fragte Emma. »Im April, hast du vorhin gesagt, richtig?«
»Ja.«
»Als Stefanie im September bei dir im Nähkurs war, wollte sie da schon nach Meride? Hat sie dir von ihren Plänen erzählt?«
Stille.
»Karin?«
Emma blickte kurz zu ihr hinüber. Karins Lippen zitterten.
»Oh nein«, sagte Emma. »Hast du Stefanie auf die Idee gebracht, nach Meride zu kommen?«
»Ich habe ihr doch nur davon erzählt.« Karins Stimme versagte.
»Und dann hat sie im Oktober hier Ferien gemacht. Bei dir?«
Karin schüttelte den Kopf. »Auf dem Campingplatz«, presste sie hervor, dann schluchzte sie auf. Emma legte ihr die Hand auf den Arm, so gut es ging beim Fahren.
»Es ist nicht deine Schuld, Karin. Du hast nichts mit dem zu tun, was geschehen ist.«
Die restlichen Kurven bis Meride weinte Karin still vor sich hin, während Emma tröstende Worte murmelte und versuchte, ihren Bus mit einer Hand zu steuern.
Emma parkte auf dem parcheggio bei der Mehrzweckhalle von Meride, suchte Münzen für den Parkautomaten. Karin wischte die Tränen weg, schnäuzte nochmals und schlug den Vorschlag von Emma aus, bei einem Kaffee auf sie zu warten, damit sie sich erst mal ein bisschen fassen konnte.
»Ich komme mit«, sagte sie. »Wohin gehen wir?«
»Zur Fabrik«, sagte Emma und speicherte die Nummer des Commissario in ihrem Handy. »Aber zuerst zeig mir bitte das Haus, in dem Stefanie Schwendener gewohnt hat.«
Rubio schien begeistert von all den Hunden, die den Parkplatz vor ihm besucht hatten. Er war kaum mehr von der kleinen Rasenfläche wegzubringen. Schließlich setzte sich Emma durch, und sie gingen die Kurve entlang zur Postautohaltestelle hoch. Karin wies stumm auf ein kleines Eckhäuschen, ein Zimmer breit, wie von Kinderhand aus schönen Steinen geschichtet, Erdgeschoss mit Tür und Fenster, im ersten Stockwerk ein zweites Fenster. Der vorgelagerte Torbogen war mit Quadern verziert, der sich dahinter erstreckende Hof mit weiteren Häusern ließ kühle Loggien erahnen. Niemand war zu sehen.
»Später«, murmelte Emma und widerstand der Versuchung, den Hof zu betreten. »Wo geht’s da hoch?« Sie deutete auf die steile Gasse, die rechts am Torbogen vorbeiführte.
»San Silvestro. Kirche und Friedhof«, sagte Karin.
Sie gingen die Hauptstraße entlang, die keine Straße war, sondern eine Gasse. So breit wie eineinhalb Autos, an manchen Stellen ein bisschen breiter, sodass zwei Fahrzeuge knapp aneinander vorbeikamen. Seit Emma letzten Sommer mit ihrem Bus an einer Mauer entlanggeschrammt war, wegen eines Idioten auf der Gegenfahrbahn, der ihre Spur geschnitten hatte, hörte sie das Kreischen von Metall auf Beton, wenn sie solchen Manövern nur zusah. Aber die Frauen und Männer von Meride hatten ihre Steuer im Griff. Sie wechselten ein paar Worte von Autofenster zu Autofenster, während sich Touristinnen an Hauswände drückten und Radfahrer im Neondress auf ihre Zähler am Handgelenk sahen. Schon wieder ein Hindernis, das ihr Tagesziel beeinträchtigte. Emma, Karin und Rubio ließen das Museo dei fossili di Meride und das Gemeindehaus hinter sich. Gleich danach öffnete sich vor der Kirche San Rocco die Piazza Mastri. Ein geteerter kleiner Platz mit einem Brunnen, auf zwei Seiten von Häusern umgeben, ganz vorne von einer Mauer begrenzt, sodass man sich bequem aufstützen und auf die Häuser blicken konnte, die das Dorf gegen unten begrenzten. Dahinter neigte sich der Hang sanft weiter talwärts, üppige Gärten und Reihen von Reben wechselten sich ab. Diesen Ausblick genossen einzig die Fremden im Dorf. Zentrum und Anziehungspunkt auf der Piazza Mastri war die Bottega Bar l’Incontro, Umschlagplatz für das Neuste vom Tag und immer gut für einen schnellen caffè. Ein paar Stühle mit Tischchen gleich vor dem Eingang waren den Einheimischen vorbehalten, auf dem Platz draußen standen weitere Tische neben einer Lounge-Ecke unter Sonnenschirmen. Hier hatten Emma und Karin gestern Morgen vor der Führung in der Spaghettifabrik einen Cappuccino getrunken, bequem in die tiefen Sessel gefläzt. Jetzt, am frühen Nachmittag, saßen Straßenarbeiter beim Espresso vor dem Haus, an einem Tisch ein älteres Paar mit identischen Wanderhosen und -stöcken, beide auf ihren Handys tippend. Emma und Karin gingen weiter, Emma von Rubio gezogen, der dauernd die Straßenseite wechselte, die Nase am Boden. Sie war zu nachlässig mit dem Hund, sie wusste es. Aber warum ihm all diese aufregenden Duftnoten vorenthalten, ihn auf ihren Weg zwingen, stur geradeaus? Die Hauptstraße hieß nun Via Nottai Fossati-Oldelli, später ging sie in die Via Ercole Doninelli über. Ein paar Kinder rannten um die Wette, eines blieb bei Rubio stehen, um ihn zu streicheln, was er sich schwanzwedelnd gefallen ließ. Ab und zu ein Schatten hinter halb geschlossenen Fensterläden, der sich bewegte, sobald Emma die Fassaden hochsah. Dann kam die Spaghettifabrik, das letzte Gebäude links der Straße. Ein unerwartet kleines Haus, wie Emma wieder feststellte, aus Steinen gefügt wie die meisten traditionellen Bauten hier, ein Kunstwerk, unverputzt. Zur Via Ercole Doninelli hin lag die schmale Seite mit einem großen Tor. Darüber ein Schild mit dem Schriftzug »Savelli – famiglia di pastai«, schwarz auf gelb, als wäre damit alles gesagt. Vor dem Tor saß ein Mann mit muskulösen Oberarmen auf einer Kiste und starrte auf sein Handy.
»Hier ist ja gar nichts los«, sagte Karin, als sie an ihm vorbei waren.
»Ich hab’s dir doch gesagt. Alle werden abgezogen sein, der Commissario und seine Leute, die Gerüchtekocher ebenfalls. Bloß ein Polizist in Zivil wird vor der Firma rumhängen und sich langweilen.«
Sie gingen noch ein Stück weiter und wandten sich dann um. Die Seitenfassade der fabbrica stand frei am Dorfende, von ein paar Metern Vorplatz begleitet. Daran schlossen sich Rebhänge an.
»Und jetzt?«, fragte Karin. Sie schien noch immer enttäuscht.
»Wer in Meride weiß am meisten über die Familie Savelli?«
Karin schüttelte den Kopf. »Das weiß ich doch nicht. Ich kenne hier niemanden.«
»Doch«, sagte Emma. »Diese Valeria, die dich angerufen hat. Hol sie her. Bottega Bar l’Incontro. Ich lade ein.«
Valeria arbeitete im Museum, das bis 17 Uhr geöffnet hatte. Danach musste sie Kasse machen, die Technik in allen Stockwerken herunterfahren, die Alarmanlage einschalten.
»Vor 17:30 Uhr geht bei mir gar nichts, cara.« Valeria redete so laut, als Karin sie anrief, dass Emma alles mitbekam.
»Aber komm einfach her, wenn du mich unbedingt sehen willst, und bring deine Freundin mit.«
Emma deutete auf Rubio.
»Wir haben noch einen Hund dabei«, sagte Karin.
Emma hörte Valeria lachen. »Bis zu mir darf er. Zu den Sauriern hoch nicht.«
Also gingen Emma und Karin und Rubio denselben Weg wieder zurück bis zum Museo dei fossili. Eine dunkle Nische in der Mauer war der Eingang. Ein laminierter Zettel wies darauf hin, dass man beim Verlassen des Museums von einem Auto überfahren werden konnte. Die Glastür glitt zur Seite, die drei drückten sich an einer Gruppe Kinder vorbei, die mit Zeichnungen in der Hand aufgeregt schnatternd im Foyer standen und ihre Begleiterin ignorierten, die sie zur Ruhe mahnte. Der Raum war unerwartet hoch. Die drei Stockwerke über ihnen reihten sich wie eine Galerie um ein Atrium. Dazu die Rekonstruktion eines Sauriers, über dem Eingangsbereich schwebend, der Kasse und Museumsshop zugleich war. Am Empfang Saurier überall, als Schlüsselanhänger, in Gummi gegossen, als Bleistiftaufsatz und Radiergummi, auf Foulards gemalt. Steine, naturbelassen oder zu Perlen geformt, Broschüren, Bücher und Postkarten vom Monte San Giorgio, dem Saurierberg, aus dem 240 Millionen Jahre alte Funde geborgen wurden. Zwei Besucher bezahlten eben ihre Eintrittskarten und durften wählen, in welcher Sprache sie das Faltblatt zur Ausstellung wünschten. Audioguides wollten sie keine.
Die Frau hinter der Kasse war Valeria, Emma erkannte ihre Stimme wieder. Valeria war klein und mollig, wendig in den Bewegungen. Das runde Gesicht wirkte lieb, kontrastierte mit der rauen Stimme. Ihre braunen Haare waren streng nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden.
Sie erklärte den Besuchern in abenteuerlichem Englisch, dass sie gekühltes Wasser aus dem Spender nehmen durften, wies auf die Toiletten rechts neben dem Eingang hin und empfahl, den Ausstellungsrundgang mit dem Film im ersten Stockwerk zu beginnen.
»Ciao belle!«, rief sie und winkte Karin und Emma zu, als die Besucher die Treppe hoch verschwunden waren. »Un attimo!«
Sie ging zur Gruppe hinüber und verabschiedete sie mit vielen guten Wünschen. Als alle draußen waren, wandte sich Valeria um und strahlte Karin und Emma an.
»Benvenute. Jetzt bin ich für euch da.«
Sie nahm wieder ihren Platz hinter der Kasse ein, reckte ihren kurzen Arm über die Theke, um zuerst Karin in den Arm zu kneifen und dann Emma die Hand zu geben.
»Valeria Peverelli, freut mich. Peverelli vom verarmten Zweig der Familie. Nicht die mit dem Palast. Deshalb der Job in dieser Hölle hier.«
Sie wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. Es war tatsächlich sehr heiß, auch Emma kitzelte der Schweiß im Nacken.
»Der große Architekt«, sagte Valeria. »Hat die Lüftung vergessen. Mein Haus baut der jedenfalls nicht.« Sie lachte und ging zum Wasserspender. »Wir haben keine Luft hier, dafür Wasser.«
Sie füllte drei Becher, stellte sie auf die Theke und bedeutete Emma, einen Rubio hinzustellen, was diese tat. Er dankte es ihr mit lautem Schlabbern und ließ sich dann auf den Boden fallen.
»Und jetzt zu euch beiden Hübschen«, sagte Valeria.
Sie schaute dabei Emma an, die sich kurz vorstellte. Valeria nickte.
»Wusste ich’s doch. Ihr kommt wegen ihr.«
Sie horchte kurz ihren Besuchern nach, deren Stimmen man in einem der oberen Stockwerke hören konnte, blickte dann zum Eingang. Von dort her kam niemand.
»Stefanie hat hier Workshops gegeben«, flüsterte Valeria. »Für Schulklassen und Kinder in der Freizeit.«
Sie wies zur Wand gegenüber, wo Hinweise auf Veranstaltungen hingen. Emma wollte etwas fragen, aber Valeria legte den Zeigefinger an die Lippen und beugte sich über die Theke.
»Und ich weiß auch, an welchem Tag das Unglück begann. Willst du es hören?«
Natürlich wollte Emma. Sie und Karin standen an der Theke und nippten an ihren Wasserbechern, während Rubio schlief und Valeria erzählte. Das Unglück begann am Tag der Trauung von Francesco Bernasconi und Alessia Savelli. Es regnete wie nie zuvor. Das Wasser sammelte sich in kleinen Bächen und floss in Strömen durch die Via Bernardo Peyer. Die Gemeinde drängte in die Kirche. Die Regenschirme versperrten den Eingang, die Frauen rutschten mit ihren durchweichten Schuhen. Es war ein Chaos. Als endlich alle saßen, trat Alessia in die Kirche, in einem wunderschönen Brautkleid. Aber da war kein Vater, der sie am Arm führte, auch keine Mutter. Alessia ging am Arm ihres Verlobten, dieses großen Mannes mit dem schönen Lächeln und dem glänzenden kastanienbraunen Haar. Als die beiden ihre Plätze vor dem Altar eingenommen hatten, verstummte die Orgel. Es war ganz still. Dann wurde die Tür aufgerissen und mit einem Knall zugeworfen. Alle wandten sich um. Antonio Savelli stand dort, der Brautvater. Die Gemeinde befürchtete, dass er schreien würde, was er schon Wochen zuvor durch die Gassen von Meride gebrüllt hatte:
»Wenn du zu diesem Hurenbock gehst, bist du nicht mehr meine Tochter!«
Der Hurenbock, der bereits eine Frau hatte, in Monza oder Milano unten, das wusste man, und wer weiß, wie viele andere Frauen noch.
»Nie mehr betrittst du mein Haus!«, hatte Savelli geschrien.
Alle hatten es gehört. Und nun war er trotzdem zur Hochzeit erschienen. Er ging zwischen den Bankreihen durch Richtung Altar. Alle starrten ihm nach. Jeder Schritt hallte wider. Endlos lange dauerte es, bis er ganz vorn angelangt war, dabei war die Kirche von Meride nicht wirklich groß. Er setzte sich aufrecht hin und starrte zum Altar, wo die Zeremonie nun begann und das Paar sich wenig später ewige Treue schwor.
»Treue, ha!« Valeria unterbrach ihre Erzählung, um sich einen Becher Wasser zu holen.
»Was ist falsch an Treue?«, fragte Emma.
»Nichts ist falsch an Treue. Ich bin für Treue, ich wäre der treuste Mensch der Welt, cara. Bloß interessiert das niemanden.«
Sie nahm wieder ihren Platz hinter der Kasse ein.
»Aber dieser Francesco, der graste schon bald über den Gartenzaun. In der fabbrica spielt er immer schön den netten Schwiegersohn, aber im Verborgenen …«
»Stefanie Schwendener?«, fragte Emma.
Valeria beugte sich vor, sprach nun wieder leiser. Sie war lauter geworden im Eifer, die Geschehnisse im Detail zu beschreiben.
»Du hättest sie sehen sollen. Ein schüchternes Ding, als sie hier auftauchte. Wurde rot, sprach leise, traute sich kaum, einen anzusehen. Und dann. Wie sie aufblühte, diese piccola Zücchina. Wie sie den Kopf hochtrug, als sie durch das Dorf ging. Und in der fabbrica groß redete. Über die Firmengeschichte, blabla, Familienzusammenhalt, blabla, Weizen und Maschinen, blabla. Zu allem wusste sie etwas zu sagen. Sie sprach plötzlich laut und deutlich. Einzig mit den Kindern, das machte sie gut. Mit Kindern konnte sie wirklich. Aber etwas war ihr zu Kopf gestiegen. Einmal fingerte sie hier an meinen kleinen Tierchen herum.«
Valeria deutete auf die bunten Saurierfiguren aus Plastik, die liebevoll geordnet auf der Theke standen und sich begierigen Kinderaugen präsentierten.
»›Was tust du da?‹, hatte ich gefragt. Da wurde die Signorina rot und hauchte: ›Ich habe sie bloß ein wenig zurechtgerückt.‹«
Valeria klopfte mit den Knöcheln ihrer linken Faust auf die Theke.
»›In meinem Museum gibt es nichts zum Zurechtrücken‹, habe ich gesagt. Der Zücchina war wirklich etwas zu Kopf gestiegen.«
Francesco war es, der geil hinter seiner Pasta hervorschielte und ein erprobtes Repertoire bereithielt. Ein Lächeln, immer wieder, nicht nur zum Grüßen vor und nach einer Führung. Ein langer Blick. Ein sehr langer Blick. Ganz nah ging er an ihr vorbei, weil es in der fabbrica so eng war. Er streifte ihren Arm, ihre Hüfte. Nahm ihre Hand auf dem Weg nach draußen, ganz kurz. Er führte sie in den Trocknungsprozess von Pastateig ein, nach Feierabend. Man sah ihn die Salita San Silvestro hinaufgehen, vorbei am Haus, wo diese Zücchina wohnte. Alle wussten, dass er nach Cassina unterwegs war. Um es dort mit ihr zu treiben. In der Schutzhütte im Wald oben. Oder in der Fabrik. Im Trockenraum, zwischen Spaghettischnüren. Oder im Luxushotel, wenn es sein musste, in Serpiano drüben.
»Und seine Frau?«, fragte Karin.
»Alessia füllte Pasta in Tüten und lächelte freundlich«, sagte Valeria. »Bis sie nicht mehr konnte.«
»Wie meinst du das?«
»Ist doch klar«, sagte Valeria. »Bis sie das zerstörte, was sie kaputt machte.«
Emma ging zum Dispenser hinüber, füllte die Becher für alle nach.
»Dann hast du zugesehen?«
Valeria riss die Augen auf. »Wobei?«
»Dem Treiben von Francesco Bernasconi und Stefanie Schwendener.«
»Wo denkst du hin! Francesco hat in all den Jahren gelernt, seine Affären geheim zu halten.«
»All die Jahre?«, fragte Emma.
»Aber sicher«, schnaubte Valeria, »seit der zweiten Hochzeitsnacht. Er geht weg, wenn er denkt, dass alle in Meride schlafen, und schleicht sich wieder ins Haus, bevor es hell wird. Ganz Meride weiß Bescheid.«
»Gibt es irgendetwas, was nicht ganz Meride weiß?«
Valeria überlegte. »Ja. Aber das hat nichts mit dem Mord zu tun.«
»Macht nichts.«
Valeria zögerte. »Die alte Savelli. Die Mutter von Alessia und ihren Brüdern. Warum sie sich erhängt hat, bleibt ein Geheimnis.«
»Ein Suizid in der Familie«, sagte Emma. »Auch das noch.«
»Es tut mir leid, cara«, sagte Valeria. »Hier gibt es nichts, was es nicht gibt.«
Sie wurden von zwei Besucherinnen unterbrochen, die das Museum betraten. Zuvor hatte Emma erfolglos versucht, von Valeria einen Kontakt von jemandem zu erhalten, der noch mehr über die Familie Savelli wusste.
»Findest du hier nicht«, beschied ihr Valeria. »Zwei, drei Alte vielleicht, die noch irgendetwas mitgekriegt haben. Aber die sind alle gaga. Die leben in ihrer eigenen Welt.«
Emma und Karin gaben ihren Platz vor der Kasse frei, Rubio erhob sich verschlafen und tappte hinter Emma her zur Wand mit den Plakaten, wo die »Laboratori creativi con Stefanie Schwendener« ausgeschrieben waren. Nachdem die beiden Besucherinnen in die Ausstellungsräume hochgegangen waren, winkte Valeria sie wieder zu sich und ließ sich über Dante Savelli aus. Antonio Savellis Erstgeborener schien ihr Lieblingsthema zu sein. Der Philosoph. Der Mann, der so viel im Kopf hatte, dass er sogar mal im Fernsehen war. Alle in Meride hatten vor ihren Geräten gesessen und gestaunt, wie schick Dante plötzlich aussah. Sie konnten es kaum fassen. War das derselbe Mann, der in der fabbrica Spaghettischnüre hin und her schob? Kein leicht gebeugter Mann mehr, der in seinem Arbeitskittel durchs Dorf schlurfte, das Haarnetz noch auf dem Kopf. Nein, elegant sah er aus in diesem schönen dunkelblauen Anzug samt Hemd und Krawatte. Bestimmt hatte ihn eine Stylistin vom Fernsehen so vorteilhaft herausgeputzt. »Dr. Dante Savelli, Historiker und Philosoph« war am Rand unten im Bild eingeblendet, »Experte Schmugglerinvasion«. Wie gescheit er redete!
»Experte Schmugglerinvasion?«, unterbrach Emma sie.
»Ja. An unseren Grenzen hier. Wegen Mussolini und so. Menschenschmuggel. Und Reis. Und Waffen. Dante kennt die ganzen Geschichten.«
Dante wurde nach der Fernsehsendung wie ein Held gefeiert. Täglich erhielt er Besuch in der fabbrica, wo er weiterhin Gestelle mit Spaghettischnüren in den Trockenraum schob. Eine aufdringliche aufgetakelte alte Schachtel brachte selbstgemachte Zitronenlimonade und torta di pane, ein Hobbyschmuggelforscher sein Manuskript zur Prüfung, eine Lehrerin aus Riva San Vitale schickte ihre Klasse für ein Interview hoch. Wie liebenswürdig Dante mit allen umging, wie geduldig er zuhörte und Fragen beantwortete. So nett war er. Auch wenn er ein bisschen eigensinnig wirken konnte, der Dottore.
»Dottore Dante Savelli«, wiederholte Valeria und schüttelte den Kopf, »wer hätte je gedacht, dass er seine Familie verraten würde?«
Emma setzte den Becher wieder ab, aus dem sie eben trinken wollte.
»Verraten?«