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In der Via Ercole Doninelli rollte der junge Polizist die Absperrbänder zusammen. Die Menge Neugieriger hatte verstanden, dass es ihr nicht gelingen wird, einen Blick ins Innere der fabbrica zu werfen, und löste sich langsam auf. Gestalten in Schutzanzügen gingen durch das Tor hinein und hinaus, mit Koffern, über deren Inhalt nur spekuliert werden konnte. Die Neugierigen mit Geduld und viel freier Zeit kriegten mit, wie ein Sarg aus der Fabrik getragen und in einen Wagen geschoben wurde. Da war sie, die Zücchina auf dem Weg zur Obduktion. Jeder hatte eine ganz eigene Vorstellung davon, wie das Opfer im Sarg aussah. Wieder wurden Kreuze geschlagen. Auf dass sie ihre ewige Ruhe fand, la povera. Sie sahen zu den Fenstern im Haus nebenan hoch, wo Antonio Savelli wohnte, da, wo seine Großeltern aus einem halb zerfallenen Winzerhof bewohnbare Räume geschaffen hatten und seine Eltern geboren worden und gestorben waren. Dann wandten sich die Männer und Frauen von Meride mit einem Schauder von diesem Haus und seinem Patron ab. Hier hatte der Teufel seine Finger im Spiel.

Antonio Savelli schlief tief. Eine der vielen Personen, die in der Fabrik das Kommando übernommen hatten, hatte ihm eine Spritze gegeben und angeordnet, dass jemand aus dem Ermittlungsteam bei ihm blieb. Nun saßen sie zu zweit in diesem stickigen Zimmer, ein schwitzender Polizist, der immer wieder einnickte, und Dante Savelli, Antonios ältester Sohn. Es roch nach kaltem Rauch. Dante betrachtete den vollen Aschenbecher auf dem Nachttisch seines Vaters. Bewundernswert stur ignorierte papà alles, was ihn von seinen geliebten Brissagos abhalten sollte, auch die Tatsache, dass er längst nicht mehr ein Ur-Tessiner Produkt unterstützte, von Tessinern für Tessiner und Italiener gemacht, wie er immer behauptete, sondern die deutsch-schweizer Firma Burger Söhne mit Sitz im Aargau, die ihre Gewinne mit Eventlocations neben den Fabrikräumen in Brissago optimierte. Eventlocations. Dante versuchte, sich wieder auf den Text vor sich zu konzentrieren. Er hatte ein Buch aus seiner Wohnung an der Piazza Mastri geholt, um sich die Zeit ein wenig zu vertreiben.

»Wie kannst du jetzt ans Lesen auch nur denken?«, hatte Luigi ihn angefahren und auf den Vater gewiesen, der aschfahl dalag, während seine Wunde an der Stirn versorgt wurde.

»Weil ein Buch in jedem Fall hilft. Auch in diesem Wahnsinn hier«, hatte Dante geantwortet und Richtung Kühlraum gezeigt.

Nun drang aus der fabbrica nebenan eine Männerstimme zu ihnen hoch. Sie gehörte dem Commissario. Der Mann telefonierte. Dante schüttelte den Kopf. Diese Betriebsamkeit, wo doch für heute alles getan war. Sogar die Gaffer waren nach Hause gegangen. Ihre Hoffnung auf Blutströme und einen mutmaßlichen Mörder, der in Handschellen abgeführt wurde, war zerschlagen. Es blieb nur das Warten auf den nächsten Tag. Auch wenn das hektische Telefongespräch des fleißigen Chefbeamten etwas anderes suggerierte. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Auf Berichte aus dem Labor weit weg im Tal unten, auf neue Befragungen, die Widersprüche zutage brachten, weil die Befragten von ihrer Version abwichen, ihren Erinnerungen nicht trauten.

Dante dachte an seine Schwester, die heute fast pausenlos geweint hatte. Ihr Mann Francesco, sein Schwager, war mit dunklen Augenringen umhergeschlichen und hatte nach Alkohol gerochen. Gefeiert hätte er, hatte er allen ungefragt erklärt, den Geburtstag eines Kollegen, bis frühmorgens, in Como. Und Luigi, der große Geschäftsführer, hatte den Commissario angefleht, sie alle an ihre Arbeit zurückkehren zu lassen. Luigi hatte die weiße Stecknadel vor sich hergetragen, die aus der Karte gefallen war. Ein Zeichen für den beginnenden Zerfall der Firma sei das, hatte er gejammert, man solle ihn um Gottes willen die Arbeit tun lassen, die getan werden musste. Dieser Wicht mit Tendenz zum Drama. Dann war da papà, der mit zitternden Händen und Lippen in seinem Bett lag und alle paar Minuten aufjaulte, bis er eine Spritze erhielt und einschlief.

Dante erhob sich, um den Lappen auf der Stirn des Vaters erneut in das Becken mit kaltem Wasser zu tauchen. Als er ans Kopfende des Bettes trat, stieß er gegen das Schränkchen, das als Nachttisch diente. Ein jäher Schmerz fuhr ihm ins Knie. Er bückte sich. Da steckte ein Schlüssel, wo vorher nie einer gewesen war. Dante drehte ihn, öffnete das Schränkchen. Es war leer. Er wollte es eben schließen, als er das Papier sah. Er griff danach, betrachtete es im schwachen Licht des abgedunkelten Zimmers. Es war eine Schwarz-Weiß-Fotografie, das Gesicht einer jungen Frau mit schmalem Gesicht. Ihre fast schwarzen Augen und die vollen Lippen deuteten ein Lächeln an. Sie trug das Haar hochgesteckt, eng um den Hals gelegt eine schimmernde Perlenkette, an der Bluse eine Brosche in Form einer Blume. Dantes Herz klopfte heftig. Er sah seinen papà von damals im Schlafzimmer sitzen, mit dem Rücken zur Tür. Dante hatte das Zimmer betreten, als papà nicht antwortete, und über dessen Schulter geschaut.

»Ist das mamma?«, hatte er gefragt, und Antonio war von seinem Stuhl hochgeschossen, hatte das Bild an sich gepresst und mit einer Stimme geflüstert, die Dante Angst machte:

»Raus hier.«

Danach hatte papà sehr lange nicht mehr mit ihm gesprochen. Dante wusste für immer: Papàs Zimmer betreten war verboten. Und nie, niemals sprach man über mamma.

Antonio Savelli tauchte langsam aus der Tiefe seines Schlafes auf, von einem Traum begleitet. Er stand in einer Kirche am Altar, es war die Chiesa San Rocco in seinem Dorf, aber mit einem Priester, den er nicht kannte. Die Orgel spielte sehr laut. Er suchte Matilda. Viele Menschen waren da, Männer, Frauen und Kinder. Wo war seine Braut? Er ging durch das Kirchenschiff zurück, an den Bankreihen entlang, schaute in fremde Gesichter. Manche lachten, schnitten Grimassen, einer stellte ihm ein Bein. Er stolperte und wollte nach Matilda rufen, aber er brachte keinen Ton heraus. Da. Da war sie. Bei der Kirchentür, im weißen Kleid, einen langen Schleier hinter sich herziehend. Der Schleier reichte beinahe bis zu ihm. Er wollte ihn fassen, sich an dem Stoff entlang bis zu Matilda hangeln. Er eilte dem Schleier hinterher, bückte sich immer wieder, um ihn festzuhalten. Vergeblich.

»Warte, Matilda!«, wollte er rufen.

Doch sie eilte zur Kirche hinaus und nach rechts in die Via Bernardo Peyer. Erst jetzt sah er das Kind. Ein kleines Mädchen mit roten Haaren, so rot, dass ihr Anblick seinen Augen wehtat. Das Mädchen zog Matilda an der Hand hinter sich her. Matilda lachte, und das Kind lachte auch. Alle lachten ihn aus. Überall an der Straße standen fremde Menschen, sahen ihm zu und lachten. Er rannte schneller. Er fasste den Schleier mit einer Hand, zog. Er zog und zerrte. Da war viel Stoff, keine Matilda. Er verhedderte sich, fiel zu Boden. Die Fremden scharten sich um ihn, bewarfen ihn mit etwas, das schmerzte. Bevor er mit einem heiseren Krächzen in der Kehle aufwachte, sah er das Mädchen. Es beugte sich über ihn und warf Reiskörner aus einem weißen Beutel. Sie bohrten sich wie Pfeile in seine Haut.

Tessiner Verwicklungen

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