Читать книгу Sommer Roman-Paket Unterhaltungsromane und Erzählungen: In Paris und andernorts - Sandy Palmer - Страница 6
Denn das Glück lässt sich nicht kaufen Eine amüsante Lovestory von Sandy Palmer
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EINE ALLEINERZIEHENDE Mutter hat’s nicht leicht, aber Kornelia glaubt, dass sie alles im Griff hat und ihr Sohn glücklich ist. Welch riesiger Irrtum das ist, erkennt sie allerdings erst nach einem verhängnisvollen Telefonat mit einem Fremden...
Es war ein rauschendes Geburtstagsfest, das der Filmkaufmann Andreas Vorbeck feierte. Der bekannte Filmproduzent hatte in sein luxuriöses Privathaus am Rand einer niederrheinischen Stadt geladen, und obwohl er normalerweise in der Metropole Berlin arbeitete und dort auch die meisten Bekannten hatte, waren alle seiner Einladung in die Provinz gefolgt.
Andreas’ Vierzigsten mitzufeiern war für die meisten ein Muss! Er besaß Einfluss, und wenn er in Berlin arbeitete und dort in seiner Stadtwohnung wohnte, führte er stets ein offenes Haus. Stars und solche, die es werden wollten, gingen bei ihm ein und aus.
Unter den Geschenken hatte sich ein ausgedientes Mühlrad befunden, das, an schweren Ketten hängend, nun in der Nähe des Gartenteiches schwebte und eine ungewöhnliche Beleuchtung darstellte. Auch ein aufgemotztes Schaukelpferd hatte er bekommen, das ihm an diesem Tag vorübergehend als Sitzgelegenheit diente.
Im Sattel thronend, umflattert von seinen beiden momentanen Favoritinnen, sonnte sich Andreas im Wohlwollen seiner Freunde. Die blonde Heike und die kesse mandeläugige Irina taten alles, um ihn bei Laune zu halten. Was nicht ganz leicht war, denn hin und wieder machte sich Andreas bewusst, dass er den Zenit seines Lebens erreicht hatte. Da half es auch nicht, dass aus einer riesigen Geburtstagstorte ein leicht bekleidetes Mädchen schlüpfte und à la Marilyn Monroe „Happy Birthday“ sang. An Schluss hielt ihm das blonde Gift eine Torte mit 40 Kerzen entgegen.
Andreas’ Blick glitt über die Gästeschar und die ausgefallenen Geschenke. Er holte tief Luft, beugte sich vor und blies ein paar Mal kräftig. Die 40 Kerzen erloschen, Applaus brandete auf, und jemand stimmte „Hoch soll er leben“ an.
Drinnen im Haus wurde von einem renommierten Caterer das Buffet aufgebaut, draußen glühten die Holzkohlen auf dem großen schwenkbaren Grill. Lampions schwebten an langen Schnüren von Baum zu Baum.
In der Bibliothek klingelte anhaltend das Telefon. Andreas schwang sich vom Pferd und schlenderte langsam hinüber, das Sektglas in der Hand.
Die Bibliothek lag im Westen, daran schloss sich eine kleine Kaminstube an, in der er im Winter besonders gern saß und las. Jetzt war es hier noch warm, Sonnenlicht fiel in schmalen Streifen auf die Bücherregale und den Schreibtisch, auf dem eine alte englische Lampe stand.
Ein alter Perserteppich, den schon seine Großeltern besessen hatten und der ein höchst apartes, seltenes Muster aufwies, bedeckte den dunklen Parkettboden. Zwischen den hohen Bücherregalen hingen drei Landschaftsbilder und eine Bleistiftskizze von Picasso.
Andreas ließ sich in einen der drei bequemen Ledersessel, die unter der Fensterfront standen, sinken und griff nach dem tragbaren Telefon. Entspannt lehnte er sich zurück:
„Hallo, Opa!“, hörte er eine aufgeregte Kinderstimme, noch ehe er seinen Namen nennen konnte.
Andreas fiel fast das Glas, das er noch in der linken Hand hielt, herunter.
„Hallo. Wer spricht denn da?“
„Na ich, der Sascha.“
„Sieh mal an, der Sascha.“ Andreas lachte leise. „Schön, von dir zu hören“, sagte er herzlich und ungeachtet der Tatsache, dass er noch nie von einem Kind namens Sascha gehört hatte. Und ein Enkelkind hatte er, da war er sich ganz sicher, auch nicht.
„Hei, Sascha. Wie geht’s dir denn, mein Junge?“
„Gut“, kam es unterdrückt zurück, während im Hintergrund ein Raunen und Flüstern zu hören war. „Und dir, Opa?“
„Mir geht’s auch gut. Ich hab gerade Gäste. Du wohl auch, oder?“
„Ja. Nein... so was Ähnliches aber.“ Wieder hörte man Geräusche im Hintergrund, die auf ein halbes Dutzend Kinder schließen ließen, die sich ums Telefon drängelten. „Dann mach’s gut, Opa. Tschüss!“
„Auf Wiedersehen“, sagte Andreas Vorbeck, starrte den Telefonhörer in seiner Hand noch eine Weile an und legte ihn dann in die Halterung zurück.
Eine halbe Stunde später, als er am Grill stand und persönlich ein paar besonders wichtigen Gästen Steaks auf die Teller legte, hörte er das Telefon durchs offen stehende Fenster der Bibliothek erneut klingeln.
„Soll ich?“, fragte Heike, die direkt neben ihm stand und besitzergreifend eine Hand auf seinen Arm legte.
„Nein, nein, lass nur. Ich geh schon selbst. Entschuldigt mich.“
Wenige Augenblicke später ließ er sich wieder in den Sessel fallen.
„Hallo Opa!“, rief die helle Kinderstimme, die er bereits kannte. „Du bist ja noch da.“
„Klar doch, ich hab schließlich Besuch.“
„Ich wollte dir nur sagen: Danke, du warst super!“
„Danke, Sascha.“
„Weil doch... du weißt schon... weil du doch gar nicht mein Opa bist!“
Für einen Moment blieb es still in der Leitung. Andreas räusperte sich. „Aber du hast wohl gedacht, ich wäre dein Opa, nicht wahr? Du hast dich verwählt.“
„Nöö, hab ich nicht. Zahlen hab ich schon lesen können, als ich noch nicht in die Schule ging. Aber jetzt geh ich in die Schule, und der Andy und die anderen Jungs wollten mir nicht glauben, dass ich einen Opa habe.“
„Und - hast du einen?“
„Nein.“
„Hmm“, machte Andreas, um ein bisschen Zeit zu gewinnen. Er hatte nicht den geringsten Schimmer, wie er jetzt reagieren sollte.
„Weißt du“, sagte der kleine Junge am anderen Ende der Leitung, und seine Stimme sank zu einem eindringlichen Flüstern herab, „wenn man keinen Vater hat und keinen Onkel, dann muss man wenigstens einen Opa haben.“
„Ja, das weiß ich“, murmelte Andreas. „Das versteh ich gut. Du musstest Andy und den anderen endlich etwas bieten, ihnen den Mund stopfen, damit sie dich nicht noch länger hänseln.“
„Genau! Die waren ja alle dabei. Hast sie sicher gehört. Jetzt glauben sie mir wenigstens, dass ich einen Opa hab.“ Ein erleichterter Seufzer folgte. „Danke, Leih-Opa.“
Andreas lachte. „Dann bin ich froh, dass ich richtig geschaltet hab und dass du gerade meine Nummer gewählt hast. Wieso eigentlich? Woher hast du die überhaupt?“
„Das ist die Leichteste, die es gibt“, erklärte der kleine Sascha selbstbewusst.
„Findest du? Zwölf vierunddreißig sechsundfünfzig?“, wunderte sich Andreas und runzelte leicht die Stirn dabei.
„Was?“
„Das ist doch meine Telefonnummer.“
„Ja?“ Jetzt klang Sascha unsicher.
„Natürlich. Du hast sie doch schon zwei Mal gewählt.“
„Aber ich wähle immer nur eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs - fertig.“
Andreas dachte nach. „Richtig, das kommt aufs Gleiche raus“, gestand er schließlich verblüfft ein. „Wo wohnst du denn?“
„In Kalkennau. Ist das weit von dir?“
„Wie man’s nimmt“, erwiderte Andreas zögernd. „Es ist das Dorf am Ende der Schnellstraße.“ Er zögerte, wusste nicht genau, was er sonst noch sagen sollte. Schließlich fragte er: „Wie alt bist du eigentlich, Sascha?“
„Sechs Jahre. Ich gehe zu Herrn Pfaff in die Klasse. Kennst du den?“
„Nein, Junge, leider nicht. Wie ist er denn?“
„Ooch... eigentlich ganz in Ordnung. Du, ich muss jetzt Schluss machen.“ Die Kinderstimme klang plötzlich gehetzt. „Mami schließt gerade die Haustür auf. „Tschüss, Opa, und vielen Dank.“
Knack... die Verbindung war unterbrochen.
*
IN DER PARTERREWOHNUNG der Goethestraße Nr. 2 in Kalkenau saß Kornelia Hansen an ihrem Schreibtisch und versuchte, sich in eines der Leseexemplare zu vertiefen, die sie immer aus der Buchhandlung mit nach Hause zu bringen pflegte. Links von ihr, genau vor dem Fenster, saß ihr Sascha an einem etwas niedrigeren Schreibtisch und scharrte mit den Füßen.
„Ich hab heute den Hund wieder gesehen, Mami.“
„Meinst du den, der den Mülleimer geplündert hat?“
„Ja, genau den. Er läuft immer noch hier rum. Ich... ich denke, der gehört niemandem.“
Kornelia umfing ihren Sohn mit einem langen Blick aus graugrünen Augen. „Du weißt, dass wir keinen Hund in dieser Wohnung halten dürfen, Sascha.“ Es klang ruhig, bedauernd und abschließend.
„Aber du wolltest doch Herrn Grahnau fragen, ob er keinen Hund gebrauchen kann. Einen schönen, großen, ganz schwarzen Hund.“
Herr Grahnau war der Inhaber der Buchhandlung am Goetheplatz, ein versponnener alter Herr, der sich außer für schöngeistige Literatur nur fürs Schachspielen interessiert. Er war Kornelias Arbeitgeber.
„Herr Grahnau hat Angst vor Hunden, Sascha. Und seine Wohnung ist noch viel kleiner als unsere.“
„Aber der Hund könnte doch nachts im Geschäft bleiben und es bewachen“, gab Sascha hartnäckig zu bedenken. „Und tagsüber kümmere ich mich um ihn. Ich geh auch ganz viel mit ihm spazieren, Mami.“
„Tagsüber, mein Schatz, gehst du in die Schule. Dann in den Hort. Da machst du einen Teil deiner Aufgaben, den Rest machen wir dann hier zusammen. Wie zum Beispiel jetzt. Hast du die neuen Buchstaben schon geschrieben?“
„Nein. Ich muss dauernd an den Hund denken, Mami. Der hat sicher Hunger. Er tut mir sooo leid!“
„Und deine Zahlen?“
„Die hab ich.“
„Was für Buchstaben und Wörter sollt ihr denn schreiben?“
„Nur runde. Ein O. Und ein Q.“
„Ja, dann schreib mal. Für jeden Buchstaben eine Zeile, das müsste reichen.“
„Das ist so schwer“, jammerte Sascha, der sich absolut nicht konzentrieren konnte, da er immer das Bild des schwarzen Hundes vor Augen hatte.
„Stell dir einfach vor, du würdest Ostereier malen“, schlug seine Mami vor.
„Jetzt?“, fragte Sascha gedehnt. „Um die Zeit gibt’s doch keine Ostereier. Warum sollte ich die da malen?“
Kornelia klappte das Buch zu und stand auf. „Ich koche uns jetzt erst mal einen Kakao, und du schreibst deine Buchstaben auf. Einverstanden?“
Sascha nickte widerwillig.
„Gut. Nachher seh ich mir an, was du gemacht hast. Dann gehe ich kurz rüber und helfe Herrn Grahnau bei der Kassenabrechnung. Wenn du willst, kannst du mitkommen.“
„Nö.“ Sascha winkte rasch ab.
Er musste noch zehn Minuten warten - und dabei zwei Zeilen Os schreiben, dann zog sich seine Mutter endlich an und verließ die Wohnung.
Kaum hatte sie die Tür hinter sich zugezogen, griff Sascha zum Telefonhörer und wählte die inzwischen schon vertraute Nummer.
Die ersehnte Stimme meldete sich - endlich!
„Hallo, Opa“, sagte er und schnappte nach Luft vor Erleichterung.
„Hallo Sascha!“ Die Männerstimme krächzte ein bisschen, aber sie klang erfreut.
„Hast du gleich gewusst, dass ich es bin?“, wollte Sascha wissen.
„Klar! Außer dir nennt mich niemand Opa. Warum hast du dich denn so lange nicht gemeldet?“
„Ich hab’s ja immer wieder probiert, aber du bist ja nicht dran gegangen“, meinte Sasche mit milder Entrüstung. „Wo warst du denn, Opa?“
„Um diese Zeit muss ich meistens arbeiten. Und das tu ich auch oft woanders. Ich muss hin und wieder verreisen, weißt du.“
„Aha. Und wohin?“
„In verschiedene Städte. Mal nach Berlin, dann nach München, oder auch ins Ausland. Das gehört zu meinem Job. Aber du kannst mir ja eine Nachricht hinterlassen. Musst nur aufs Band sprechen.“
„Das ist das nach dem Piep, oder?“
„Richtig.“
„O.k., dann mach ich das mal“, erklärte Sascha großzügig. „Aber es ist doof, wenn du nicht da bist.“
Andreas lächelte. „Stimmt. Wenn wir miteinander reden können, ist es besser.“ Er zögerte, dann meinte er: „Ich könnte dich ja auch mal anrufen. Sag mir doch, wo du wohnst, wie du mit Nachnamen heißt - und gib mir eure Telefonnummer durch.“
„Warum?“, fragte Sascha gedehnt.
„Es wäre nur fair, meinst du nicht?“
Für einen Moment blieb es still in der Leitung. „Aber wenn du anrufst und meine Mami ist am Telefon...“
„Was soll dann sein? Ich versuche es eben später noch mal.“
Der kleine Junge zögerte immer noch. Einen Opa, der keiner war, seinen Schulfreunden zu präsentieren, war eine Sache. Ihn seiner Mutter einreden zu müssen war etwas ganz andres. Aber so, wie die Dinge nun einmal lagen, blieb ihm nichts anderes übrig, als die gewünschten Informationen zu geben.
„Du hast doch was auf dem Herzen“, bemerkte Andreas, der sich alles sorgfältig notiert hatte. „Schieß los!“
„Merkt man das?“, fragte Sascha, und die Jungenstimme klang auf einmal besorgt.
„Nein, nicht direkt. Aber ein Opa merkt das schon.“
Sascha am anderen Ende der Leitung atmete auf. „Ja, also... ich wollte dich bloß was fragen...“
„Ja, und was?“
„Ich wollte fragen, ob du Platz hast.“
„Massenhaft sogar“, antwortete Andreas spontan.
„Ehrlich?“
„Bestimmt. Kannst dich ja mal überzeugen kommen. Warum willst du das überhaupt wissen?“
„Weil ich einen guten Freund habe, der... der braucht nicht viel, eben nur Platz. Ich meine...“ Sascha geriet ins Stottern. „Er hat einfach nichts, wo er bleiben kann.“
„Was du nicht sagst“, murmelte Andreas, der sich auf das Gestammel keinen rechten Reim machen konnte. „Wie alt ist er denn, dein Freund?“
„Weiß ich nicht.“
„So auf Anhieb kann ich dir nichts versprechen, Sascha. Ich müsste deinen Freund mal kennenlernen. Sagen wir morgen Nachmittag um fünf? Dann könnt ihr gern kommen, dann bin ich von einer Geschäftsreise wieder zurück und hab Zeit für euch.“ Er war sicher, einen zweiten kleinen Jungen kennenzulernen. Einen, der noch größere Probleme hatte als Sascha und vielleicht sogar ausreißen wollte. Da war es vernünftig, wenn er sich kümmerte.
Andreas kannte sich selbst nicht wieder. Er, der nie viel mit Kindern hatte anfangen können, war von Sascha bezaubert - obwohl er ihn noch nicht persönlich kannte. Aber der Junge hatte etwas, das ihn fesselte. Er wollte ihn unbedingt persönlich sehen.
„Also, Opa, du kommst um fünf her, ja?“
„Mach ich. Bis dann, Sascha.“
*
AM NÄCHSTEN TAG UMKREISTE Andreas Vorbeck mit seinem schweren Wagen die Goethestraße, fuhr ein paar Mal an der Hausnummer 2 vorbei und parkte schließlich auf der anderen Straßenseite.
Vor dem Haus, in dem Sascha mit seiner Mutter wohnte, hatte inzwischen ein Knirps in Jeans und mit rotem T-Shirt, auf dem der Kopf einer Star Wars-Figur abgebildet war, Aufstellung genommen. Dicht neben ihm saß ein schwarzer Hund mit weißer Brust. Vielleicht ein Neufundländer. Oder ein Berner Sennenhund. Andreas kannte sich nicht genau aus. Vielleicht war das Riesentier auch eine Mischung aus beidem.
Andreas Vorbeck blieb in respektvoller Entfernung stehen, betrachtete das Kind minutenlang und rief schließlich probehalber: „Sascha?“
Die Antwort erfolgte mit allen Zeichen freudiger Begrüßung: „Opa! Hey, guten Tag!“
„Dein Freund ist wohl noch nicht aufgetaucht?“ Suchend sah sich Andreas nach einem zweiten Jungen um.
„Doch.“
„Wo ist er denn?“
„Hier!“ Sascha tätschelte den Kopf des mächtigen Hundes, der vertrauensvoll zu dem nur wenig größeren Jungen aufsah.
Andreas musste ein paar Mal schlucken. Sagen konnte er im Moment nichts, es hatte ihm die Sprache verschlagen.
„Er ist sooo brav!“, erklärte Sascha werbend. „Und sooo arm. Die ganze Zeit schon läuft er hier rum und frisst irgendwas aus Mülleimern. Mami sagt, wir dürfen keinen Hund in der Wohnung halten, und so einen großen schon gar nicht. Kannst du vielleicht was für ihn tun, Opa?“
Andreas löste sich widerstrebend von dem Laternenpfahl, an den er sich im ersten Schock gelehnt hatte, und trat einen Schritt näher. „Wie heißt er denn?“
„Keine Ahnung.“ Sascha zuckte mit den Schultern. „Ich hab ihn Ben genannt.“
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite tauchten drei Jungs auf, rempelten sich gegenseitig an und gestikulierten wild in Saschas Richtung.
„Hee, du, dein zotteliger Freund muss ins Tierheim, hat mein Vater gesagt. Der hat kein Halsband und keine Hundemarke. Der muss hier weg!“ Der rothaarige Junge, der am größten von den Dreien war, sprang immer wieder vom Bürgersteig auf die Straße. „Dann bist du ihn wieder los, deinen neuen Beschützer!“
Zum ersten Mal sah Andreas Vorbeck in die Augen des Jungen, der ihn Opa nannte. Es waren graugrüne Augen Sie hatten die Farbe des Meeres und den Tränenglanz der Verzweiflung.
„Irrtum“, sagte Andreas, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. „Ich nehme den Hund mit nach Hause. Er gehört ab jetzt mir.“ Erst als er es ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, was er da von sich gegeben hatte. Aber es war gesagt, und die drei Burschen, die auf ihn, Sascha und den Hund zugelaufen kamen, bremsten mitten im Schritt.
Jemand griff nach seiner Hand. „Das vergess ich dir nie, Opa“, flüsterte Sascha mit schwankender Stimme. „Du bist super!“
„Hoffentlich“, erwiderte Andreas, der einen skeptischen Blick auf den Hund warf, der allerdings sehr brav neben Sascha sitzen blieb. „Das sind wohl deine Schulkameraden?“ Er wandte sich an die drei Jungs.
„Ja. Der Andy, der Thomas und der Sven.“
„Ihr geht also alle in eine Klasse.“
„Hmmm.“
Irgendetwas schien den Dreien die Sprache verschlagen zu haben. Achtungsvoll gingen sie zur Seite, als Andreas und Sascha den Hund über die Straße führten.
Mit offenen Mündern sahen sie dann zu, wie sich die Türen des großen schweren Wagens, den sie eben noch bewundert hatten, öffneten. Andreas musste gar nichts sagen, eine knappe Handbewegung genügte und Ben sprang auf den Rücksitz, wo er sich aufrecht hinsetzte und zu den drei Stänkerern hinüberschaute.
„Wir fahren jetzt ins Einkaufszentrum in die Stadt“, erklärte Andreas besonders laut. „Da kaufen wir ein Halsband, eine Leine und jede Menge Hundefutter. Dann, bevor ich mit Ben zu mir nach Hause fahre, liefere ich dich bei deiner Mutter ab. Wenn’s zu spät wird, macht sie sich eventuell Sorgen um dich.“
„Noch ist sie arbeiten. Das wird heute etwas später, hat sie gesagt.“
„Na, hoffentlich schwindelst du mich nicht an. Sollen wir sie nicht lieber anrufen und ihr sagen, dass wir noch einkaufen fahren?“
Sascha schüttelte den Kopf. „Lieber nicht. Im Laden darf ich sie nicht stören.“
„Na gut, dann geht’s jetzt erst mal los.“ Er setzte sich hinters Steuer, und Sascha hockte sich neben seinen Freund auf den Rücksitz. Einen Kindersitz hatte Andreas natürlich nicht, er hoffte nur, dass ihn die Polizei nicht anhielt.
„Kann ich Ben mal besuchen kommen?“, fragte Sascha, als sie die ersten Meter zurückgelegt hatten.
„Am besten am Sonntag, da haben wir alle Zeit.“ Andreas drehte sich kurz um. „Ich hole dich ab.“
„Mami auch?“
„Klar, wenn sie möchte, dann kann sie gern mitkommen.“
Sascha rutschte unruhig auf den hellen Lederpolstern hin und her. „Ich muss ihr ja erst mal so einiges erklären“, murmelte er.
„Richtig.“ Andreas lächelte ihm im Rückspiegel zu. „Zum Beispiel, wie du zu einem Opa gekommen bist. Wie wär’s mit der Wahrheit? Damit fährt man noch am besten.“
*
„ICH HATTE JA NICHT die geringste Ahnung“, seufzte Kornelia und sah immer noch ein wenig ungläubig vor sich hin. Sie saß neben Andreas in dem großen Baumhaus, das er vor Jahren für den Sohn einer Freundin hatte bauen lassen. Die Freundin gab’s nicht mehr, und das Baumhaus hatte bis vorgestern ein vergessenes Dasein gefristet. Dann aber hatte er ein paar Latten reparieren lassen, weil er sicher war, dass Sascha begeistert sein würde über diesen Spielplatz.
Aber jetzt saß er mit Kornelia hier oben, Saschas hübscher Mutter, die fast ununterbrochen den Kopf schüttelte. „Dass Sascha das nötig hat! Dass es so wichtig für ihn ist, eine männliche Bezugsperson zu haben... das hätte ich nie gedacht!“
„Man lebt und lernt“, erwiderte Andreas philosophisch. „Ich wusste ja auch nicht, dass mein Hausmeister Kurt, der mehr ein Freund als ein Angestellter ist, sich seit Jahren einen Hund gewünscht hat. Dass Ben ein Berner Sennenhund ist, macht sein Glück noch größer, denn das war immer Kurts Traumhund.“
„Und Ben ist ein Berner?“
„Sagt Kurt. Und der wird’s wissen.“ Er wies nach unten auf den Rasen, wo Sascha, Kurt und Ben herumtollten. Andreas und Kornelia saßen ein wenig gebückt im Baumhaus, das Sascha schon bewundert hatte. Auch seine Mami musste natürlich hoch, und Andreas war zu ihr geklettert, um ungestört mit ihr reden zu können.
„Der Blick von hier ist schön, nicht wahr“, meinte er jetzt und wies nach links. „Da kann man sogar schon den Rhein sehen.“
„Es ist überhaupt schön bei Ihnen“, sagte Kornelia und lehnte für einen Moment den Kopf an die verhalte Rückwand, faltete die Hände um die Knie und schloss sekundenlang die Augen. Zu viel gab es zu verarbeiten!
Zuerst heute Vormittag die Eröffnung ihres Sohnes, dass er sich vor seinen Klassenkameraden unbedingt in ein besseres Licht habe bringen müssen. Dann, stockend und wirr, war die Erklärung gefolgt, wie er durchs Telefonieren zu einem Opa gekommen war. Daran schloss sich die Geschichte mit Ben an. Schließlich und endlich, in letzter Minute, genau gesagt, nämlich, als bereits die dunkle Limousine vor dem Haus hielt, die Ankündigung, dass sie heute den Hund in seinem neuen Zuhause besuchen würden.
Kornelia, die sich gerade die langen blonden Haare gewaschen hatte und außer alten Jeans und einer leicht verwaschenen Bluse einen Turban aus Frottier auf dem Kopf trug, war beim Anblick des sommerlich schick gekleideten Andreas Vorbeck vor Schreck erstarrt. Am liebsten wäre sie geflüchtet, denn abgesehen davon, dass sie sich der Situation nicht gewachsen fühlte, hatte sie sich den „Opa“ ihres Sohnes ganz anders vorgestellt.
Zu ihrer großen Erleichterung zeigte er sich nicht im geringsten erstaunt, ganz im Gegenteil. Er hatte, wie er gleich bemerkte, gar nicht erwartet, dass Sascha mit seinen Enthüllungen bereits zum Ende gekommen wäre. Nein, damit, das sie vollkommen vorbereitet war auf ihn und all die Neuigkeiten, hatte er nicht gerechnet.
Nach einigem Hin und Her, wobei der Turban verschwand und alles andere so unvollkommen blieb, wie es bei der Begrüßung schon gewesen war, hatten sie sich in den Wagen gesetzt und waren zu dem Blockhaus gefahren, das Andreas bewohnte, wie er erklärte.
Die Erwähnung des Blockhauses war für Kornelia beruhigend gewesen. Der „Opa“ wohnte also nicht allzu feudal!
Dann jedoch hatte sie der nächste Tiefschlag getroffen, nämlich der Anblick des monumentalen Wohnsitzes aus Holz und Glas auf einem Terrain unvorstellbarer Größe. Selbst der Hund Ben erschien verschwindend klein in der grünen Wildnis des Naturgrundstücks, das sich gleich an den kleineren, sehr gepflegten Gartenbereich anschloss.
Die beiden Männer - Andreas Vorbeck und sein Hausverwalter Kurt - wirkten in dieser Umgebung wie zwei große Jungs, die Indianer und Trapper spielten. Es sah beinahe so aus, als hätten sie nichts anderes zu tun, als mit dem Hund um die Wette zu laufen, ihm Stöckchen zu werfen, Feuer auf dem Grill anzuzünden, Kaffee in großen Thermoskannen ins Freie zu schleppen und den breiten, rustikalen Tisch auf der Terrasse zu decken.
Und immer wieder begeisterten sie sich an Saschas Wiedersehensfreude mit Ben - die der große Hund hundertprozentig teilte! Er bellte, sprang an Sascha hoch und animierte ihn immer wieder dazu, mit ihm über die große Wiese zu toben.
Irgendwann hatte Sascha in der riesigen Wohnhalle ein altes Karussellpferd entdeckt, das er lachend bestieg, während Ben hechelnd neben ihm auf dem Teppich lag und Kurt in die Küche ging, um Erfrischungen zu holen. Sascha wunderte sich allerdings, warum Kurt die Küche „Kombüse“ nannte, bekam aber keine Antwort darauf, die Erwachsenen schienen ihn nicht zu bemerken, sie sahen sich lange an, schienen alles um sich herum für einen Moment vergessen zu haben.
Andreas hatte die Gelegenheit, in der Sascha von dem Pferd abgelenkt war, ergriffen, um Kornelia unter die alte Buche zu führen, in deren dickem Geäst sich das Baumhaus befand. Mehr noch als alle Worte hatten seine Blick sie dazu bewogen, hinaufzuklettern - Blicke aus Augen, die so blau und unergründlich waren wie die Tiefe des Ozeans.
Andreas Vorbeck war sich der Undurchdringlichkeit durchaus bewusst, die sich in seinem Blick widerspiegelte, aber er konnte sich den wenigsten Menschen öffnen. Dazu hätte es einer längeren, ungestörten Zeitspanne bedurft, eines intensiven Dialogs, den das Leben, wie er es zu führen gewohnt war, nicht vorsah.
Hätte er geahnt, was ihm da in der Person von Kornelia Hansen begegnen würde - diese Mischung aus Ungezwungenheit und Verhaltenheit, aus Scheu und Natürlichkeit - hätte er auch nur andeutungsweise vorausgesehen, dass ihn hier und heute das Schicksal ereilen würde, wahrscheinlich hätte er dem Zusammentreffen nie zugestimmt.
Aber keine Ahnung hatte ihn gestreift! Keine innere Stimme hatte ihn gemahnt! Keine Glocke hatte angeschlagen, um ihn zu warnen. Und so nahm das Leben seinen gewohnten Lauf, indem um sechs Uhr lärmendes Autohupen erklang, ein paar offene Sportwagen mit knirschenden Reifen in der Einfahrt hielten - genau in dem Augenblick, als er gewagt hatte, nach Kornelias Namen zu fragen. Wie unabsichtlich hatte er ihr dabei den Arm um die Schultern gelegt, behutsam, fast brüderlich.
„Kornelia“, sagte sie.
„Kornelia“, wiederholte er beinahe andächtig. Dann, da er die Unruhe vor seinem Haus nicht länger ignorieren konnte, seufzte er tief auf. „Um diese Zeit überfällt mich oft eine Horde von Freunden. Wenn sie wissen, dass ich für ein paar Wochen wieder im Lande bin, kommen sie auch gern uneingeladen her. Leider!“, fügte er hinzu und sah Kornelia tief in die Augen. „Ich wünschte, wir wären unter uns geblieben. ich wünschte, sie würden abzischen, verschwinden, sich in Luft auflösen!“ Während er sprach, verzog er leicht das Gesicht, und Kornelia musste unwillkürlich lächeln.
Natürlich geschah nichts Dergleichen, Andreas’ Wunsch ging nicht in Erfüllung.
Als sie das Baumhaus verließen und auf der Erde standen, kam Irina auf sie zu. In einem raffinierten Ensemble aus einer hautengen roten Hose und einer rot-blau-weiß gemusterten Seidenbluse.
Sie musterte erst Kornelia, dann Andreas mit flackernden Blicken. Wie Blitze glitzerte es in den dunklen Augen. Dann trat sie einen Schritt auf Andreas zu und fragte: „Das ist deine berühmte Franziska, nicht wahr?“
Kornelia runzelte die Stirn.
„Ja“, hörte sie Andreas antworten, und ein kleines, fast unhörbares Aufatmen folgte dem Wörtchen. „Das ist Franziska.“
Kornelia erstarrte nicht. Sie wandte sich auch nicht abrupt ab. Sie klaubte sich nur ein paar Buchenblätter aus den blonden Haaren, sah auf ihre Armbanduhr und sagte nahezu beiläufig: „Zeit für uns, nach Hause zu fahren.“ Damit ging sie auch schon aufs Haus zu und rief ihren Sohn.
Sascha kam sofort auf sie zu. Er begriff anscheinend sofort, dass mit dem Eintreffen der partywütigen Erwachsenen die Pfadfinder-Idylle vorbei war.
Er umarmte Ben zum Abschied zärtlich und hatte nichts dagegen, als Kurt sich bereit erklärte, ihn und seine Mutter nach Hause zu fahren, da der Chef das Haus ja jetzt voller Gäste habe - wie immer am Sonntagabend, fügte er hinzu.
Andreas fühlte eine seltsame Lähmung in sich. Er war außerstande, einzugreifen und Kurt zuvorzukommen. Dabei wollte er nichts anderes, als das Zusammensein mit Kornelia noch auszudehnen und stattdessen die lauten Freunde allein zu lassen.
Aber alles, was er hervorbrachte, war: „Auf Wiedersehen. Ich rufe bald an. Schönen Abend noch.“
Weltmännisch war das nicht. Ganz im Gegenteil. Er spürte es selbst, aber er konnte einfach nichts anderes sagen.
Kornelia nickte. „Danke gleichfalls“, erwiderte sie und ging zum Wagen. Dort schob sie Sascha nach hinten, legte sich selbst den Sicherheitsgurt um und drehte sich kein einziges Mal mehr um.
*
ZWEI GANZE TAGE LANG bezwang sich Andreas Vorbeck. Zwei Tage versuchte er die innere Unruhe zu beherrschen. Aber es ging nicht. Immer musste er an Kornelia und ihren Sascha denken...
Schließlich rief er bei ihr an.
„Hallo, Opa!“, kam Saschas Stimme erfreut durch die Leitung. „Ich krieg ein gutes Zeugnis! Herr Pfaff hat’s mir heute gesagt!“
„Ist ja toll. Ich bin stolz auf dich.“
„Mami auch!“
„Du, Ben lässt dich herzlich grüßen. Er kann selbst nicht sprechen, weil er gerade einen dicken Knochen kaut. Ein armdickes Ding. Auf jeden Fall würde er dich gern am nächsten Wochenende sehen. Kannst du am Sonntag kommen?“
„Nächsten Sonntag“, erwiderte der Junge halb eifrig, halb betrübt, „haben wir Schulfest.“
„Das ist aber schade! Die Woche über bin ich in Berlin, da kann ich nicht.“ Andreas merkte es selbst nicht, aber seine Stimme klang mindestens so enttäuscht wie die von Sascha.
„Wie wär’s denn dann mit Samstag?“
„Warte mal, ich muss Mami fragen.“ Eine Weile blieb es still in der Leitung. Dann kam Sascha wieder, hörbar atemlos. „Mami ist gerade draußen am Mülleimer. Samstag geht aber auch nicht, da sind Bundesjugendspiele.“
„Na so was“, seufzte Andreas. “Ich denke, es wird schwer sein, Ben das beizubringen. Halten wir einmal das übernächste Wochenende fest, ja?“
„Gut, Opa. Tschüss!“
Am übernächsten Wochenende hatte Kornelia ein Buchhändlertreffen, weshalb Sascha den ganzen Samstag bei Andreas, Kurt und Ben verbringen durfte - allein, versteht sich.
Danach verabschiedete er sich in die Ferien.
„Was denn? Schon?“, wunderte sich Andreas.
„Klar. Wir fahren gleich am Anfang der Ferien weg, weil Mami später nicht mehr weg kann aus der Buchhandlung. Dann ist nämlich Schulbuchgeschäft“, erklärte der Knirps mit wichtiger Miene.
„Ach so! Und wohin geht die Reise?“ Andreas wartete gespannt auf die Antwort. Er gestand es sich nicht ein, aber er sehnte sich danach, Kornelia wieder zu sehen. Sie war so ganz anders als die Frauen, mit denen er normalerweise in Kontakt kam. Da waren Filmsternchen und solche, die es werden wollten. Da gab es gestandene Schauspielerinnen mit mehr oder weniger starken Allüren. Da waren Geschäftspartnerinnen, Bankerinnen, Freundinnen... von Letzteren gab es etliche, doch nicht eine hatte ihn je so fasziniert wie Kornelia mit ihrem ungekünstelten Wesen und ihrem natürlichen Charme.
Sascha dachte eine Weile nach, dann strahlte das kleine Gesichtchen auf. „Ich weiß es wieder: nach Friesland auf einen Bauernhof. Da hab ich was zu tun, sagt Mami.“
„Die Adresse weißt du nicht?“
„Doch. Jetzt wieder. Sie ist ganz komisch...“ Er kicherte.
„Komisch? Wieso?“
Sascha lachte. „Samtgemeinde Leer. Alter Herrenhof.“
„Sieh mal an! Ganz in der Nähe habe ich ein Ferienhaus. Vielleicht melde ich mich mal bei euch.“
„Super, Opa! Ich freu mich!“
*
UNGEWOHNT WAR VIELES auf dem Alten Herrenhof in der Samtgemeinde Leer, zum Beispiel der weite Blick über das flache Land, der nirgendwo einen Halt zu finden schien, wie auch die Geräuschkulisse beim Aufwachen morgens, die von Traktorengebrumm übers Muhen der Kühe bis zum Hahnenschrei reichte.
„Ich find’s super“, meinte Sascha zufrieden, der ein Frühaufsteher war und nichts so sehr verabscheute wie eine totenstille Morgenstunde.
„Mir macht es inzwischen auch nichts mehr aus“, musste Kornelia eingestehen. „Schließlich sind wir ja weggefahren, um mal was anderes zu sehen und zu hören als die Dinge zu Hause.“
Nach zwei Wochen dann gab es die ganz große Veränderung:
Der Anblick des schweren Wagens mit der bekannten Nummer in der Einfahrt des Alten Herrenhofs war für Kornelia ein Schock. Sie erstarrte förmlich und spürte, dass ihr Herz einen total verrückten Trommelwirbel schlug. Sie saß unter einem sturmgebeugten Apfelbaum und hatte so weiche Knie, dass sie sich nicht gleich erheben konnte.
„Das darf ja nicht wahr sein!“, sagte sie laut in die heiße Mittagsstille hinein und richtete sich nur starr auf.
Doch noch bevor sie Andreas Vorbeck aussteigen sah, hört sie bereits Sascha ganz begeistert rufen: „Opa! Opa!“ Die Kinderstimme überschlug sich vor Begeisterung. „Du hast uns wirklich hier gefunden! Supergeil!“
Dann sah sie, wie Andreas den Jungen hochhob und durch die Luft schwenkte. Es war eine Begrüßung, die so vertraut, so normal wirkte, dass es ihr einen Stich ins Herz gab.
Nur mit Mühe stand sie auf und ging langsam auf die beiden zu, die neben dem Wagen standen und lebhaft miteinander redeten.
„Was hat Sie denn in diese Abgeschiedenheit geführt?“, erkundigte sie sich, noch bevor sie Andreas die Hand zur Begrüßung gereicht hatte.
„Ach, nichts Besonderes eigentlich. Ich logiere im Sommer gelegentlich hier in der Nähe. Da dachte ich... also, da hab ich mir vorgestellt, ich könnte... wir könnten uns mal sehen und...“
Kornelia verschränkte die Arme, die inzwischen einen wundervollen Bronzeton angenommen hatten, vor der Brust und blinzelte Andreas abwartend an. Es tat ihr gut, diesen weitgereisten, wortgewandten Mann, der im Geschäftsleben sicher vollkommen souverän wirkte, zum Abwechslung mal verlegen stammeln zu hören.
„Wo ist eigentlich Ben?“, fragte Sascha in diesem Moment.
Andreas legte ihm den Arm um die Schultern. „Den hab ich vorsichtshalber zu Hause gelassen. Kurt geht bestimmt in diesem Moment mit ihm an dem kleinen Fluss spazieren, der durch unser Dorf führt und der auch direkt an meinem Grundstück entlang fließt. Weißt du, ich hatte Angst, dass Ben sich eventuell mit den Hofhunden hier nicht versteht. Und am Wasser hat er Spaß.“
„Hätte ich auch“, meinte Sascha sehnsüchtig.
„Das trifft sich gut. Ich wollte dich und deine Mutter nämlich einladen, mich mal zu besuchen. Der Dorfbäcker macht ganz hervorragenden Kuchen.“
Sascha, nur mit Shorts bekleidet, führte einen wilden Freudentanz auf. Kornelia fing ihren Sohn schließlich auf und fuhr ihm mit der Hand durchs strubbelige blonde Haar.
„Ist es weit?“, erkundigte sie sich bei Andreas.
„Nein, nicht sehr. Nur bis zur Küste. Der kleine Dorfbach mündet kurz hinter dem Dorfende ins Meer.“
„Sollen wir uns stadtfein machen? Bekommen Sie da auch wieder Gäste aus der Großstadt?“
„Bloß nicht! Die kennen den Ort nicht mal. Es reicht, wenn sie mich daheim immer wieder überfallen.“ Er lächelte Kornelia an. „Sie sehen toll aus, bleiben Sie ruhig, wie Sie sind.“
„Sicher ist sicher“, murmelte Kornelia, als sie ihren Sohn ungeachtet seines lebhaften Protestes mit ins Haus nahm und ihn in ein frisches T-Shirt steckte. Anschließend vertauschte sie ihr zerknittertes schlichtes Trägerkleid mit einer hellen Hose und einer mintfarbenen Seidenbluse. Wer weiß, ob sich nicht doch ein paar von seinen Jetset-Freunden hier herauf in den Norden bequemen, dachte sie. Er hält es wahrscheinlich ohne diesen Trubel keine Woche aus - und diese Horde von reichen Nichtstuern auch nicht.
Aber sie sah sich bald darauf getäuscht.
Das Friesenhaus aus roten Ziegeln, reetgedeckt, träumt in der Mittagssonne still vor sich hin.
Die Rosen am Eingang neigten sich den Ankömmlingen entgegen. Sie wetteiferten mit dem Rittersporn, der links in einem Beet stand und vor dem kleinwüchsige hellrote Rosen blühten, um die Wette.
Ben drehte sich in der geräumigen Diele vor Wiedersehensfreude immer wieder wild um sich selbst, er freute sich mindestens so sehr wie Sascha über das Wiedersehen.
Im Wohnzimmer, in das Andreas seine Besucher führte, blinkten Kacheln an den Wänden, und auf dem Dielenboden lagen helle Webteppiche, die einen guten Kontrast zu den dunklen Deckenbalken bildeten.
Alles in allem war es ein Haus, in dem man sich wohlfühlen konnte. Nicht protzig, wie Kornelia befürchtet hatte, sondern urgemütlich und anheimelnd.
Kaffee und Kuchen waren vom Hausherrn schon vorbereitet worden. Streuselkuchen, den Sascha besonders liebte, wenn er mit Kirschen verfeinert war, wartete schon unterm Glassturz. Blauweißes Geschirr, das zur blauen Tischdecke mit dem weißen Spitzeneinsatz passte, stand bereits auf dem Tisch. Ebenso natürlich eine Kanne Kakao für Sascha.
Was für ein hübscher Anblick, ging es Kornelia durch den Sinn. Es wäre wirklich schade gewesen, wenn sie nicht mitgekommen wäre! Dieses Haus und der Garten, der bis zum Wasser reichte, waren einfach märchenhaft schön!
Sie warf dem Hausherrn einen verstohlenen Blick zu. Gut sah er aus. Er passte in dieses Haus, in diese Umgebung. Besser eigentlich als zu den Jetset-Freunden, die ihn daheim überfielen und mit denen er sicherlich auch in Berlin oft zusammen war.
Karolines Herz erwärmt sich allmählich, während Andreas es spürbar vermied, sie mit ihrem Namen anzusprechen. Umso emsiger war er bemüht, es ihnen behaglich zu machen. Es schien ihm sehr daran gelegen zu sein, dass sich Mutter und Sohn wohl fühlten.
Und er wurde nicht müde, Saschas unzählige Fragen zu beantworten. Zum Beispiel, ob Kurt auch für längere Zeit hier bliebe. Und ob sie hinterher, nach dem Kaffeetrinken, mit Ben zum Strand hinuntergehen könnten. Wie lange sein „Opa“ hier in seinem Landhaus bleiben würde. Ob er ein Schwimmabzeichen habe - und wenn ja, welches.
Immer neue Fragen fielen ihm ein, und Andreas beantwortete sie geduldig.
„Sascha“, meinte Kornelia nach einer Weile, als sie glaubte, nun sei es endlich genug mit dem Examinieren, „jetzt sei mal leise, setz dich wieder hin und halt den Mund.“
Andreas lachte. „Die letzten beiden Fragen hab ich ja noch nicht beantwortet. Also: Kurt und ich, wir bleiben noch ein Weilchen hier. Und: Ich habe den Rettungsschwimmer gemacht. Wenn man hier am Meer lebt, ist das Ehrensache.“
„Aber du lebst doch nicht hier!“, wandte Sascha ein und sah ihn zweifelnd an.
„Jetzt nicht mehr, da hast du recht. Aber ich bin hier aufgewachsen. Als ich so klein war wie du, bin ich im Nachbardorf, das ein bisschen größer ist, zur Schule gegangen. Das hier war das Haus meiner Großeltern.“
„Aha.“ Sascha machte große Augen, aber fürs Erste war sein Wissensdurst gestillt. Er zog es vor, mit Ben ein bisschen durch den Garten zu toben, statt mit den Erwachsenen noch länger am Kaffeetisch sitzen zu bleiben.
Nachdem Kornelia die dritte Tasse Kaffee halb ausgetrunken hatte, schlenderten sie durch die spärlich bewachsenen Dünen, während Sascha mit Ben weit entfernt herumtobte. Man hörte nur das Lachen des Jungen und hin und wieder Bens übermütiges Bellen.
Der Himmel stand blau und klar über Land und Meer. Am Horizont fuhren drei Schiffe vorbei, sie waren so weit entfernt, dass man nicht einmal erkennen konnte, ob es Passagierdampfer waren oder Frachter.
„Beim nächsten Mal nehmen wir ein Fernglas mit“, sagte Andreas. „Dann können wir genau erkennen, wer hier entlang fährt.“
Irgendwann erreichten sie den kleinen Friedhof des Ortes. Andreas griff nach Kornelias Hand. „Komm mit, ja?“
Sie folgte ihm, und es war wie selbstverständlich, dass er sie duzte.
Nach ein paar Metern blieb er vor einem windschiefen Holzkreuz stehen. Nur ein Name stand darauf: Franziska Vorbeck.
„Den wollte ich dir zeigen“, sagte Andreas mit ein wenig heiserer Stimme, „um ein Missverständnis zwischen uns aus der Welt zu schaffen.“
Kornelia schwieg betroffen. Aus großen Augen sah sie ihn an. Sie sah die leichte Wehmut in seinem Blick, als er nochmals zu dem Grab hinunter schaute. Sie sah die kleinen Fältchen um seine Augen. Sie sah seinen Mund...
„Sie war meine Mutter“, sagte Andreas in diesem Moment. „Ihr Name steht für das Wesen, das ich immer gesucht habe - einen Menschen, der exakt für mich gemacht zu sein scheint. Franziska... das ist ein Sinnbild, weiter nichts.“
Kornelia sah ihn an. „Deshalb also hast du mich Franziska genannt?“
„Ja.“
„Aber... du kennst mich doch gar nichts. Woher willst du wissen, ob ich dem Wesen entspreche, das du suchst?“
„Kornelia.“ Er sprach ihren Namen mit großer Zärtlichkeit aus, dabei sah er sie nicht an, sondern malte mit der Schuhspitze kleine Zeichen in den Sand. „Ich bin vierzig Jahre alt und habe, wenn sonst nichts, reichlich Menschenkenntnis gesammelt. Menschen auch, ja. Aber es war keine einzige Frau darunter, die mir das Gefühl gegeben hätte, am Ende meiner Suche, am Ziel meiner Wünsche zu sein. Sonst hätte ich sie geheiratet. Das kannst du mir glauben.“
Kornelia wusste nicht ein noch aus. Sie blickte auf den Sand zu ihren Füßen, dann wieder zum blauen Himmel hinauf und schließlich, weil es sie magisch anzog, in Andreas’ Gesicht.
Da war so viel Ernst in seinen Augen, aber auch so viel Zärtlichkeit, dass sie beinahe erschrak.
„Wenn du mir doch nur glauben würdest!“ Er streckte beide Arme nach ihr aus.
„Aber das tu ich doch! Ich zweifle nicht an deinen Worten. Ich weiß nur nicht...“ Hilflos brach sie ab.
„Was du damit anfangen sollst?“ Er lachte leise.
„So ungefähr, ja. Versteh mich, Andreas, für mich dreht sich die Welt im Augenblick viel zu schnell. Ich komme mir vor wie auf einer Achterbahn - und ich hab Angst, herunterzufallen.“
„Dann halt ich dich.“ Er griff nach ihren Händen.
„Mir ist ganz schwindelig“, murmelte Kornelia. „Haben wir Zeit, über alles nachzudenken und in Ruhe zu reden?“
Er nickte. „Alle Zeit, die wir brauchen - und noch mehr.“
Kornelias Züge entspannten sich. „Dann ist’s gut.“ Ihre Augen glänzten, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und Andreas einen Kuss auf die Wange hauchte.
Er wollte sie fester an sich ziehen, doch sie entwand sich ihm. „Später“, lächelte sie. „Wir haben doch Zeit!“
*
SASCHA, DER MIT BEN auf einem Hügel aus Sand und Gras gewartet hatte, schien nichts dabei zu finden, das Andreas und seine Mutter Hand in Hand auf ihn zukamen.
Auch hatte er nichts dagegen, im Ziegelhaus unter dem Reetdach zu übernachten, nachdem sie im Alten Herrenhof angerufen und sich abgemeldet hatten. Er schlief in einem gemütlichen alten Bett, Ben auf einem Flickenteppich davor.
Draußen vor dem Haus, auf einer Bank unter einem hellroten Rosenbogen, saßen Andreas und Kornelia. Sie sahen die Dämmerung sinken, den Tag sich allmählich zur Nacht verdichten, sie hörten den Wind mit dem Strandhafer spielen, den Schrei der Möwen und das Rauschen des Meeres.
Sie sprachen erst einmal gar nichts, genossen die Nähe des anderen. Dann, als die Schatten länger wurden, sprachen sie über Ereignisse, an die sie schon jahrelang nicht mehr gedacht hatten, obwohl ihr Leben davon geprägt worden war.
Sie sprachen rückhaltlos über alles. Über Sascha. Über seinen Vater, einen Kunststudenten, der sich im letzten Semester als Reiseleiter nach Griechenland verpflichtet hatte und so viel Geschmack an der Ägäis fand, dass er nicht mehr zurück nach Deutschland kam. Das Meer, die Frauen, die im Sommer in Scharen kamen, die laue Luft und der Wein waren faszinierender als das Studium. Und faszinierender als die strebsame Kornelia.
„Er soll jetzt auf einer Insel leben und malen“, schloss Kornelia dieses Kapitel ab. „Vor einigen Jahren hat er mir durch einen Freund, der ihn dort besucht hat, ausrichten lassen, ich könne ja nachkommen.“
„Und? Hast du es nie erwogen?“
„Keine Minute. Ich bin nicht dafür gemacht. Weder für Abenteuer noch für ein Leben in Müßiggang. Mir war das nicht wichtig genug - und auch er war nicht wichtig genug - um alles andere aufzugeben.“
„Gott sei Dank! Und was ist dir wichtig?“ Er sah ihr in die Augen, die jetzt, im Schein einer Lampe und im matten Licht des Mondes, ganz besonders glänzten.
„Vieles. Sascha vor alle, seine Entwicklung und seine Interessen. Mein Beruf ist wichtig, die Buchhandlung und alles, was damit zusammenhängt. Es ist ein Teil meines Lebens.“
„Und die Liebe?“
„Die ist in den letzten Jahren entschieden zu kurz gekommen“, erwiderte Kornelia mit einem kleinen Lächeln.
„Macht nichts.“ Er zog sie an sich. „Das holen wir alles nach.“
Fast stand ihr Herz still bei seiner Umarmung, bei der Berührung seiner Lippen, als er sie küsste.
„Ich liebe dich“, flüsterte er. Es klang wie ein Schwur und so, als sei er selbst zutiefst verwundert. „Das habe ich noch nie gesagt, aber es ist die Wahrheit. Und damit müssen wir nun fertig werden.“
„Kopf hoch!“ Sie lachte ihn glücklich an, dabei glitzerten Tränen in ihren Augen. „Wir beide sind im Leben doch schon mit Schlimmerem fertig geworden, nicht wahr?“
Er nickte. „Bleib bei mir, Kornelia.“
Sie umfasste sein Gesicht mit beiden Händen und sah ihm in die Augen. „Willst du das wirklich?“
„Ja.“
„Dann will ich es auch.“
*
ALS DIE FERIEN ZU ENDE gingen, wurde Sascha in seiner Schule abgemeldet.
„Er ist mit seiner Mutter umgezogen“, erklärte Herr Pfaff seiner Klasse. „Zu seinem Vater, wo auch der Hund untergekommen ist, um den sich Sascha vor Monaten so gesorgt hat.“
Ein Raunen ging durch den Raum, alle fanden diese Neuigkeit sehr interessant.
Nur Andy zuckte gleichmütig mit den Schultern und schob geräuschvoll seinen bunten Rucksack mit den Schulsachen unter die Band. „Ich hab ja gleich gesagt, dass der Mann mit dem tollen Auto nicht sein Opa ist!“
„Nicht? Wieso nicht?“, flüsterte Thomas verständnislos.
„Für einen Opa war der gar nicht alt genug!“
––––––––
ENDE