Читать книгу Die Blaue Ritterin - Sarah Knausenberger - Страница 14

Kapitel 3

Оглавление

Mit dem letzten Schlag der Kirchturmglocken senkt sich die Brücke rasselnd über den Graben. Ich treibe mein Pferdchen an, und es klackert fröhlich hinüber zur Burg, denn es weiß, dass der Torhüter immer Zuckerstückchen in der Tasche hat.

»Ihr werdet schon erwartet«, begrüßt uns Wächter Eichenast und lacht sein knorriges Lachen, als Sturm die Nüstern in seinen Mantel gräbt. Ich springe herab, reiche Eichenast die Zügel und meinen Helm. Jetzt die Treppen hinauf. Über weiche, wunderbare Teppiche laufe ich. Diesmal nehme ich mir nicht wie sonst die Zeit, all die herrlichen Figuren und Muster darauf zu bewundern, ich möchte endlich wieder bei ihr sein. Überall, wo man mich erblickt, beginnt ein wohlwollendes Raunen.

»Sie ist da, die Blaue Ritterin ist angekommen …« Und: »Sie hat es geschafft! Sie hat durchgehalten!«

Ein Diener rennt vor mir her, um mich anzukündigen. Aber das ist kaum nötig, denn schon bin ich in der großen Halle. Die Strahlenfrau erhebt sich und eilt mir entgegen. Sie nimmt meine beiden Hände und küsst mich auf die Stirn. Dann geleitet sie mich zum Kamin. Sie nimmt dem Diener eine flauschige Decke ab und legt sie um meine Schultern. Mi und Mo, meine Spielgefährten, stehen hinter dem Sofa und strahlen mich an. Heute sind sie beide ganz blau gekleidet, so wie ich. Bestimmt, um mir eine Freude zu bereiten. Eifrig klopfen sie die Sofakissen für mich zurecht. Ach, Mi und Mo. Ihr seid so gut zu mir.

Wir setzen uns, und die Strahlenfrau sagt nur ein Wort: »Erzähle.«

Ihre Augen sind voller Wärme und Mitgefühl, denn sie weiß, dass ich von der anderen Seite oft mit Verletzungen zurückkehre. Keine kann ich vor ihr verbergen.

Also erzähle ich, wie Julius und Ossi mich verfolgt haben. Wie ich um mein Leben rennen musste und dabei gestürzt bin. Besorgt sieht die Strahlenfrau mich an.

»Zeig mir dein Knie.« Sie verarztet mich mit einer Salbe aus duftenden Kräutern und summt dabei zauberhafte Melodien.

Diener huschen herein, sie bringen Tabletts mit Gebäck und Säften, das Feuer knistert und ich wünschte, ich müsste nie wieder zurück auf die andere Seite.

Später gehen wir noch im Paradiesgarten spazieren. So nenne ich den Park, der die Burg umgibt, denn er ist wunderschön. Die riesigen Baumkronen und blühenden Büsche sind voller Vögel. Sie kreischen nicht, sie pfeifen zauberhafte Melodien. Nicht Hänschen-Klein oder so. Viel schönere Lieder als Menschen sie sich jemals ausdenken könnten.

Die Strahlenfrau stützt mich, wegen des Knies.

»Es tut schon gar nicht mehr weh«, sage ich.

»Wie tapfer du bist.«

Als wir an einem Beet mit blauen Irisblumen vorbeikommen, bückt sich die Strahlenfrau hinunter, wie um eine zu pflücken. Aber sie berührt die Blüte nur, und schon liegt sie in ihrer Hand.

»Für meine Blaue Ritterin«, sagt die Strahlenfrau und steckt mir die Blüte ins Haar. Wir kommen zu einer kleinen Wiese, die mitten im herrlichen Sonnenschein liegt. Schmetterlinge flattern zwischen den Wildblumen herum. Es duftet nach Lavendel. »Oh, wie schön«, sage ich. »Hier würde ich gern mal ein Picknick machen.« Genau da kommen Mi und Mo mit einem Picknickkorb den Pfad entlang.

»Woher …«, sage ich, aber sie lachen nur und stellen den Korb auf der Wiese ab. Mi holt ein Tuch heraus, Mo fasst es an der anderen Seite. Als sie das Tuch auf der Wiese ausbreiten wollen, kommt ein Windstoß und bläht es auf, wie ein riesiges Segel. Ich eile ihnen zu Hilfe, lachend bändigen wir das Tuch und beschweren es mit Dingen aus dem Korb. Was da alles drin ist: Saftflaschen. Eine Schüssel Nudelsalat. Ein Kuchen. Eine Schale Erdbeeren, Tüten voller Plätzchen und noch viele weitere Köstlichkeiten. Auch Kissen haben sie mitgebracht, wir machen es uns gemütlich. Mi verteilt Gläser, die unten spitz sind wie Eistüten. Mo schenkt ein. Und dann stoßen wir an: »Auf die Rote Burg!«, »Auf die Blaue Ritterin!«

Und dann tue ich, was die anderen tun: Ich pikse mein halbvolles Glas einfach in die Erde. Ein Schmetterling kommt angeflogen, setzt sich an den Rand des Glases und steckt seinen langen, dünnen Rüssel in den roten Saft. Ich lege mich auf den Bauch und sehe ihm zu. Als er genug hat, schwingt er sich auf und fliegt davon, Richtung Sonne, und in seinem winzigen Magen ist ein Tropfen von meinem Saft.


Es ist halb acht, als ich mich am nächsten Tag ohne Schulsachen auf den Weg zur Schule mache. Wie seltsam sich das anfühlt. Hoffentlich finde ich den Ranzen gleich. Wenn ich es schaffe, am Zebrastreifen zu sein, bevor ein Auto vorbeifährt, dann ist er noch da!

Ich rase los, ein Auto hält mit quietschenden Reifen.

»Du bist wohl nicht ganz dicht!«, brüllt ein Kopf, der sich aus dem Autofenster reckt. Schnell mein Visier runterlassen und weiter. Jetzt bin ich bei der Unterführung. Da, das muss die Stelle sein …

Mein Herz beginnt laut zu pochen. Da liegt kein Ranzen!

Dreimal geh ich hin und her, schaue an beiden Ausgängen. Nichts. Ob ich warten sollte, bis die Eisdiele aufmacht? Vielleicht ist er ja dort abgegeben worden. Aber die machen sicher erst um acht Uhr auf. Wenn überhaupt. Es hilft alles nichts, ich muss so zur Schule.

Wenn Mamas Kollegen mich fragen, in welche Schule ich gehe, und ich sage, in die Pestalozzischule am Ring, dann sagen sie: »Oh, diese wunderbare Schule in dem schönen Altbau!«

Aber für mich ist die Schule wie ein Gefängnis. Der Pausenhof ist leer, als ich ankomme, der Unterricht hat angefangen. Sicher sitzen alle schon auf ihren Plätzen, und sicher werden sich alle nach mir umdrehen, wenn ich jetzt reinkomme. Herr Holtigbaum wird fragen, wo mein Ranzen ist, und ich werde keine Antwort rausbekommen …

Nein, es geht nicht. Ich kann da jetzt nicht rein. Langsam drehe ich um und schlurfe nach Hause.

Im Hundepark gucke ich einer Frau zu, die ihren Dackel trainiert. »Sitz!«, sagt sie, und läuft bis ans Ende der Wiese. Dann dreht sie sich um und ruft: »Komm zu Mami, Werner. Komm!«, und haut sich auf die Oberschenkel. Auf krummen Beinchen rast der Dackel los. Tss …

Wenn ich einen Hund haben dürfte, würde ich mir einen eleganten Jagdhund aussuchen. Er könnte dann neben mir herrennen, wenn ich mit Sturm zur Burg galoppiere …

Ich gehe weiter.

Zu Hause muss ich ganz leise sein, damit Frau Schilling mich nicht hört. Die erste Stunde ist noch ganz gemütlich. Ich koche mir einen Früchtetee mit sehr viel Honig, setzte mich damit auf den Teppich.

Dann stricke ich.

Dann lese ich. Aber irgendwann macht mir nichts davon mehr Spaß. Rausgehen kann ich nicht, wegen Frau Schilling. Irgendwann liege ich einfach auf dem Rücken und starre an die Decke. Was sie wohl in der Schule jetzt gerade machen?

In Gedanken gehe ich die Leute in meiner Klasse durch. Es sind nur sechs Mädchen, und alle außer mir gehören einer Clique an, den Dramaqueens. Unser Englischlehrer hat sie einmal so genannt, weil sie beim Anblick eines Weberknechts völlig ausgeflippt waren.

Das arme Ding hatte sich am Fenster in einem Spinnennetz verheddert. Ich befreite es mit einem Bleistift aus seiner Falle und die Sache war erledigt. Aber der Name Dramaqueens ist geblieben.

Nur ich gehöre nicht dazu.

Und die Jungs? Ossi ist mein Erzfeind, und Julius und die meisten der anderen Jungs hängen mit ihm rum. Alle außer Ole. Er ist ein Eigenbrötler.

Er sagt »Muttchen« statt Mutter und redet ein bisschen wie mein Großvater, als er noch lebte. Er ist etwas seltsam, aber ich mag ihn irgendwie …

Ich glaube, das hier ist der langweiligste Tag meines Lebens. Als es endlich dämmert und ich endlich, endlich die Kirchturmglocken höre, fühlt es sich an, als hätte ich Jahre lang darauf gewartet.

Die Blaue Ritterin

Подняться наверх