Читать книгу Die Blaue Ritterin - Sarah Knausenberger - Страница 20
Kapitel 6
ОглавлениеDas Feuer prasselt. Ich sitze neben der Strahlenfrau am Kamin, sie strickt an einem Schal für mich. Er ist schon ganz lang, aber sie strickt immer weiter. Mi und Mo gesellen sich zu uns.
»Blaue Ritterin!«, rufen sie. »Lass uns Bilder-Öffnen spielen!«
Ich gucke zur Strahlenfrau hoch. »Geh nur«, sagt sie und lächelt. Wir fassen uns an den Händen und schlittern über den herrlich glatten Parkettboden hinüber zu den Wänden, an denen die Bilder hängen. Los geht’s.
Mi und Mo sagen, dass nur ich es kann, und ich finde, es geht ganz einfach. Ich stelle mich vor ein Bild, schaue eine Weile auf eine bestimmte Stelle, und dann fängt es an. Manchmal ist es erst ein Blättchen an einem Zweig, das wackelt. Dann hebt das Pferd, das auf der Wiese gegrast hat, den Kopf und beginnt zu wiehern. Nach und nach beginnen alle Dinge und Figuren, sich zu bewegen und zu sprechen. Aber mich sehen sie nicht. Und ich muss ganz still sein. Sobald ich mich auch nur das kleinste bisschen bewege, hört es auf.
Mi und Mo lieben dieses Spiel, und gerade hüpfen sie an den Wänden entlang, um sich ein neues Bild auszusuchen.
»Dieses!«, rufen sie und bleiben vor dem Bild mit dem Hafen stehen. Ich stelle mich neben sie. Direkt vor uns liegen bunte Fischerboote, weiter hinten ankert ein Dreimaster. Auf den Fischerbooten sind Männer damit beschäftigt, schillernde Fische aus den Netzen in große Bottiche zu werfen. Es dauert nicht lange, da beginnen die Fische zu zappeln. Möwen flattern kreischend um die Fischer herum und Wasser platscht an die dicken Pfeiler des Steges. Mo hält sich die Nase zu, und es stimmt, ein strenger Fischgeruch breitet sich aus, hoffentlich stört er die Strahlenfrau nicht.
»Schau mal, ob du auf dem großen Schiff dort hinten den Kapitän siehst«, bittet mich Mi. Ich kneife die Augen zusammen. Ein paar Matrosen sind an Deck beschäftigt. Sie tragen Hüte mit flatternden Bändern. Aber wo steckt wohl der Kapitän? Ich beobachte eine Tür in der Kabine ganz oben. Tatsächlich, sie öffnet sich und ein bärtiger Kopf schiebt sich heraus. Er pafft an einer Pfeife.
»Das ist er!«, juchzen Mi und Mo. Ich blicke dem Rauch der Pfeife nach, der in kleinen Wölkchen nach oben steigt und sich dort verflüchtigt. Auf einmal verspüre ich den Drang, mich zu strecken. Auch ein Gähnen kann ich nicht unterdrücken. Sofort erstarrt das Bild.
»Ohhh«, machen Mi und Mo enttäuscht.
»Tut mir leid«, sage ich. »Aber ich möchte jetzt mal nach meinem Türmchen sehen.«
»Natürlich!«, rufen sie sofort. »Wir zeigen dir den Weg.«
»Wisst ihr was?«, sage ich. »Ich würde gern versuchen, das Türmchen selber zu finden. Schließlich werde ich ja auch bald Burgbewohnerin sein.«
Die beiden wechseln einen Blick.
»Gut«, sagt Mi. »Aber wir folgen dir. Wenn du dich verläufst, musst du nur nach uns rufen.«
»Danke.«
Die Tür ins Innere der Burg ist schwer. Ich brauche beide Hände, um sie zu öffnen. Endlich hab ich es geschafft. Dann folge ich dem Gang. Hier ging es die Treppen hoch, ich erinnere mich an den verschnörkelten Geländerknauf. Aber wie viele Stockwerke waren es? Muss ich hier schon in den Flur abbiegen oder erst noch etwas höher steigen? Ich biege ab. Vielleicht erkenne ich ja etwas wieder. Wie finster es ist. Dumm, dass ich keinen Kerzenleuchter mitgenommen habe. Ich taste mich an der Wand entlang, folge einem Lichtschimmer. Er kommt aus einem Raum am Ende des Flures, dessen Türe offensteht. Da ist er. Aber seltsam. Er ist ganz kahl. Nur ein goldener Fußhocker steht verloren herum, und an der Wand lehnen ein paar Gemälde.
Ich gehe weiter und entdecke noch mehr solcher Räume. Wozu die wohl genutzt werden? Oder sind sie einfach übrig? Plötzlich stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn die Kinder aus meiner Klasse hier wären. Man könnte herrlich Verstecken spielen. Oder Räuber und Gendarm! Womöglich würde Ossi seinen Fußball hier herumkicken … ach was. Niemand von ihnen wird je hierherkommen. Sie kennen ja das Geheimnis nicht. Und außerdem würden sie eh nicht mit mir spielen.
Mittlerweile habe ich mich zurück getastet zu der breiten Treppe und steige noch ein Stockwerk weiter hoch. Ob ich nach Mi und Mo rufen soll? Nein, ich möchte mein Türmchen selber finden können. Und tatsächlich stehe ich plötzlich vor der Wendeltreppe mit dem blauen Geländer.
Ich fliege die Stufen hinauf. Ja! Da ist mein kleines Paradies. Die Handwerker sind verschwunden. Aber das Himmelbett ist fertig! Das Mosaik noch nicht ganz, aber jemand hat weiter daran gearbeitet. Und ein blauer Sessel wurde ans Fenster gestellt. Ich lasse mich darauf fallen. Wie gemütlich er ist. Von draußen höre ich das liebliche Zwitschern der Vögel. Ich stelle mir vor, wie es wäre, jeden Abend hier hereinzukommen, mich umzukleiden und ins Himmelbett zu steigen. Die Strahlenfrau würde noch bei mir sitzen und mir gute Nacht sagen. Aber dann … dann würde sie gehen. Und ich wäre alleine hier, und unter mir wäre der finstere Gang mit den kahlen Räumen …
Ich stehe auf und trete ans Fenster. Heute ist die Aussicht nicht ganz so schön wie beim letzten Mal. Der Himmel ist bedeckt, ich glaube, es nieselt sogar. Auf einmal beginne ich zu frieren. Gibt es hier einen Kamin? Ich sehe mich um. Doch, da hinten – und wie hübsch er ist. Aber natürlich brennt noch kein Feuer darin … Fast bin ich erleichtert, als ich Schritte auf der Treppe höre, und Mi und Mo in der Türe erscheinen.
»Da seid ihr ja!«, rufe ich und renne auf sie zu.
»Willst du schon zurück?«, fragt Mo erstaunt.
»Och – ja«, sage ich. »Es ist kalt hier oben. Außerdem bin ich müde.«
Sie begleiten mich zurück zur Strahlenfrau. Sie sitzt noch immer am Kamin in der Strahlenhalle.
»Ihr war kalt«, sagt Mi zur Strahlenfrau.
»Und sie ist müde«, sagt Mo. Die Strahlenfrau legt das Strickzeug zur Seite, nimmt meine Hand. Die Haare fließen ihr hell über die Schultern. Zwei Falten bilden sich zwischen ihren Augenbrauen. »Komm zu mir.«
Sie klopft auf den freien Platz neben sich. Mi und Mo klopfen wieder die Kissen zurecht, und ich setze mich.
»Es ist nicht nur die Müdigkeit«, sagt die Strahlenfrau. »Ich sehe einen Schatten über deinem Herzen.«
»Einen Schatten?«
»Ja. Fehlt dir etwas?«
»Hmm …« Ich überlege.
»Ist es wegen deinem … Razan? Ist er immer noch weg?«
»Razan? Ach so, du meinst meinen Ranzen. Nein, den hab ich jetzt wieder. Ich weiß sogar … Na ja, nein. Ich weiß nicht, wer ihn gefunden hat …«
»Und ist das der Grund, warum du traurig bist?«
»Nein, das doch nicht.«
»Aber was ist es dann? Was fehlt der Blauen Ritterin? Ich werde alles tun, um es zu besorgen! Ist es, weil dein Türmchen noch nicht fertig ist? Aber es dauert gar nicht mehr lang.«
»Nein, nein.« Ich schweige. Die Strahlenfrau wartet. Mi und Mo macht sie ein Zeichen, worauf die beiden leise hinausschleichen. Ich hole tief Luft.
»Also, das Einzige, was ich brauche ist eigentlich – ein Freund«, höre ich mich sagen.
»Ein Freund? Aber du weißt doch, dass alle hier auf der Burg deine Freunde sind.«
»Ja, schon …«
»Es geht um drüben, nicht wahr? Du wünschst dir einen Freund auf der anderen Seite.«
Ich nicke langsam. Sie hat recht …
Seufzend lehne ich meinen Kopf an die Schulter der Strahlenfrau. Sie streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Um bei euch drüben eine Freundschaft zu knüpfen«, sagt sie leise, »braucht man Worte …«
Ich nicke. Vielleicht sollte ich doch mal versuchen, mit Ole sprechen.
»Zu uns aber, Blaue Ritterin, kannst du nur über die Brücke des Schweigens gelangen.« Brücke des Schweigens!
Diesen Namen höre ich zum ersten Mal. Er hört sich schön und schaurig zugleich an. Ich strecke meine Arme und gähne.
»Ich glaube, ich schau mal nach Sturm«, sage ich.
»Tu das«, sagt die Strahlenfrau.
Im Stall duftet es herrlich nach Stroh und Pferdeschweiß. Eichenast ist nirgends zu sehen. Aber Sturm wiehert mir leise zu. Neben ihm steht Silberpfeil. Gerade beugt er seinen langen Hals herüber und zwickt Sturm ins Ohr.
»Hey«, rufe ich, »lass das!«
Ich fahre mit der Hand unter Sturms Mähne, kraule seinen starken Nacken. Dann gehe ich nach hinten zum Heuschober und hole einen Armvoll Heu, das ich den Pferden in die Raufen stopfe.
»Bin gleich wieder da«, sage ich und küsse Sturm auf die Nüstern. Sie sind weich und haarig. Ich sehe in der Sattelkammer nach Eichenast, doch auch hier ist er nicht. Mit der Hand streiche ich über die von vielen Ritten speckigen Ledersättel. Zuoberst hängt der Sattel der Strahlenfrau mit den Goldnähten und den Lederverzierungen. Meiner ist schlichter, man erkennt ihn an den blauen Riemen. Rechts an der Wand hängen die Trensen, die sind mit echten Silberplättchen verziert.
Gibt es etwas Schöneres? Wie es wohl wäre, mit der Strahlenfrau auf die andere Seite zu reiten? Sie auf ihrem Silberpfeil, ich auf Sturm. Wir würden an der Schule vorbeigaloppieren, wenn gerade Pause wäre, und Ossi und Julius könnten nur gerade eben noch zur Seite springen … aber so wird es nicht kommen. Die Strahlenfrau reitet nie auf die andere Seite …
»Na, Blaue Ritterin?«
»Eichenast!« Auf einmal steht er hinter mir. Seine Augen blitzen.
»Was hast du vor?«
»Ach«, ich räuspere mich. »Ich habe nur darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn ich mal mit dem schönen Zaumzeug auf Sturm zur Schule reiten könnte. Dann würden die anderen endlich mal sehen … ach, egal.«
»Nichts ist egal, was die Blaue Ritterin sagen will. Was sollen die anderen sehen?«
»Na ja.« Ich richte mich auf, gucke herausfordernd in die guten, blauen Augen von Wächter Eichenast. »Dass ich eigentlich stark und mutig bin.«
Eichenast nimmt mir die Trense aus der Hand und hängt sie sorgfältig zurück an den Nagel.
»Dein Mut hängt doch nicht an einer Trense!«, brummt er. Dann schaut er mich an. »Dein Mut gehört zu dir. Den trägst du in deinem Herzen.« Er pikst mich, und ich quietsche.
»Du, Eichenast! Ich habe eine Idee.«
»Was gibt es?«
»Kann ich heute bei Sturm schlafen?«
»Warum nicht?«
Er bringt mir Pferdedecken und ein paar Äpfel zu Sturms Box. Natürlich werden die Äpfel mit Sturm geteilt, auch wenn er mir den Ärmel vollsabbert. Dann bereite ich mir ein Nest im Stroh und kuschle mich in die Decken ein.
Eichenast kommt noch einmal vorbei. Er lehnt sich auf das Gatter und schaut zu mir herunter.
»Sagst du der Strahlenfrau noch Bescheid, dass ich hier bin?«, bitte ich ihn. Er nickt.
»Eichenast?«, frage ich. »Was würde eigentlich passieren, wenn ich mal eine Zeit lang … nicht kommen könnte?«
»Nun ja«, sagt er. »Wir würden dich sehr vermissen.«
»Nur das?«
Eichenast fährt mit den Fingern durch seinen Bart. Sein Blick ist ernst.
»Wir würden müde werden, Blaue Ritterin. Sehr müde. Und, nun ja … wir könnten dann nicht mehr weiterbauen an unserer Roten Burg. Dein Türmchen – hast du es gesehen?«
Ich nicke.
»Nun – du willst doch sicher, dass es fertig wird.«
Er klopft noch einmal auf das Gatter, dann stapft er in die Sattelkammer.
Im Dämmerlicht betrachte ich die vielen Ziegelsteine und höre wieder die Stimme der Strahlenfrau.
Unsere Rote Burg. Aus Schweigestunden erbaut …
Ich habe schon ganz schön viel geschwiegen. Und jeder Stein hat eine Geschichte! Auf einmal muss ich kichern. Mindestens einen hab ich Ossi zu verdanken, weil der gestern so dumm war, mitten im Unterricht einen Luftpups zu machen. Herr Holtigbaum hatte gerade gefragt, wer erklären könnte, was römische Legionen sind. Er hatte die Hände hinten in seinen Gürtel und kam langsam auf mich zu. Ich versteckte mich hinter meinem Helm und bekam ganz schwitzige Hände. Genau da kam von Ossi dieses Geräusch. Er macht das, indem er seine hohle Hand unter die Achselhöhle steckt und dann den Ellbogen ganz schnell hebt und wieder fallenlässt. Es hört sich an wie ein echter, feuchter Furz. Die Klasse grölte vor Lachen. Ossi flog natürlich raus und bekam eine Strafarbeit. Pech für ihn. Aber Glück für mich. Weil mich vergaß der Holtigbaum komplett.
Aber nicht alle Schweigesteine der Roten Burg habe ich ehrlicherweise verdient, finde ich. Manche eher durch Zufall. Es war zum Beispiel kürzlich so, dass die Dramaqueens mich ansprachen. Das hatten sie noch nie getan. Ich stand wie immer allein im Pausenhof herum, da kamen sie an mir vorbeigeschlendert und kicherten über irgendwas. Erst dachte ich, über mich. Aber als sie direkt neben mir standen, hörte ich, dass es um die Jungs aus der achten Klasse ging. Na klar. Wer in wen ist und so, immer dasselbe. Emily stand direkt neben mir, und irgendwann seufzte sie und warf ihre Haare nach hinten – ich glaube, ihr ging das Thema auch auf die Nerven. Und da guckte sie mich an, als hätte sie bis eben noch gar nicht bemerkt, dass ich neben ihr stand.
»Hey Mona«, sagte sie. »Stimmt es, dass deine Mutter Ärztin ist?«
Rieke sah mich jetzt auch an und kaute interessiert an ihrem Zopf. Ich nickte. Da wurde Emily aufgeregt.
»Weil … mein Bruder«, sagte sie, »also, der musste mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus …«
»Warum?«, fragte jemand.
»Was war?«
Die Dramaqueens standen jetzt alle um uns herum.
»Also, der ist vom Garagendach gefallen«, sagte Emily. »Aber egal. Jedenfalls kam er gestern nach Hause, und meine Mutter so zu mir: ›Hast du nicht eine Jaschke in der Klasse?‹ Und ich so: ›Ja, die Mona.‹ Also dich. Und meine Mutter so: ›Dann ist das vielleicht die Tochter von dieser netten Ärztin, die uns betreut hat. Frau Dr. Jaschke.‹«
Wieder nickte ich. Keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn nicht genau in dem Moment die Pausenglocke geläutet hätte. Vielleicht hätte ich dann was zu Emily gesagt? Aber jetzt fingen alle an, sich Richtung Klassenzimmer zu bewegen, und Emily vergaß, dass wir uns unterhalten hatten. Wie schön es sich anfühlte, zusammen mit allen anderen zu laufen …
Das Schnauben und Stampfen der Pferde macht mich schwer und müde. Einmal noch wache ich auf, weil Sturm mir einen schlabberigen Gute-Nacht-Kuss gibt, dann bin ich weg.