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Zwanzig Jahre später

Felice ging durch den kleinen Vorgarten auf das Haus ihrer Eltern zu. Die Sonne schien ihr warm in den Rücken und warf den Schatten ihrer schlanken Gestalt vor sie auf den Boden.

„Mama ich bin da!“, rief sie. Seit sie den Job in der Buchhandlung bekommen hatte, konnte sie sich selbst in den Semesterferien nur noch selten frei machen, um nach Hause zu kommen. Das Geschäft litt unter chronischem Personalmangel und ihr Chef spannte sie oft spontan ein. Es war zwar nicht gerade die interessanteste Arbeit aber immerhin wurde sie darüber auf dem Laufenden gehalten, welche Bücher gerade neu auf den Markt kamen. Und es war ein Job –etwas worauf nicht jeder Student hoffen konnte.

An der Haustür bellte ein Hund. Sie öffnete sich und heraus schoss ein Labrador.

“Ist ja gut Bella”, lachte Felice, während sie versuchte ihn daran zu hindern, ihr das Gesicht abzulecken. Eine ältere Frau trat in die Tür. “Hallo, meine Liebe”, grüßte sie. Frau Brückner hatte die schlanke Gestalt und die feinen Gesichtszüge ihrer Tochter, die es endlich geschafft hatte, den Hund abzuschütteln und auf sie zukam, um sie zu umarmen.

„Ich gehe erst mal mit Bella spazieren, sonst dreht sie völlig durch”, sagte Felice, als der Hund seine Schnauze, wild mit dem Schwanz wedelnd, zwischen sie drängte. Sie löste sich von ihrer Mutter und ging durch das Gartentürchen zurück auf die Straße. “Komm!”, rief sie Bella zu, die der Aufforderung, ohne zu zögern, folgte und laut bellend an Felice vorbeiwetzte.

Da die Straße am Haus der Brückners in einer Sackgasse endete, lagen vor ihnen ausgebreitet Wiesen und Felder, die früher dem alten Herrenhaus angehört hatten, das ein Stück entfernt stand und inzwischen schon recht verfallen war.

Sie schlugen einen Pfad ein, der nach einer Weile von niedrigen Mäuerchen gesäumt wurde und später ein Stück am Waldrand entlang lief. Es war ein warmer Septembernachmittag mit einer leichten Brise, die angenehm über Gesicht und Arme strich. Der Boden federte unter ihren Schritten und strahlte die angestaute Wärme zusammen mit dem Duft von getrocknetem Gras ab. Ausgelassen tollte Bella herum, jagte Feldmäusen nach oder sprang nach Schatten von Blättern oder Vögeln. Felice genoss es, nur mit dem Hund unterwegs zu sein, ohne den Druck einer Verpflichtung oder eines Termins. Irgendwann ließ sie sich auf den Boden nieder und döste, während Bella neben ihr einen Stock zerkaute.

Es wurde ein langer Spaziergang und die Sonne stand schon ziemlich tief, als sie heimkehrten. Felice warf einen Blick auf das alte Herrenhaus. „ Da gehen wir morgen hin“, sagte sie zu Bella, die müde neben ihr her trottete.

Als Kind hatte sie gerne dort gespielt. Ihre Mutter hatte es ihr verboten, da sie es zu gefährlich fand. Trotzdem war Felice in dem alten Gemäuer herumgeklettert oder hatte nach verborgenen Geheimgängen gesucht, von denen sie geglaubt hatte, dass es sie dort geben müsste. Das Haus hatte in seinem verwahrlosten Zustand etwas sehr anziehend Geheimnisvolles an sich.

Beim Abendessen herrschte, wie meistens wenn Felice nach Hause kam, eine rege Gesprächsstimmung. Frau Brückner erzählte von Frau Müller, die Zwillinge bekommen hatte, regte sich über die Fellners und irgendeine Klatschmeldung aus der Zeitung auf und ging dann gleich zu ihrem Boss über, der keine Hauptschüler mehr einstellen wollte, weil ihr Niveau so gesunken sei. Zwischendurch fragte sie ihre Tochter, wie es ihr gehe, ließ sie jedoch kaum zu Wort kommen, da sie es sehr eilig hatte, ihr zu erzählen, dass Bella in den letzten Tagen abends öfter angeschlagen habe. Wenn der Hund nicht wäre, hielte sie es keine Minute länger aus so abgelegen vom Dorf und außerdem sei es ja auch sehr einsam.

Herr Brückner saß ruhig daneben und gab Geräusche der Zustimmung von sich, wenn seine Meinung gefragt war. Er war ein gutmütiger Mann von kräftiger Statur, der die Mitte des Lebens bereits überschritten hatte. Hin und wieder warf er seiner Tochter belustigte Blicke zu, wenn Frau Brückner den Versuch zu antworten mit einem erneuten Wortschwall verhinderte.

Nachdem der Tisch abgeräumt war, setzten sich die drei ins Wohnzimmer, wo im offenen Kamin ein Feuer brannte. Nun löcherte Frau Brückner ihre Tochter mit Fragen über die anstehenden Abschlussprüfungen und ihren Freund. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Die beiden Dinge, die sie vergessen wollte: ihr fast Exfreund und die Prüfungen. Eine Weile wand sie sich mit halben Antworten um das eigentliche Thema herum, doch schließlich entschuldigte sie sich, dass sie müde sei und ergriff die Flucht.

Erleichtert ließ sich Felice in ihrem Zimmer auf dem Bett nieder, ohne das Licht anzuknipsen. Sie fand es angenehm, in dem kühlen Zimmer zu sitzen und niemanden etwas über ihre gescheiterte Beziehung oder die Prüfungen erzählen zu müssen. Ihre Mutter war nur neugierig, aber ihr Vater würde bestimmt merken, wie es ihr wirklich ging, egal, was sie erzählte. Felice trat fröstelnd ans Fenster und schaute hinaus. Am Horizont war noch ein schwacher rosa Streifen zu erkennen, sonst war alles dunkel. Die Felder, der Wald, das Herrenhaus, alles lag in Schatten gehüllt.

Sie sah hinüber zu dem Nachbarhaus, in dem seit Jahren niemand mehr wohnte und stellte erstaunt einen matten Lichtschimmer fest. Die alten Besitzer waren lange weggezogen und es war unwahrscheinlich, dass sie zurückkommen würden. Im Laufe der Zeit hatte das Gebäude eine ähnlich geheimnisvolle Aura angenommen wie das alte Herrenhaus. Ihre Mutter hatte nicht erzählt, dass es neue Bewohner gab und ihre Mutter wusste alles, was in zehn Kilometern Umkreis vor sich ging.

Neugierig geworden, zog Felice sich ihre weiße Strickjacke über und stieg leise die Treppen hinunter. Sie wollte um jeden Preis verhindern, dass sie erneut mit Fragen überschüttet wurde. Geräuschlos öffnete sie die Tür und trat hinaus in die klare Nachtluft. Einen Moment blieb sie stehen, unsicher ob sie nicht doch ihren Eltern Bescheid sagen sollte. Nur für den Fall, dass irgendwelche Rowdys eingebrochen waren. Dann ging sie kurzentschlossen hinüber zum Nachbarhaus. Sie musste ein Stück durch den Garten gehen, um zu den großen Verandatüren zu gelangen, durch die das Licht auf den Rasen fiel.

Jemand hatte Vorhänge angebracht, die verhinderten, dass man hineinsehen konnte. Aber es gab einen schmalen Spalt, an den Felice herantrat. Soweit sie erkennen konnte, war der Raum leer, abgesehen von einem Mann, der sich, zwei Stöcke durch die Luft wirbelnd, geschmeidig vor und zurück bewegte. Er schien eine Art Tanz zu vollführen oder einen unsichtbaren Gegner zu bekämpfen.

Felice war fasziniert von der Eleganz und der Kraft, die in seinen Bewegungen lagen und ihnen etwas Raubkatzenartiges verliehen. Nach einer Weile hielt er inne, zog das Oberteil seines Kimonos aus, trank etwas und tauschte die beiden Stöcke gegen eine einzelne Stange, bevor er mit seinem Tanz fortfuhr. Wie gebannt beobachtete Felice das Spiel der Muskeln auf seinem trainierten Körper. Der Tanz ging weiter und sie schaute ihm zu, unfähig sich zu lösen.

Die Augen des Mannes blitzten zu ihr herüber. Erschrocken wich sie zurück. Einen Augenblick lang war sie sich sicher, dass er sie gesehen hatte. Sie bemerkte, wie auffällig ihre weiße Strickjacke in der Dunkelheit schimmerte. Es war dumm gewesen, etwas Helles anzuziehen, um die Lage auszukundschaften. Es würde bestimmt keine angenehme Begegnung werden, wenn er sie fand. Normalerweise zogen Leute Vorhänge vor, damit man sie nicht beobachtete. Doch als sie wieder hinschaute, hatte der Mann seinen Tanz unverändert fortgesetzt. Felice wusste, dass es besser war zu gehen, bevor er sie erwischte und fragte, warum sie ihn anstarrte wie das achte Weltwunder. Trotzdem blieb sie stehen. Dieser Mann wirkte fast unnatürlich attraktiv auf sie.

Nach einigen Minuten unterbrach er seinen Tanz wieder, nahm seine Trinkflasche und verschwand in einer Ecke des Raumes, die außerhalb ihres Gesichtsfeldes lag. Sie trat dichter an das Fenster, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Ihr Blick streifte die kahlen Wände des Raumes, doch er schien verschwunden zu sein.

„Na, spionieren wir?“, fragte plötzlich eine sanfte Stimme hinter Felice und sie fuhr erschrocken herum. Keinen Meter vor ihr stand der Mann, den sie eben noch beobachtete hatte. Er musste sich völlig lautlos angeschlichen haben. Sie hatte ihn nicht kommen hören.

„Nein... nein, ich...“, stotterte sie und wurde rot. Sie zitterte von dem Schreck dieser Überraschung. „Ich dachte, es wäre eingebrochen worden und wollte nachsehen“, fügte sie matt hinzu. „Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?“, fragte der Fremde spöttisch. Die dunklen Augen blitzten gefährlich.

„Sieht wohl eher nicht nach einem Einbruch aus“, murmelte sie verlegen. Der Fremde ragte drohend vor ihr auf. Felice senkte den Blick. Mit dem Rücken zur Verandatür, hatte sie keine Möglichkeit auszuweichen.

„Gut“, erwiderte der Fremde sanft, „dann können Sie jetzt gehen. Ich schätze ungeladenen Besuch nicht besonders.“ Die Warnung in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Okay, ich gehe dann jetzt besser“, sagte sie mit höherer Stimme und versuchte zu lächeln. Ihr war bewusst, dass sie alleine war und niemand wusste, wo sie steckte. Einen Moment hielt der Mann sie in seinem Blick gefangen. Die Sekunden zogen sich in die Länge, während er regungslos vor ihr stand. Dann trat er zur Seite.

So schnell sie konnte, ohne zu rennen, ging Felice an ihm vorbei. Auch wenn sie sich nicht umsah, war sie sich sicher, dass er ihr mit dem Blick folgte. Um ihm keinen Anlass zu geben, hinter ihr herzukommen, lief sie direkt zu ihrem Elternhaus und ging hinein. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich schweratmend dagegen. Wie hatte sie so dumm sein können, sich erwischen zu lassen. Er war der attraktivste Mann, den sie je getroffen hatte. Aber sie wollte ihm auf keinen Fall noch einmal begegnen, erst Recht nicht alleine und unter keinen Umständen im Dunkeln. Ihr Herz raste noch immer und ihr Magen schien aus einem einzigen, schmerzhaften Knoten zu bestehen.

In dieser Nacht schlief sie sehr unruhig und träumte wirres Zeug von vermummten Gestalten und einem attraktiven Jäger, der sie für ein Reh hielt und durch den Wald jagte. Doch am nächsten Morgen konnte sie sich kaum noch daran erinnern. Allerdings hatte sie Kopfschmerzen und da ihre Eltern noch schliefen, beschloss sie, noch vor dem Frühstück eine Runde mit Bella zu drehen. Es war ziemlich kalt für einen Septembermorgen. Irgendwann in der Nacht musste es geregnet haben, so dass die Wiesen nass und die Welt in eine Nebelsuppe getaucht war.

„Na, der Tag fängt ja super an“, murmelte sie, als sie missmutig den Feldweg entlang stapfte. Bella ließ sich von dem Wetter nicht beeindrucken; sie sprang herum, froh darüber, dass schon so früh jemand bereit war, mit ihr nach draußen zu gehen. Schon nach kurzer Zeit hatte Felice nasse Füße und fror. So wählte sie eine sehr kurze Runde, ging jedoch auf dem Rückweg an dem alten Herrenhaus vorbei.

Da sich ihre Kopfschmerzen in der frischen Luft aufgelöst hatten, kletterte sie die bröcklige Mauer hinauf, die wohl einmal den Garten eingegrenzt hatte, der jetzt verwildert zu ihren Füßen lag. Der Nebel begann sich langsam zu lichten und die Sonne kämpfte sich durch. Über sich konnte Felice den blauen Himmel erkennen. Bei klarer Sicht konnte man von hier oben bis zu dem Baggersee schauen, in dem sie als Kind gebadet hatte.

„Sie sollten besser da runterkommen. Die Mauer ist ziemlich brüchig“, sagte plötzlich eine sanfte Stimme hinter ihr. Vor Schreck wäre sie beinahe gefallen. So früh hatte sie hier niemanden erwartet. Sie wandte sich um und sah den Fremden aus dem Nachbarhaus. Ihr Blick glitt flüchtig über ihn hinweg. Er trug einen dunklen Baumwollpullover über einem weißen Hemd und Jeans. Bei Tageslicht wirkte er fast normal. Fast. Doch auch jetzt lag in seiner abwartenden Haltung etwas, das keinen Widerspruch duldete. Vorsichtig begann sie die Mauer herunterzuklettern.

„Bella!“, rief sie unsicher. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie albern war. Was sollte schon geschehen? Er würde sie ja nicht umbringen oder so und sie hatte jedes Recht hier zu sein. Aber dieser Mann war ihr unheimlich.

„Felice Brückner, nehme ich an?“, fragte er, während er ihr die Hand reichte, um ihr über die letzten Steine herunterzuhelfen. Als er sie berührte, schoss Adrenalin durch ihre Adern. „Oder Östrogen“, dachte sie peinlich berührt. Er war doch bloß ein Mann wie andere auch und normalerweise fühlte sie sich nicht wie ein unerfahrenes Schulmädchen. Sie nickte auf seine Frage.

In dem Augenblick kam Bella um die Ecke geschossen. Sie beschnüffelte den Fremden und wedelte mit dem Schwanz. Er streichelte sie.

„Als Wachhund taugt sie nicht gerade“, dachte Felice und warf ihr einen beunruhigten Blick zu.

„Sie sollten ihr vertrauen“, sagte der Mann, der ihren Blick anscheinend bemerkt hatte. „Sie wohnen eigentlich nicht mehr bei Ihren Eltern?“

„Ja... nein, ich bin nur zu Besuch“, antwortete sie und wich seinem forschenden Blick aus. Seine Präsenz war fast mit Händen greifbar und brachte ihre Gedanken durcheinander.

„Ich war gerade auf dem Heimweg. Gehen wir doch zusammen“, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er los. Sie zögerte, doch Bella lief bereits neben ihm her und sie wollte ja tatsächlich nach Hause.

„Wo wohnen Sie dann?“, wollte er wissen.

„In Freiburg“, entgegnete sie und bemerkte, dass er sie ausfragte, ohne etwas über sich zu erzählen. Sie kannte noch nicht einmal seinen Namen.

„Eine schöne Stadt“, nickte er. „Und Sie studieren?“, fuhr er fort. Sie warf ihm einen Blick zu. Lächelnd erwiderte er ihn. Im Gehen hob er einen Stock auf und warf ihn für Bella, die ihm nachjagte.

„Ja, Lehramt an Grundschulen“, antwortete sie zögernd. Sie konnte das Bild des gefährlichen Fremden nicht ganz mit seiner neuen Freundlichkeit in Verbindung bringen.

„Das klingt… passend“, meinte er „Und wie lange studieren Sie schon?“ Felice warf ihm einen irritierten Blick zu, dann gab sie sich geschlagen und erzählte von ihrem Studium und dass sie in drei Wochen die letzte Prüfungen haben würde. Als sie vor ihrem Haus auseinandergingen, hatte er tatsächlich herausgefunden, dass sie gerade dabei war, sich von ihrem Freund zu trennen; eine Sache, die sie nicht einmal ihrer Mutter erzählt hatte. Seinen Namen hatte sie nicht erfahren. Im Nachhinein konnte sie sich nicht erinnern, warum sie nicht einfach danach gefragt hatte.

Da es viel regnete, verbrachte Felice das restliche Wochenende hauptsächlich bei ihrem Vater vor dem Kamin oder bei ihrer Mutter in der Küche und versuchte nicht an die Prüfungen oder ihren Freund Eric zu denken. Manchmal ging sie mit Bella spazieren, aber dem Fremden begegnete sie nicht mehr.

Auf der Rückfahrt am Sonntagnachmittag tat sie das, was sie das ganze Wochenende über vermieden hatte: sie überlegte, wie sie Eric beibringen sollte, dass es endgültig vorbei war und es keinen Sinn mehr hatte, noch weiter darüber zu reden. Vermutlich hatte er wieder den ganzen Anrufbeantworter mit Entschuldigungen und Versprechungen gefüllt.

Felice seufzte. Eigentlich gab es genug andere Probleme, um die sie sich kümmern musste. Zum Beispiel war am nächsten Tag der Abgabetermin für ihre Hausarbeit, die sie noch einmal durchschauen wollte. Außerdem musste sie sich auf die letzten Prüfungen vorbereiten und sie hatte ein Vorstellungsgespräch bei einer Grundschule in Freiburg. Die Beziehung mit Eric war sowieso schon lange nicht mehr das, was sie mal war, lediglich noch ein Einander-ertragen.

Felice fuhr jetzt durch ein kleines Dörfchen mit ein paar alten Scheunen und einer Handvoll Häusern. Sie bremste, als ein Kind vor ihr über die Straße schlenderte.

Als sie Eric kennen gelernt hatte, hatten sie beide jedes Wochenende auf Partys abgehangen, die Nächte durchgetanzt und ein paar von den harmloseren Drogen ausprobiert. Das Leben war ihnen leicht vorgekommen und an Konsequenzen hatten sie nicht gedacht. Inzwischen hatte das Partyleben für sie den Reiz verloren. Für Eric nicht. Sein Lebenssinn schien im Feiern zu bestehen. Das Schlimmste war aber, dass er immer wieder in Schwierigkeiten mit Drogendealern geriet.

Felices Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, als sie in einen Stau hineinfuhr. Es waren noch ungefähr 30 Kilometer bis Freiburg. Stirnrunzelnd sah sie nach vorne. Eigentlich gab es an dieser Stelle nie Stau. Nachdem sie einige Minuten gestanden hatte, ohne dass es im Geringsten vorwärts ging, drehte sie das Radio an und wartete auf die Verkehrsmeldungen. Stöhnend wechselte sie kurz darauf auf einen Musiksender und lehnte sich zurück: 10 km Stau wegen eines Unfalls. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Wenn sie umdrehte und eine andere Strecke nahm, musste sie einen Umweg von 50 Kilometern über einen Haufen kleiner Dörfer in Kauf nehmen. Und sie musste unbedingt ihre Hausarbeit fertig schreiben, was bedeutete, dass sie eine Nachtschicht einlegen musste, falls der Stau sich nicht bald auflöste. Ungeduldig trommelte sie mit ihren Fingern auf das Lenkrad.

Als sie schließlich ihre Wohnungstür aufschloss war es nach 21 Uhr. Instinktiv warf sie als erstes einen Blick auf das Telefon und war überrascht, dass das Lämpchen des Anrufbeantworters nicht blinkte. Dann hörte sie den Fernseher. Wütend ließ sie ihre Tasche fallen und marschierte zum Wohnzimmer - ihre Hausarbeit konnte sie wahrscheinlich vergessen. Sie riss die Tür auf und wurde beinahe vom Schlag getroffen. Flaschen standen auf dem Couchtischchen, es roch nach Bier und auf dem Sofa saß Eric, wild mit einer knapp bekleideten Blondine knutschend.

„Ach hallo“, sagte Felice ironisch. „Störe ich?“ Sie ließ den Blick durchs Zimmer wandern und stellte fest, dass Eric mindestens seit letzter Nacht hier gewesen sein musste. Was bedeutete, dass die Küche auch wie ein Saustall aussah. Das besserte ihre Laune nicht gerade. Mit zwei Schritten war sie beim Fernseher und schaltete ihn aus.

„Hallo“, sagte Eric, der sich inzwischen von der Frau gelöst hatte. Es hätte nicht deutlicher sein können, dass Felice ihn überrascht hatte. „Sabine wollte gerade gehen...“, meinte er betreten.

„Ja, das sollte sie auch besser“, antwortete Felice und ihre Augen blitzten zu der Blondine. „Und ein bisschen schneller, wenn ich bitten darf!“, fügte sie hinzu, als die Frau umständlich begann, ihre Sachen zusammenzusuchen. „Und eigentlich kannst du gleich mitgehen“, sagte sie und warf Eric einen giftigen Blick zu. Sie war so wütend, dass sie das Gefühl hatte, sie müsste im nächsten Moment explodieren. Die Frau verließ den Raum und Felice ging ihr nach, um die Wohnungstür zu schließen, dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Eric räumte die Flaschen zusammen.

„Wie bist du reingekommen?“, blaffte sie ihn an.

„Deine Freundin“, sagte er leise, „Andrea. Sie hat mir den Schlüssel gegeben.“ Er hielt ihn, wie zum Beweis, in Luft die und ließ ihn dann zurück auf den Tisch fallen. „Ich habe die Blumen gegossen“, meinte er und zeigte auf ein paar Pflanzen.

Felice lehnte mit verschränkten Armen in der Tür. „Und? Habt ihr euch amüsiert?“, fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Es fiel ihr schwer nicht loszuschreien.

„Nein...sorry, wegen Sabine...ich...wir...es war...also, ich muss mit dir reden“, brachte er heraus.

„Tatsächlich“, sagte sie mit zusammengepressten Lippen. Noch immer stand sie bewegungslos in der Tür. Es war eine Weile still. „Also, was ist? Brauchst du wieder Geld?“, brach es aus ihr heraus, als er nichts sagte.

„Nein, es tut mir L…“, setzte er an, doch sie unterbrach ihn.

„Du bekommst auch keins. Und weißt du was? Du bekommst überhaupt kein Geld mehr und sonst auch nichts!“ Ihre Stimme wurde immer lauter. Er versuchte etwas zu sagen, aber sie überfuhr ihn: „Verschwinde einfach aus meinem Leben! Hau ab und komm nicht wieder zurück! Ich habe deine scheiß Entschuldigungen satt. Ich habe echt was Besseres zu tun, als mich immer um deine bekloppten Probleme zu kümmern! Ruinier dich doch! Ich werde dich nicht mehr daran hindern!“ Sie holte tief Luft und er nutzte die Gelegenheit, um zu sagen: „Sabine war nur ein Ausrutscher...“

„Sabine war nur ein Ausrutscher“, äffte sie ihn nach und schnaubte dabei vor Wut. „Und Jessica und Kati und Cindy und Janet und keine Ahnung wer noch alles waren auch nur Ausrutscher!“, schrie sie. Felice nahm ein Kissen vom Sofa und warf es ihm an den Kopf. „Alles nur ein paar kleine Ausrutscher!“ Sie nahm ein anderes Kissen und schlug auf ihn ein. „Hau ab!“, schrie sie. „Hau endlich ab!“

Eric hielt sich schützend die Arme über den Kopf und murmelte etwas wie: „Immer mit der Ruhe.“ Dann sagte er lauter: „Ist ja gut! Ich gehe ja schon!“ Aber in Felice kochte es so, dass sie nicht aufhören konnte, auf ihn einzuschlagen. Erst als er seine Jacke nahm und sich zur Tür hinaus rettete, ließ sie von ihm ab.

„Und lass es dir ja nicht einfallen wiederzukommen oder anzurufen!“, rief sie ihm nach, bevor die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel. Felice ließ sich erschöpft auf einen Sessel fallen. Tränen schossen ihr in die Augen. Von Männern, schwor sie sich, hatte sie erst mal genug.

Stunde ohne Zeit Der Wanderer

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