Читать книгу Stunde ohne Zeit Der Wanderer - Sarah Sonntag - Страница 7
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ОглавлениеDüsteres Licht erhellte notdürftig den kleinen Laborraum. An den Wänden reihten sich Reagenzgläser, Döschen und Fläschchen und in einem Regal standen fein säuberlich beschriftete Flaschen, die mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten gefüllt waren.
In der Mitte des Raumes stand Tom an einem Tisch, über den diverse Pflanzenreste verteilt lagen. Er hatte ein Reagenzglas in der Hand, das er sorgfältig verschloss und schüttelte. Prüfend hielt er es gegen das Licht, wartete einen Augenblick und schüttelte es abermals. Dann hängte er es in eine Halterung, räumte die Pflanzenreste weg und schritt aus dem Raum. Das Präparat würde ein paar Stunden ziehen müssen, bevor er es abfüllen konnte.
Der Vorraum des Labors war gefüllt mit Kräutern, die von der Decke hingen oder in Gläsern verstaut aufbewahrt wurden. Zeichen und Symbole waren an den Wänden zu erkennen. Ganz hinten in einer Ecke lagen vergilbte Bücher und Schriftrollen.
Tom durchquerte den Raum, zog eines der Bücher aus dem Regal und blätterte darin. Als er fand, was er suchte, ließ er sich auf einen Stuhl sinken und begann zu lesen. Nach einer Weile stand er auf und begann seinen Besuch beim Bundespräsidenten vorzubereiten. Geschmeidig glitt er durch den Raum, suchte verschiedene Kräuter zusammen und verstaute sie in einem kleinen Stoffbeutelchen, das er sich am Gürtel befestigte. Zum Schluss entnahm er aus einem verschlossenen Eckschrank im Labor eine Phiole mit klarer Flüssigkeit. Er steckte sie zu den Kräutern, nahm seinen schwarzen Umhang, der auf einer Stuhllehne hing, und warf ihn sich über sie Schultern. Er verließ das Haus und verschmolz durch jahrelange Übung sofort mit dem Schatten.
Die Abenddämmerung lag schon über dem kleinen Dorf und an dem kalten Februarabend waren keine Spaziergänger unterwegs. Eine dünne Schicht aus Schnee und Eis bedeckte die Erde. Tom zog den Umhang fest um seine Schultern und schritt über die Wiese. Ungesehen gelangte er zum alten Herrenhaus, wo er auf Minerva wartete. Mit einem leisen Schuhuen flog die Eule auf Toms Schulter und gemeinsam verschwanden sie im nahen Wald.
Eine halbe Stunde später kehrte Minerva allein zurück, während Tom sich, 500 Kilometer weiter nördlich, aus dem Nichts heraus im Schlafzimmer des Bundespräsidenten materialisierte.
„Guten Abend“, grüßte er leise den im Bett liegenden Präsidenten.
Erschrocken öffnete der Angesprochene die Augen. „Wer sind Sie? Wie sind Sie hierher gekommen?“ fragte er.
Tom durchquerte mit geschmeidigen Schritten den Raum. „Ich bin Arzt. Ich habe Ihnen mein Kommen angekündigt“, erwiderte er, nahm ein Kärtchen vom Nachttisch des Kranken und ließ es durch die Finger gleiten.
„Und wie sind Sie hier hereingekommen?“, verlangte der Präsident zu wissen. Er hatte sich aufgerichtet und versuchte unauffällig an die Klingel zu kommen, die seinen Bodyguard alarmieren sollte.
Tom lächelte spöttisch: „Die Klingel brauchen Sie vorläufig nicht. Ich komme gewöhnlich dahin, wo ich hin will – wie, ist meine Sache. Die Frage ist, ob Sie mein Angebot annehmen oder nicht.“ Er betrachtete den Präsidenten. „Ich kann Ihnen Ihre Gesundheit vielleicht zurückgeben.“
„Wie haben Sie überhaupt von der Art meiner Krankheit erfahren?“, fragte der Präsident misstrauisch.
Tom lächelte: „Ich habe meine eigenen Quellen.“
„Hm, und Ihre Bedingungen sind?“, fragte der Präsident matt und schloss die Augen.
Tom trat auf ihn zu: „Ein Honorar in Höhe Ihres eigenen Ermessens, nach erfolgter Genesung. Und“, fügte er mit einer unmissverständlichen Warnung in der Stimme hinzu: „meine Existenz bleibt geheim. Keine Kameras, Tonträger oder dritte Personen während meiner Aufenthalte bei Ihnen. Seien Sie gewarnt: Ich würde jeden Versuch mich zu hintergehen, sofort bemerken.“ Es trat eine Pause ein.
„Woher weiß ich, dass Sie nicht versuchen, mich zu vergiften?“, fragte der Kranke schließlich.
„Dafür“, entgegnete Tom sanft „würde ich Sie nicht um Erlaubnis fragen.“
„Wenn ich Ihren Vorschlag ablehne...“, begann der Präsident. „Verschwinde ich und Sie werden nie wieder etwas von mir hören“, vollendete Tom den Satz ruhig. Es folgte eine lange Stille, in welcher er völlig bewegungslos im Raum stand. Er konnte die Gedankengänge des Präsidenten in dessen Gesicht verfolgen. Endlich sagte der Präsident langsam: „Ich nehme Ihre Bedingungen an. Helfen Sie mir und ich werde Sie gut bezahlen.“
„Gut“, erwiderte Tom. Seine Stimme war jetzt, nachdem die Rahmenbedingungen geklärt waren, wesentlich sanfter. „Lassen Sie mich Ihren Puls messen.“ Er fühlte mit geschlossenen Augen den Puls und lauschte auf den Atem des Patienten, dann machte er sich an die Arbeit.
Aus der im Zimmer vorhandenen Minibar nahm er ein Glas, füllte es mit Wasser und wählte ein Kraut aus seinem Beutelchen. Vorsichtig trennte er die Blüten vom Stängel und zerrieb sie über dem Wasser, während er unhörbar ein altes Gebet vor sich hin sang. Zum Schluss fügte er einen Tropfen aus der Phiole bei.
Den Beutel mit den Kräutern löste er vom Gürtel und reichte ihn dem Kranken, zusammen mit dem Wasserglas. „Den Beutel legen Sie unters Kopfkissen. Von dem Wasser trinken Sie stündlich einen Schluck“, wies er den Präsidenten an. „Außerdem würde ich Ihnen empfehlen weniger Fleisch zu essen“, fügte er hinzu. „Ich wünsche Ihnen gute Besserung.“ Mit einem leichten Neigen des Kopfes drehte er sich um und rauschte in Richtung Tür davon. Noch bevor er sie erreicht hatte, verschwand er und ließ den völlig verdatterten Präsidenten zurück.
Tom taucht in der Nähe des alten Herrenhauses wieder auf. Es war inzwischen ganz dunkel geworden und er musste sich keine Sorgen um unerwünschte Beobachter machen. Er war mit dem Ergebnis seines Besuches zufrieden. Die meisten seiner Patienten reagierten ähnlich, wenn er das erste Mal bei ihnen auftauchte. Manche brauchten etwas länger mit ihrer Entscheidung, Tom als Arzt zu konsultieren, aber er war erst einmal völlig abgewiesen worden.
Minerva war in der Nähe auf der Jagd. Er konnte ihre Anwesenheit spüren. „Du hast Besuch“, teilte sie ihm mit.
„Danke“, dachte er.
„Vergile wartet vor deiner Haustür auf dich“, fuhr sie fort, während sie sich auf ihre Beute stürzte.
Tom hatte alle seine Wohnungen mit starken Schutzzaubern umgeben, so dass es Vergile nicht möglich sein würde, in sein Haus einzudringen. Trotzdem war er über den Besucher beunruhigt. Er zog seinen Umhang enger und wurde eins mit der Nacht. Unhörbar näherte er sich seinem Haus, doch es war ein hoffnungsloser Versuch, sich an einen Zauberkünstler wie Vergile heranzuschleichen. „Wahrscheinlich hat er mich schon bemerkt, als ich beim alten Herrenhaus aufgetaucht bin“, dachte Tom, als ihn das meckernde Lachen des Zauberers begrüßte.
„Hallo Tom“, krächzte Vergile. Er hatte das Aussehen eines kleinen, alten, klapperdürren Mannes, mit schütterem Haar und schiefen Zähnen. Seine Augen waren klein und stechend. Bisweilen zuckte seine Zunge zwischen seinen Lippen hervor, als könnte er damit etwas in der Luft wittern.
„Guten Abend Vergile“, nickte Tom ihm zu und verbarg seine Wachsamkeit unter einem Mantel von gleichgültiger Höflichkeit.
„Kommst spät. Hattest wohl ´ne Audienz, he?“, geckerte Vergile. Tom gab einen vagen Laut von sich, der sowohl Zustimmung als auch Ablehnung bedeuten konnte.
„Immer noch der Alte. Immer so geheimnisvoll“, lachte Vergile krächzend.
„Niemand von uns redet viel über seine Arbeit“, antwortete Tom mit einem Achselzucken. Äußerlich war er ruhig, doch innerlich wartete er auf die Wende in Vergiles Gehabe. Es gab einen Grund, warum der Magier ihn aufgesucht hatte und bei ihm konnte man sich nie sicher sein, ob er einen nicht im nächsten Moment angriff.
„Tom, Tom“, gackerte Vergile und seine Zunge schoss zwischen seinen Zähnen vor. „Wir erzählen nix und wir mischen uns nich ein, stimmt´s?“, fragte er lauernd.
„Wenn die anderen sich an die Gesetze halten, mischen wir uns gewöhnlich nicht ein“, erwiderte Tom.
Jetzt schlug Vergiles Ton um. „Und was is mit dem Mädchen? Wo is se? Hast se mir gestohlen?“, zischte er und seine Augen blitzten wütend.
„Es gibt keine Menschenopfer“, versetzte Tom. Er hatte geahnt, dass es Vergile gewesen war, der Felice in seinem Netz gefangen hatte.
„War Samhain. Alle ham gejagt. Kann ja nix dafür, wenn das Gör sich verläuft und genau über meinen Jagdpfad trampelt. Jedenfalls gehörte se danach mir!“, keifte Vergile.
Tom dachte an den vergangenen Oktober zurück. Der zweite Vollmond nach Herbstbeginn war jedes Jahr der Mond der großen Jagd. Tom hatte sich mit anderen Wesen, die magische Fähigkeiten besaßen - Vergile eingeschlossen - zum Wettstreit getroffen. Jeder war seinem eigenen Jagdpfad gefolgt und hatte sich den Aufgaben gestellt, die sich ihm dort boten. Tom hatte die Jagd sofort abgebrochen, als Minerva ihn warnte, dass ein normaler Mensch auf die Jagdpfade geraten war. Früher waren Menschen manchmal bei solchen Jagden umgekommen.
„Sie hat sich nicht verlaufen. Du hast sie gelockt. Für andere Wanderer wäre die Weggabelung nicht vorhanden gewesen“, entgegnete er scharf.
„Ach tatsächlich!“, erwiderte Vergile mit einem hämischen Grinsen. „Den Knöchel hat se sich jedenfalls allein gebrochen.“
„Ganz ohne Hilfe, schätze ich“, gab Tom spöttisch zurück. „Und dann hat sie vermutlich ihren Vorrat an Alraunenwurzeln und Belladonnabeeren ausgepackt und sich selbst damit vergiftet.“ Als Tom Felice gefunden hatte, hatte sie starke Vergiftungserscheinungen aufgewiesen. Doch sie hatte keine stofflichen Reste des Giftes in sich gehabt, was bedeutete, dass jemand den Geist der Pflanzen, die Giftessenz, durch Magie in ihren Geist verpflanzt hatte. Tom musste Felice auf ihren Traumpfaden nachwandern, um sie zurückzuholen. Es war schon fast zu spät gewesen, als er sie gefunden hatte.
„Hättest auch nix mehr machen können, wenn dein verfluchter Vogel mich nich daran gehindert hätte“, schnarrte Vergile mit böse funkelnden Augen.
„Du beleidigst die hohe Frau?“, fragte Tom mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Frag mich, was dir die Kleine wert is“, sagte Vergile plötzlich in deutlich verändertem Tonfall, ohne auf Tom einzugehen. „Hm, sags mir. Was is se dir wert?“, schnurrte er.
Stirnrunzelnd sah Tom ihn an. Er verstand nicht, worauf Vergile hinaus wollte. Was sollte die Frage? Doch er ließ sich seine Verwirrung nicht anmerken und antwortete ruhig: „Ein Menschenleben. Ich bin Arzt.“
Vergile schnaubte. „Also würdest du se gegen jemand anders eintauschen?“, fragte er lauernd und seine Zunge huscht über seine Lippen.
„Ich handle nicht mit Leben“, erwiderte Tom. Vergile war ein Gauner, der die Leute über den Tisch zog und ihnen böse Streiche spielte. Tom hatte nicht vor, eines seiner Opfer zu werden und sich von ihm erpressen zu lassen. Abgesehen davon fragte er sich, warum Vergile ein so starkes Interesse an dem Mädchen hatte.
„Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest“, fügte er hinzu und wandte sich seiner Haustür zu.
„Was das für ´ne Katastrophe wär, wenn der Bundespräsident plötzlich sterben würde“, säuselte Vergile. Tom fuhr herum. Woher wusste Vergile, wo er gewesen war? Eigentlich war seine Spur nicht so leicht zurückzuverfolgen.
„Ich handle nicht mit Leben!“, wiederholte er und seine Stimme klang jetzt hart und kalt.
Vergiles Zunge flatterte zwischen seinen Lippen hervor. „Oder wenn alle, die du behandelst, sterben“, gluckste er. „Eujeujeu – der große Tom kann nix mehr helfen, weil se dann alle sterben.“ Er brach in krächzendes Gelächter aus.
„Das“, versetzte Tom „wirst du nicht tun.“ Er fragte sich, ob Vergile tatsächlich vorhatte, so gravierend gegen die Regeln zu verstoßen. Die Konsequenzen konnten schwerwiegend sein. Welches Interesse konnte der Magier an dem Mädchen haben? Soweit ihm bewusst war, verfügte Felice über keine Eigenschaften, die ihm für seine Belange nutzen konnten.
„Ich brauche nur ´nen Namen Tom“, raunzte Vergile, ohne auf ihn einzugehen. „Gib mir den Namen!“ In diesem Augenblick flutete Scheinwerferlicht über sie hinweg. Ein Auto kam die Straße entlang und parkte am Haus der Brückners.
„Ha!“, gackerte Vergile plötzlich. „Brauche keine Namen mehr.“ Seine kleinen Augen funkelten und seine Zunge wanderte wild flatternd zwischen seinen Lippen hin und her. Dann war er verschwunden.
Eine Minute später stieg Felice aus dem Auto.
Mit einer blitzschnellen Bewegung löste Tom den auffälligen Umhang von seinen Schultern und ließ ihn verschwinden, als sie auf ihn zukam. „Wo ist Vergile?“ fragte er in Gedanken Minerva, die über ihm kreiste.
„Fort“, gab die Eule zurück. „Er ist gegangen.“
„Hallo! Guten Abend Herr Andarin“, begrüßt Felice ihn strahlend, als sie herangekommen war.
„Guten Abend“, erwiderte Tom knapp. Diese Frau hatte wirklich ein Talent dafür, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Halb fragte er sich, warum Minerva nicht eingegriffen und verhindert hatte, dass Felice in das Treffen platzte. „Besuchen Sie Ihre Eltern?“, fragte er etwas freundlicher.
„Naja, ich wohne jetzt erst mal die nächsten drei Monate hier“, erzählte sie gutgelaunt.