Читать книгу Stunde ohne Zeit Der Wanderer - Sarah Sonntag - Страница 8
4
ОглавлениеDie Dämmerung senkte sich über die Häuser des kleinen Dorfes, breitete sich über die Felder und den Wald. Eine Amsel sang in der lauen Luft des Aprilabends, sonst war es still. Die Welt schien in ein Tuch tiefen Friedens gehüllt. Die Fenster in Felices Zimmer waren weit geöffnet und ließen den Frühling herein.
Sie saß auf ihrem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt und sah hinaus in die Dämmerung. Ihre Eltern waren über das Wochenende zu einem Freund ihres Vaters gefahren und hatten Bella bei ihr gelassen. Der Hund lag mit dem Kopf auf ihrem Schoß und ließ sich kraulen.
Mit einem Mal veränderte sich etwas in der Luft. Die Amsel hörte auf zu singen und Bella hob den Kopf und begann leise zu knurren. Eine eigenartige Erregung ergriff Besitz von Felice. Sie hatte das Gefühl vor Energie zu sprühen und jetzt auf der Stelle irgendetwas tun zu müssen. Sie sprang zum Fenster und schaute hinaus. Ein kleiner, alter Mann, in einen Kapuzenumhang gehüllt, wackelte langsam die Straße entlang.
Vor ihrem Haus blieb er einen Augenblick stehen, schaute stumm zu ihr hinauf und schlug dann den Weg über die Felder zum alten Herrenhaus ein. Fast schien es, als hätte er sie aufgefordert, ihm zu folgen. Bella knurrte lauter, doch Felice bemerkte es kaum. Eine ungeheure Neugierde hatte sie gepackt und mit einem Mal konnte sie sich nichts Schöneres vorstellen, als dem Mann heimlich zum alten Herrenhaus hinterherzuschleichen.
Leichtfüßig lief sie die Treppe hinunter. Bella stellte sich ihr winselnd, mit gesträubten Haaren in den Weg und schnappte nach ihr, als sie sich vorbeidrängelte. Aber Felice achtete nicht auf sie, sondern schob sie einfach zur Seite und schloss schnell die Haustüre hinter sich.
Der Mann hatte das Herrenhaus schon fast erreicht, als sie den Feldweg betrat. Vor sich hin pfeifend hüpfte sie ihm durch die verblassende Dämmerung hinterher. Ihre Füße liefen fast wie von selbst und ohne zu zögern zwängte sie sich an dem alten Ginsterstrauch, der den Eingang versperrte, vorbei. Sie achtete nicht darauf, dass sich der Saum ihrer Bluse in den dornigen Zweigen verfing und riss, als sie weitereilte.
In dem fast dunklen, staubigen Flur war niemand zu sehen. Doch Fußspuren führten die wacklige Treppe hinauf. Unwillkürlich musste Felice kichern. Sie fühlte sich leicht wie ein kleines Mädchen, das gerade eine Übeltat begeht. Die Stufen knarrten, als sie nach oben stieg. Übermütig tanzte sie den finsteren Flur entlang, bis zu einer Tür ganz am Ende, die einen Spalt breit offen stand.
Ein heller Sonnenstrahl fiel vor sie auf den Boden. Verwundert öffnete sie die Tür und trat in den Raum, der von Sonnenlicht durchflutet war. Staub tanzte in glitzernden Spiralen durch die Luft und wirkte wie Feenzauber. Mit drei Sprüngen war Felice am Fenster und sah hinaus. Draußen ging die Dämmerung allmählich zur Nacht über.
Hinter ihr klickte die Tür leise ins Schloss und mit einem Schlag fiel die ganze sonderbare Leichtigkeit von ihr ab. Das Sonnenlicht verschwand und der Raum wurde nur noch spärlich von flackerndem Fackelschein erhellt. Auf einmal war Felice kalt und Furcht kroch ihr den Rücken hinauf. Sie drehte sich um. Vor ihr im Fackelschein stand der alte Mann. Mit stechenden Augen sah er sie an.
„Hat dir der Weg gefallen, he?“, krächzte er und lachte gackernd.
Felice lief ein Schauer über den Rücken. Sie verstand nicht, was in sie gefahren war, sich wie ein kleines Mädchen aufzuführen und einem Fremden hinterher zu hüpfen. Bedröpelt stand sie da, mit der am Saum zerrissenen Bluse.
„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht stören“, stotterte Felice.
„Ach, ach störst gar nich, nich war?“, schnurrte der Alte und seine Zunge schoss zwischen seinen Zähnen hindurch. Sie zuckte zurück. Dieser Mensch war ihr unheimlich. „Hab schon alles für dich vorbereitet“, krächzte er und ein hungriger Ausdruck trat in seine Augen.
Felice verstand nicht, was er meinte und sie war sich nicht sicher, ob sie es verstehen wollte. „Ich gehe dann mal wieder“, sagte sie und versuchte lässig zu klingen.
„Oh nein, wirst du nicht“, erwiderte das Männchen. Allmählich war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob er ein Mensch war. „Werden sehen, ob der große Tom diesmal kommt, um dich zu retten.“ Er kicherte krächzend. „Ja, ja, schöne Überraschung.“
Aus seinem Geschwafel wurde Felice nicht schlau. Das einzige, was sie verstand, war, dass sie sich irgendwie aus dieser Situation befreien musste. Der Alte wirkte auf sie nicht besonders stark. Aber aus irgendeinem Grund zweifelte sie daran, dass sie es schaffen konnte, nach Hause zu kommen, wenn er ihr nicht erlaubte zu gehen. Trotzdem versuchte sie einen Schritt an ihm vorbei zu machen und als es gelang, stürzte sie zur Tür. Doch noch bevor sie die Klinke fassen konnte, wurde sie zurückgerissen und an die Wand gedrückt. Das Männchen stand immer noch an derselben Stelle und lachte krächzend. Obwohl niemand sie festhielt, konnte Felice sich nicht vom Fleck bewegen.
„Nich weglaufen. Hat keinen Zweck“, schnarrte er und seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.
Panik machte sich in Felice breit. „Oh Gott, er ist verrückt“, dachte sie und versuchte verzweifelt sich zu befreien. „Was wollen Sie von mir?“, presste sie hervor.
Der Alte trat näher an sie heran und starrte sie aus seinen kleinen Augen an. „Sollst was für mich finden“, krächzte er.
„Was finden? Und dann lassen Sie mich gehen?“, fragte sie fast flehentlich. Er legte den Kopf schief und gluckste: „Geht dann vielleicht nicht mehr, nee, mal sehen, mal sehen.“
Felice stemmte sich mit aller Kraft gegen die Wand und stolperte plötzlich nach vorne. Doch noch bevor sie auch nur einen Schritt machen konnte, wurde sie zurückgerissen und wieder gegen die Wand gepresst.
„Hoppla, is stark die Kleine. Das is gut, das is gut“, brummte der Alte. Sie stöhnte und dachte an die blauen Flecken, die sie am Rücken bekommen würde. Er achtete nicht weiter auf Felice, die nun völlig bewegungslos war, sondern kramte in einer Tasche seines Umhangs. Mit einem Stück Kreide in der Hand begann er, leise vor sich hin murmelnd, komplizierte Formen auf dem Boden zu laufen und machte hin und wieder einen Punkt.
„Lassen Sie mich endlich gehen!“, schrie Felice ihn an. Aber ohne sie zu beachten machte er weiter seine Punkte.
Sie schimpfte und flehte, doch er schien sie gar nicht zu hören. Schließlich hatte er einen Kreis mit zwölf Punkten um sich herum gemalt. Als er fertig war, machte er eine flüchtige Bewegung mit der Hand in ihre Richtung und Felice verstummte jäh. „Sei nich ungeduldig“, raunzte er und malte nun verschlungene Symbole in den Kreis.
Sosehr sich Felice auch anstrengte, konnte sie doch keinen Laut mehr hervorbringen. Angst, so kalt wie Eis, machte sich in ihr breit. Wer oder was war dieses Männchen? Warum hatte er solche Macht über sie? Tränen traten ihr in die Augen. Sie wollte hier weg, aber sie konnte nicht sehen, wie sie das anstellen sollte. Es gab keinen Ausweg. Keiner würde sie die nächsten zwei Tage vermissen. Niemand würde nach ihr suchen. Lautlos rollten Tränen über ihre Wangen. Mit aller Kraft kämpfte Felice gegen die unsichtbaren Fesseln, doch sie gaben nicht nach. „Hilfe“, dachte sie. „Hilfe! Hilfe!“, schrie sie innerlich.
Inzwischen war es draußen ganz dunkel geworden. Die Fackel flackerte düster und Unheil verkündend.
„So. Fertig“, krächzte der Alte plötzlich. Er warf einen Blick aus dem Fenster, dann richtete er seine Augen auf Felice und sagte fast zärtlich: „Komm her, Kleine.“ Sie wurde nun nicht mehr an der Wand festgehalten, aber eine unwiderstehliche Macht zog sie zu dem alten Mann hin.
„Nein, nein, nein“, schrie sie lautlos und versuchte sich gegen den Sog zu stemmen. Doch sie musste Schritt für Schritt auf den unheimlichen Kreis zu gehen.
Ohne Vorwarnung ließ der Sog plötzlich nach und Felice stürzte rückwärts zu Boden. Die Tür schlug auf und Herr Andarin trat in den Raum. Er trug einen schwarzen Umhang. Im Fackellicht sah er groß und bedrohlich aus. Mit einem Schrei sprang der alte Mann zu Felice, packte sie mit eisernem Griff und versuchte sie in den Kreis zu zerren. Sie wehrte sich, doch sie war schon geschwächt und der Alte besaß erstaunlich viel Kraft in seinen dürren Gliedern. Blitzschnell zog er ein kleines silbernes Messer aus seinem Umhang und schnitt Felice damit in die Hand.
„Vergile!“, donnerte Herr Andarin und sie wurde erneut an die Wand gerissen. Mit einem halben Schritt vorwärts verschwand Herr Andarin vom Eingang und tauchte fast im selben Moment wieder neben Felice auf. Sie war schockiert und völlig verwirrt.
„Bleib, wo du bist!“, befahl er ihr und sie konnte sich wieder normal bewegen. Da ihr nichts Besseres einfiel, gehorchte sie.
Der alte Mann stieß fürchterliche Gurgel- und Zischlaute aus und grüner Nebel begann sich im Raum auszubreiten.
„Kannst se nicht retten, Tom“, zischte er. „Geh zur Seite!“ Der grüne Nebel wurde dichter und legte sich über alle Wände und die Tür. „Könnt nich mehr raus. Alle Wege versperrt!“, höhnte er und lachte krächzend.
„Felice, tue genau, was ich dir sage!“, wies Herr Andarin sie an. Er sah hochkonzentriert aus. Das Gelächter des Männchens verstummte. „Wenn ich „Jetzt“ sage, gehst du zum Schrank, machst ihn auf und drückst deine blutige Hand auf den Spiegel, den du dort findest“, befahl er.
Der alte Mann stieß einen unverständlichen Schrei aus, ließ seine Zunge zwischen den Zähnen hin und her flitzen und hechtete zum Schrank in der Ecke. Bevor er ihn erreichen konnte, war er in eine Kugel aus Licht gehüllt.
„Jetzt!“, rief Herr Andarin und Felice rannte zum Schrank. Sie riss die angelehnte Tür auf und starrte in den alten, angelaufenen Spiegel, der dort stand. Einen Augenblick lang zögerte sie. Herr Andarin sprang auf sie zu, packte ihre Hand und presste sie auf den Spiegel. Sekundenlang starrte Felice auf die Lichtkugel, die sich aufzulösen begann und Vergile wieder frei gab, dann stand sie plötzlich auf der Wiese vor dem Herrenhaus in der prallen Mittagssonne.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte Herr Andarin, der neben ihr aufgetaucht war, und sah sie forschend an. Felice schüttelte den Kopf und fasste sich an den Hals. Sie war noch immer stumm, sie zitterte am ganzen Leib und fühlte sich orientierungslos. Offensichtlich war sie nicht einfach vor dem Herrenhaus gelandet. Die Sonne stand im Zenit, obwohl es eigentlich Nacht sein musste, und die Landschaft um sie herum hatte sich vollständig verändert. Das Dorf war verschwunden, der Wald war näher gerückt und die Bäume wirkten größer und älter. Misstrauisch sah Felice Herrn Andarin an und wich vor ihm zurück. Wer war er? Was hatte er mit diesem bösartigen Männchen zu tun? Warum war alles so seltsam verändert?
Herr Andarin sah sie besorgt an. „Ich habe nicht vor, Ihnen Schmerz zuzufügen. Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann“, sagte er mit beruhigender Stimme. „Wenn Sie mich lassen, gebe ich Ihnen Ihre Stimme zurück“, fügte er sanft hinzu. Mit langsamen Bewegungen kam er auf sie zu, nahm ihre Hand, die sie sich noch immer krampfhaft an die Kehle presste und strich mit dem Zeigefinger ihren Hals entlang.
„Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Hilfe, Hilfe, Hilfe“, flüsterte Felice, kaum dass sie ihre Stimme zurück hatte.
„Alles wird gut. Ganz ruhig“, murmelte Herr Andarin. Aber sie konnte nicht aufhören zu zittern. Alle Knochen taten ihr weh und der Schnitt in ihrer Hand brannte. Er nahm seinen Umhang ab und legte ihn ihr über die Schultern. „Kommen Sie!“, sagte er leise, berührte sie leicht am Oberarm und führte sie auf den Wald zu.
„Wo sind wir?“, brachte Felice heraus, als sie ihn erreichten.
„Das“, erwiderte Herr Andarin „ist der Forst von Arkarion. Auch der Wald der Schwelle genannt. Das Herrenhaus bildet ein Tor zwischen den Welten.“ Sie folgten einem schmalen Pfad, der sich durch die Bäume schlängelte und sie tiefer in den Wald hineinführte. Das Laub vieler Jahre dämpfte ihre Schritte zu einem leisen Rascheln und das Licht der Mittagssonne drang nur schwer durch das dichte Blattwerk der uralten Bäume. „Als wir den Spiegel berührten kamen wir in das Reich jenseits der Zeit“, erwiderte Herr Andarin mit melodischer Stimme.
„Warum sind wir hier?“, fragt Felice immer noch etwas weinerlich. Sie verstand nicht, was das Gerede sollte. Reich jenseits der Zeit? Das hörte sich an wie ein Land aus einem Fantasyfilm.
Herr Andarin wandte sich ihr zu. „Es war der einzige Weg, den Vergile uns nicht versperren konnte“, entgegnete er. „Und hier können wir herausfinden, was er von Ihnen wollte.“
„Warum kommt er nicht einfach hinterher?“, wollte sie wissen. „Er kann nicht. Ihm ist der Zutritt versperrt“, erwiderte er knapp.
Eine Weile gingen sie schweigend weiter. Der Pfad verlief ebenmäßig und, obwohl er sehr schmal war, machte er den Eindruck, als ob er regelmäßig gepflegt würde. Felice humpelte, tief in Gedanken, versunken hinter Herr Andarin her. Ihre Glieder schmerzten noch von der groben Behandlung und die Schmerzen erinnerten sie an das Geschehene.
Szenen aus dem Herrenhaus spielten sich immer wieder vor ihrem inneren Auge ab: das gackernde Männchen, das den Kreis zog und seltsame Symbole malte; das silberne Messer; das flackernde Fackellicht; die stechenden Augen des Alten; Herr Andarin der plötzlich in der Tür stand...
Herr Andarin zog eine kleine Flöte aus seinem Gürtel und begann darauf zu spielen. Eine getragene Melodie voll vergangener Größe und Sehnsucht erklang und webte sich in Felices Erinnerung hinein. Je länger er spielte, desto leichter wurde die Melodie und desto leichter wurden auch ihre Gedanken.
„Darf ich Sie etwas fragen?“, erkundigte sie sich, nachdem das Lied verklungen war. Herr Andarin neigte zustimmend den Kopf. „Wer, ich meine, wer und was sind Sie?“, fragte sie. Er antwortete nicht gleich, sondern schritt schweigend den Pfad entlang und Felice vermutete schon, dass er die Frage nicht gehört hatte, oder dass er sie nicht beantworten wollte, als er schließlich sprach:
„Ich bin Tom Andarin, Meister Tom der Wanderer. Ich bin der, der diesseits und jenseits der Pforte lebt. Lerne mich kennen und du weißt, wer ich für dich bin.“ Vor einem schlanken Bäumchen blieb er stehen und strich mit beiden Händen sachte darüber. „Du hast Schmerzen.“ sagte er sanft. „Gib mir deine Hand.“ Zögernd reicht Felice sie ihm. Sie war verwirrt und sehr aufschlussreich waren seine Worte für sie nicht gewesen. Mit der gleichen Vorsicht, mit der er vorher die Pflanze berührt hatte, nahm er ihre Hand. Ein Kribbeln strömte von den Füßen aufwärts durch ihren Körper und ihre Schmerzen verschwanden.
„Du könntest das, was ich tue, vielleicht als Magie bezeichnen“, fuhr er fort. „ oder einfach als lebendige Mathematik.“ Felice hatte keine Ahnung was das eine mit dem anderen zu tun hatte. Für sie sah es eindeutig mehr nach Magie aus, was, wie ihr Verstand ihr mitteilte, unmöglich war. Vielleicht sollte sein Gerede auch bedeuten, dass er irgendeine Art von Wissenschaftler war, der eine Technik oder so etwas gefunden hatte, um gewisse Naturgesetze außer Kraft zu setzten. Was es auch war, im Moment war sie zu müde, um über derart komplizierte Dinge nachzudenken.
„Und wohin gehen wir?“, fragte sie in der Hoffnung auf eine normale Antwort.
„Es gibt in der Nähe eine Hütte, die ich bis zum Abend erreichen möchte“, erwiderte er.
„Bis zum Abend?“, fragte Felice entsetzt. „Ich muss zurück. Bella muss versorgt werden und ich habe nicht mal abgeschlossen“, fügte sie hinzu.
„Sie können nicht zurück. Vergile würde sich freuen, wenn Sie ihm ohne Zögern in die Arme laufen“, entgegnete Herr Andarin mit scharfem Unterton. „Um den Hund brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“
Unschlüssig blieb Felice stehen. Sie hatte wenig Lust, blauäugig hinter ihm her zu trotten. Er mochte sie vor Vergile gerettet und ihre Schmerzen gelindert haben, aber das bedeutete nicht, dass er nicht seine eigenen Absichten verfolgte. Woher wusste sie, dass die ganze Sache mit Vergile nicht von vornherein von ihm geplant und alles ein abgekartetes Spiel war? Woher hatte er überhaupt gewusst, dass sie Hilfe brauchte?
Andererseits hatte er, wenn er ihr tatsächlich geholfen hatte, wahrscheinlich Recht und Vergile wartete noch auf sie. Bella hatte genug Futter und Wasser für einen Tag und es nützte niemandem etwas, wenn sie sich von diesem verrückten Männchen umbringen lassen würde. Und im Grunde genommen hatte sie keine Wahl: Herrn Andarin direkt auf seine Glaubwürdigkeit anzusprechen, traute sie sich nicht und es hatte auch keinen Sinn. Wenn er nichts sagen wollte, würde sie ihn ganz bestimmt nicht dazu bringen. Unmutig stapfte sie weiter hinter ihrem mysteriösen Beschützer her, der schon ein ganzes Stück vorausgegangen war.
Die ersten Sterne standen bereits am Himmel und Felice stolperte mehr, als dass sie ging, als sie schließlich eine Lichtung erreichten, auf der eine kleine Hütte stand. Die Fenster waren erleuchtet und schienen ihnen einladend zuzuwinken.
Auf ihr Klopfen öffnete sich die Tür und eine kühle Frauenstimme hieß sie willkommen. „Seid gegrüßt Wanderer zwischen den Welten. Willkommen im Haus der Wacht.“ Sie traten in einen großen Raum, der von einem Kaminfeuer und einigen Kerzen, die in Halterungen an den Wänden angebracht waren, erhellt wurde. Abgesehen von ein paar Stühlen, einem Tisch und einem großen Schrank war der Raum leer. Eine große Schleiereule saß auf einem Sims über dem Kamin, sonst war niemand zu sehen. Irritiert sah Felice sich nach der Frau um, die gesprochen hatte. Lautlos und wie von selbst schloss sich die Tür hinter ihr.
„Was ist hier los?“, flüsterte Felice Herrn Andarin zu, der in die Mitte des Raumes getreten war. Doch er schüttelte nur stumm den Kopf. Die Eule auf dem Sims schuhute leise. Sie breitete ihre Flügel aus und erhob sich. Mit ausgebreiteten Schwingen glitt sie durch den Raum, umkreiste Herrn Andarin einmal und schwebte dann zur Tür. Felice drehte sich nach ihr um und prallte zurück. Anstelle der Eule stand eine hochgewachsene Frau in der Tür. Sie hatte dunkle, mit grauen Strähnen durchzogene Haare, die zu einer strengen Frisur hochgesteckt waren. Obwohl sie nicht mehr jung war, besaß sie eine hehre Schönheit und ihre aufrechte Gestalt strahlte Kraft und Klarheit aus.
Felice öffnete den Mund, doch bevor sie etwas sagen konnte, begegnete sie dem Blick der Frau. Er ging ihr durch Mark und Bein, wie die glatte, kühle Klinge eines Schwertes.
„Willkommen Felice, Tochter der Menschen“, erklang die kühle Frauenstimme in Felices Kopf.
„Was... ich... nein... hm...“, stammelte Felice und strich sich mit der Hand über die Stirn. „Ich bin Minerva, Hüterin der Schwelle, Bewahrerin des Wissens“, fuhr die Stimme fort.
„Haben Sie...du... gerade in meinem Kopf geredet? Ich meine die Stimme...“, fragte Felice matt und sah die Frau an, die reglos vor ihr stand. „Das ist lächerlich“, dachte sie. „Sie hat noch nicht einmal ihren Mund bewegt. Wahrscheinlich bin ich einfach überreizt.“ Die Stimme in Felices Kopf lachte.
„Ja, meine Tochter. Komm, du bist müde. Setz dich, iss und trink. Ein warmes Lager ist bereitet. Vergiss die Sorgen heute Nacht. Der Morgen ist weiser als der Abend und bringt neuen Rat.“ Die Frau schritt an ihr vorbei auf den Tisch zu. Felice drehte sich um, in der Absicht ihr zu folgen, blieb jedoch wie angewurzelt stehen. Während sie der Stimme in ihrem Kopf gelauscht hatte, war der Tisch völlig geräuschlos gedeckt worden.
„Nein“, flüsterte Felice verstört. Nach allem, was sie an diesem Tag erlebt hatte, war der gedeckte Tisch zu viel für ihre Nerven. Mit einem Mal erschien ihr alles bedrohlich.
„Alles ist gut“, sagte Herr Andarin und legte ihr seine warme Hand auf die Schulter. „Das ist die Arbeit der unsichtbaren Wächter. Lass uns essen und schlafen.“ Felice hatte keine Ahnung wovon er sprach, aber es klang vernünftig. Auf einmal fühlte sie sich nur noch unendlich müde und schwer.
Als Felice am nächsten Morgen erwachte, glaubte sie einen Augenblick lang im eigenen Bett zu liegen, doch dann bemerkte sie das Dachfenster, durch welches die Sonne hereinschien. Langsam kehrten die Erinnerungen an den vergangenen Tag zurück. Woran sie sich nicht erinnern konnte, war, wie sie in dieses Bett gekommen war. Sie richtete sich auf und sah sich im Raum um. Außer dem Bett befanden sich nur ein Stuhl, auf dem ein paar Kleider lagen, und ein gefüllter Wassertrog in der kleinen Dachkammer. Dem Stand der Sonne nach zu schließen musste es schon bald Mittag sein. Höchste Zeit aufzustehen und herauszufinden, was eigentlich los war. Danach würde sie auf dem schnellsten Weg heimkehren zu Bella. Dieser komische Vergile konnte schließlich nicht ewig auf sie warten.
Pfeifend stand sie auf und verließ das Zimmer auf der Suche nach einem Bad. Im oberen Stockwerk gab es jedoch nur einen zweiten Raum wie den ihren und eine Bodenluke auf dem Flur, durch die man eine Leiter hinunterklettern konnte. Sie stieg hinunter und fand sich in dem Wohnraum wieder, in dem sie am Vortag die Frau getroffen hatten. Doch sie war nicht da. Stattdessen saß Herr Andarin auf einem Stuhl am Tisch und studierte eine Karte. Er schaute auf und grüßte sie freundlich.
„Guten Morgen“, erwiderte Felice fröhlich. „Ich suche eine Dusche oder etwas in der Art.“
Schmunzelnd sah Herr Andarin sie an. „Ich fürchte, die Leute hier haben noch nie etwas von Elektrizität gehört und fließendes Wasser gibt es nur in Villen oder Palästen. Aber“, fügte er mit einem prüfenden Blick in ihr Gesicht hinzu, „oben steht ein Wasserzuber bereit. Wenn du Glück hast, ist das Wasser noch warm. Daneben liegt Kleidung für dich. Du solltest sie anziehen, es ist unauffälliger.“ Obwohl er ruhig gesprochen hatte, war sein Tonfall bestimmt gewesen.
Verdutzt stieg Felice die Leiter wieder nach oben. Warum sollte sie unauffällig sein? Am Vortag waren sie keiner Menschenseele begegnet und seitdem waren wohl kaum Dörfer und Städte aus dem Wald gewachsen.
Nachdem sie sich gewaschen hatte, besah sie die Kleidung, die auf dem Stuhl lag. „Ich bin im Mittelalter gelandet!“, dachte sie grinsend, während sie sich in das grüne Kleid zwängte, das sie tragen sollte. Es war aus einem rauen, etwas kratzigen Material gefertigt, hatte einen kleinen Ausschnitt, lange Ärmel und einen Gürtel für die Taille. Die dazugehörigen Schuhe wurden beinahe vollständig vom Saum verdeckt.
Felice sah zweifelnd an sich herunter. Fast erwartete sie, dass gleich jemand hinter der Tür hervorspringen und rufen würde: „Herzlich Willkommen bei `Versteckte Kamera´!“. Doch als nichts dergleichen geschah, machte sie sich auf den Weg nach unten.
Herr Andarin erwartete sie bereits.
„Die Kleidung steht dir gut“, stellte er in sachlichem Ton fest, nachdem er sie gemustert hatte.
„Hm“, machte Felice, ein Grinsen unterdrückend. „Darf ich fragen, wozu ich das tragen soll? Wir begegnen doch niemandem“, fügte sie hinzu. Er schaute sie an und sie meinte fast, so etwas wie Mitleid in seinem Blick zu sehen.
„Wir werden wohl einige Menschen zu Gesicht bekommen“, meinte er mit einem leisen Seufzer.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und plötzlich rastete ein Gedanke ein. „Sie hatten nie vor, heute zurückzugehen“, stellte sie fest.
„Es ist nicht möglich, die Situation hat sich seit gestern nicht geändert“, erwiderte er und sah sie durchdringend an. Felice starrte zu Boden.
„Vergile wartet noch und das wird er tun, egal wie lange wir hier sind. Die Zeit verläuft anders in dieser Welt, als auf der Erde. Egal wie viele Minuten oder Jahre wir hier verbringen, es wird immer exakt eine Stunde in unserer Welt vergangen sein, wenn wir zurückkehren. Das bedeutet, für deine Eltern oder Bella spielt es keine Rolle, ob wir jetzt gehen oder in ein paar Wochen. Und es bedeutet auch, dass wir einen Weg finden müssen, Vergile dazu zu bringen, dich aufzugeben“, erklärte er.
„Herr Andarin“, begann Felice, doch er unterbrach sie. „Nenn mich Tom“, sagte er sanft.
Sie blickte ihm nicht ins Gesicht, als sie weitersprach. „Ich... hm... woher weiß ich, dass ich Ihnen vertrauen kann, dass Sie nicht Ihr eigenes Spiel spielen? Das alles hört sich nach einer längeren Aktion an und warum sollten Sie das für mich tun? Wir kennen uns kaum.“
Nachdem sie geendet hatte, folgte eine längere Pause. Mit angehaltenem Atem wartete sie auf seine Reaktion. Immerhin hatte er ihr bereits das zweite Mal das Leben gerettet und, falls das nicht Teil seiner Pläne gewesen war, hatte er guten Grund wütend zu werden. Es war mehr ein Reflex als eine überlegte Bewegung, dass sie zurückwich, als er auf sie zutrat.
„Sieh mich an“, sagte er leise. „Ich kann dich nicht dazu `bringen´, mir zu vertrauen, es gibt keine Beweise dafür, dass ich die Wahrheit spreche. Wahrheit erkennt nur das Herz - Augen und Verstand sind oft blind für sie.“ Er schwieg einen Moment, doch Felice konnte mit den flüchtigen Blicken, mit welchen sie sein Gesicht streifte, nicht erkennen, was in ihm vorging. In seinen Augen brannte ein Feuer, dem sie nicht standhalten konnte und so irrte ihr Blick ziellos umher.
„Ich kann nicht abstreiten, dass ich persönliche Gründe habe, herauszufinden, warum Vergile was von dir wollte und danach zu handeln“, fuhr er schließlich fort und Felice war sich bewusst, dass er sie beobachtete, während er sprach. „Doch diese Gründe haben nichts mit dir zu tun. Ich verspreche dir, dass ich nicht vorhabe, dir in irgendeiner Weise Leid zuzufügen.“
Eine Zeit lang sagte niemand ein Wort, und um der unangenehmen Situation zu entkommen, ging Felice zum Tisch und setzte sich. „Schön, ich kann das eh nicht nachprüfen“, dachte sie. „Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als auf ihn zu hören. Mit oder ohne Vertrauen.“
„Warum haben Sie mir das nicht schon gestern erzählt?“, fragte sie stirnrunzelnd und versuchte sich an den letzten Abend zu erinnern.
„Du warst in keinem besonders guten Zustand“, erwiderte er.
„Ich kann mich nicht richtig erinnern“, sagte Felice nachdenklich. „Da war der Tisch... Sie sagten irgendetwas zu mir... und dann weiß ich nichts mehr.“
„Dafür sollte ich mich entschuldigen“, erwiderte Tom ernst. „Du machtest den Eindruck, dass du gleich durchdrehen und losschreien würdest. Ein wenig Baldrian sollte helfen, doch du warst so erschöpft, dass du auf der Stelle eingeschlafen bist. Es war ein Eingriff in deinen Willen. Es tut mir leid.“ Obwohl sie ihn immer noch nicht ansah, hatte Felice das Gefühl, dass er meinte, was er sagte. Auch wenn sie, abgesehen von der Entschuldigung, nichts verstand; immerhin hatte er ihr ja nichts eingeflößt, damit sie schlief.
„Iss jetzt und ruh dich aus. Wenn es dunkel ist, werden wir uns mit der Hohen Frau beraten und wer weiß, was morgen ist“, fügte er hinzu. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, standen Brot und eine Schale Obst auf dem Tisch. Erschrocken lehnte sie sich so schnell zurück, dass ihr Stuhl umkippte. Doch plötzlich stand Tom neben ihr und hielt sie fest.
„Vorsicht“, sagte er und stellte den Stuhl wieder gerade. „Es sind die unsichtbaren Wächter, die hier arbeiten. Sie dienen der Hohen Frau, fürchte sie nicht. Wenn du etwas brauchst, sage es und wenn möglich, werden sie es dir beschaffen. Ich bin bei Einbruch der Dunkelheit wieder da.“
Bevor sie etwas erwidern konnte, rauschte er zur Tür hinaus und verschwand.
Langsam begann Felice zu essen, doch sie fühlte sich äußerst unwohl in ihrer Haut. Sie konnte die Wächter nicht sehen, aber sie glaubte, ihre Anwesenheit zu spüren. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. „Hallo? Ist da jemand?“, rief sie halblaut.
Nichts rührte sich, alles blieb ruhig.
Nervös schob Felice die Schale von sich und stand auf. Augenblicklich verschwand das Essen, ohne dass sich der kleinste Lufthauch geregt hatte. Unruhig lief Felice im Raum auf und ab. Sie fühlte sich von unsichtbaren Augen beobachtet und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. „Ich brauche etwas, um mich abzulenken“, dachte sie fieberhaft „Ein Buch vielleicht, ja ein Buch wäre gut.“ Sie hatte es kaum gedacht, als ein Buch auf dem Tisch erschien. Hastig griff sie danach und verließ dann eilig das Haus.
Den Rest des Tages verbrachte sie damit, draußen umherzuschlendern, in der Sonne zu dösen oder durch das Buch zu blättern. Allerdings langweilte sie sich, da sie sich nicht traute, sich weit vom Haus zu entfernen und das Buch Kräutermärchen für Kinder enthielt. So war sie froh, als die Sonne endlich hinter den Bäumen verschwand. Mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt saß Felice vor dem Haus und blickte gedankenverloren in den dunkler werdenden Wald. Die Geräusche des Tages verstummten langsam und das Nachtleben begann. Ein paar Fledermäuse flatterten über die Lichtung hinweg. In der Nähe schrie ein Käuzchen.
„Es ist Zeit zum Essen und Beraten“, schreckte eine Stimme sie aus ihren Träumereien. Als sie aufschaute, stand dunkel und groß Tom vor ihr. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verschwand genauso lautlos im Haus, wie er aufgetaucht war. Felice rappelte sich auf und folgte ihm langsam. Es war ihr ein wenig unheimlich, dass dieser Mensch sich so leise und schnell bewegen konnte wie ein Schatten; mal abgesehen von der Tatsache, dass er sie recht gut zu kennen schien und sie fast nichts über ihn wusste.
„Sei gegrüßt“, empfing sie die kühle Stimme in ihrem Kopf, als sie über die Schwelle trat. Tom saß bereits im Schein unzähliger Kerzen am Tisch. Minerva hockte in Eulengestalt auf dem Sims über dem Kamin.
„Iss und trink mein Kind, dann wollen wir Rat halten und sehen, wohin euer Weg euch führt“, fuhr sie fort. Felice wusste nicht, was sie davon halten sollte, von einer völlig fremden Frau mit „mein Kind“ angesprochen zu werden. Unsicher, ob sie etwas erwidern sollte, setzte sie sich an den Tisch.
„Können Sie auch meine Gedanken hören?“, dachte sie in der Hoffnung, keine Antwort zu erhalten.
Die Stimme lachte. „Ja, meine Tochter. Doch lass dir davon das Herz nicht schwer werden. Alle Gedanken um mich her sind mir offenbar. Ich bin die Hüterin der Schwelle.“
„Na super! Privatsphäre adieu“, dachte Felice unbedacht. Ihr Blick streifte Tom, der ihr gegenüber saß. Sie erstarrte, als ein amüsiertes Lächeln über sein Gesicht huschte. „Können Sie etwa auch meine Gedanken lesen?“, fragte sie pikiert.
„Nur deine Körpersprache. Doch das kann sehr aufschlussreich sein“, erwiderte er.
Errötend senkte Felice den Kopf, bei dem Gedanken daran, was er möglicherweise schon alles über sie erfahren hatte. Wenn sie sich nicht besser zusammennahm und auf ihre Mimik aufpasste, wusste er am Ende noch mehr über sie, als sie selbst.
Minerva lachte wieder. „Tom ist schwer zu täuschen mein Kind“, bemerkte sie.
Felice sah auf und errötete noch stärker, als sie seinen Blick traf. Verlegen schaute sie woanders hin.
„Lass uns essen“, sagte Tom sanft.
Dankbar für den Themenwechsel, griff sie zu. Da sie außer ein bisschen Obst am Morgen nichts gegessen hatte, war sie ziemlich hungrig.
„Essen Sie nichts?“, fragte sie die Eule, die noch immer über dem Kamin saß.
„Es ist Sitte, im Land jenseits der Zeit“, ließ sich die Stimme in Felices Kopf vernehmen „Fremde oder Menschen denen du Respekt erweist, mit „Ihr“ und „Euch“ anzusprechen. Das „Sie“ der Erde klingt fremd und kalt in meinen Ohren. Nein, ich esse nicht - ich bedarf keiner Speise.“
„Aha“, dachte Felice etwas ratlos, doch sie fragte nicht weiter. Sie beendeten die Mahlzeit schweigend, die Speisen verschwanden und Minerva segelte auf sie zu. In der Landung verwandelte sie sich zur Frau. Eine ganze Weile saßen sie da, ohne ein Wort zu sagen und Felice fragte sich bereits, ob sie irgendwelche Spielregeln nicht mitbekommen hatte, als Tom zu sprechen begann.
„Hat Vergile eine Andeutung gemacht, was er von dir wollte?“, fragte er sie.
Stirnrunzelnd versuchte sich Felice an den Abend zu erinnern, als sie töricht wie ein kleines Mädchen in Vergiles Falle gelaufen war. Allerdings hatte sie etwas anderes zu tun gehabt, als auf das verrückte Gerede, das er von sich gab, zu hören. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Ich kann mich nicht erinnern...“, sagte sie. Sie ließ die Szene innerlich ablaufen und stockte. „Wartet... doch... Er sagte, ich sollte etwas für ihn finden.“
Tom warf Minerva einen Blick zu. „Das bestätigt meine Vermutung“, sagte er ruhig. Irritiert sah Felice zwischen den beiden hin und her. Offensichtlich hatten sie schon gewusst, was Vergile wollte und nur eine Bestätigung gebraucht. Und was es auch war, besonders glücklich war zumindest Tom nicht.
„Ihr müsst morgen früh aufbrechen“, hallte Minervas Stimme in Felices Kopf. „Der Durchgang ist nur in den Dämmerstunden der Sonnenwendtage offen.“ Ohne ein weiteres Wort verwandelte sie sich in den Vogel zurück und flog in die Nacht hinaus.
„Hm? Was?“, fragte Felice völlig perplex. Sie hatte keine Ahnung, was diese Bemerkung bedeuten sollte und ob der „Rat“ schon zu Ende war.
„Vergile ist kein Mensch“, sagte Tom leise.
„Nee, sondern ein Monster“, dachte Felice, doch sie sprach es nicht aus.
„Er kommt aus dieser Welt“, fuhr Tom fort „und hängt durch... einen unglücklichen Umstand seit vielen Jahren auf der Erde fest. Sein sehnlichster Wunsch ist es, zurückzukehren. Dafür braucht er... ein Amulett. Wenn er das Amulett bekommt, wird er sein Interesse an dir verlieren. Wir müssen es finden, damit du in deine Welt zurückkehren kannst“, schloss er.
„Aber es gibt einen Haken“, stellte Felice vorsichtig fest. „Weiß man, wo dieses Amulett ist, oder müssen wir die ganze Welt danach absuchen?“
„Es ist bekannt, wo es sich befindet“, erwiderte Tom. „Nur ist es nicht ganz ungefährlich, dorthin zu gelangen.“
„Na, solange wir´s überleben“, sagte Felice, in betont munterem Tonfall.
„Das hoffe ich“, antwortete er und stand auf „Wir müssen morgen früh aufbrechen. Gute Nacht.“
Er nickte ihr kurz zu und stieg die Leiter nach oben. Nach einem kurzen Moment folgte sie ihm.