Читать книгу Alles nach Plan - Sarah LeVine - Страница 3
Falco
ОглавлениеLennart von Falkenhausen, genannt Falco, betrachtete zufrieden sein Spiegelbild in dem großen, ebenholzgerahmten Wandspiegel seines Jugendzimmers, in das er vor einem halben Jahr wieder hatte ziehen müssen. Dankbarerweise war er seit jeher der Liebling seiner Mutter gewesen, die dafür gesorgt hatte, dass nichts in seinem Zimmer verändert worden war, während er an der Kölner Universität Jura studiert und mitten in der Innenstadt, im Belgischen Viertel, gewohnt hatte. Wohnung und Studium waren passé. Ohne Abschluss. Eigentlich hätte Falco am Boden zerstört sein sollen, doch die Aussicht auf die Restaurant-Eröffnung mit seinen drei besten Freunden hatte sein zusammengekrümmtes, waidwundes Ego wieder aufgerichtet und er konnte nun auch vor sich selbst zugeben, dass er dieses Studium von Anfang an gehasst hatte. Aber er wollte in die Fußstapfen seines Vaters treten und irgendwann Partner in dessen Kanzlei Vaters werden. Der einzige Weg zu dessen Anerkennung. Drei lange Jahre hatte er durchgehalten, hatte gebüffelt und sich gequält und war dennoch immer öfter durchgefallen. Und auch wenn er den anderen bei seinen seltenen Besuchen Zuhause von ausufernden Saufgelagen und tollen One-Night-Stands erzählte, sah die Wahrheit doch ganz anders aus. Getrunken hatte er allenfalls allein, um seine Verzweiflung zu betäuben. Und gevögelt hatte er nur zweimal. Beide Male mit seiner Nachbarin zwei Stockwerke über ihm, eine mollige Frau Ende dreißig mit großen Hängebrüsten und weichen Händen. Aber auch das waren eher Akte der Selbstkasteiung gewesen, denn wirkliche Begierde.
Drei Jahre voller Zweifel, Düsternis und haltlosem Taumel. Wie schlimm es wirklich um ihn stand, wurde Falco klar, als er sich immer häufiger in Suizidfantasien erging. Zunächst malte er sich nur aus, welch große Vorwürfe sich seine Eltern, besonders sein Vater, machen würde, wenn ihnen klar wurde, dass sie ihren Sohn unbarmherzig in den Tod getrieben hatten. Doch dann wurden seine Fantasien immer detailreicher und er begann nächtelang darüber zu grübeln, auf welche Art und Weise er sich am besten töten sollte. Am Ende war es sein Selbsterhaltungstrieb und nicht zuletzt sein Stolz, die ihn davon abgehalten hatten, wirklich ernst zu machen. Wie zum Henker stünde er denn vor seiner Familie da, wenn er bepisst und bekotzt und mit geschwollener Zunge von der Decke baumelnd gefunden würde.
Tonias und Vinz' Idee mit dem Restaurant war seine Rettung gewesen. Er hatte das Studium hingeschmissen, sich an diesen Rettungsanker gekrallt und nicht mehr losgelassen, bis er spürte, dass es langsam aber stetig wieder bergauf ging. Seine Freunde respektierten ihn, sie hörten auf ihn und vertrauten ihm vollkommen. Aber vor allem mochten sie ihn. So wie er war. Das hatte ihm sein lange nur geheucheltes Selbstvertrauen endlich wieder zurückgegeben. Wirbel für Wirbel hatte er sich aufgerichtet. Er glaubte sogar, sich endlich von seinem Vater gelöst und seine innere Selbstständigkeit gefunden zu haben. Das Band schien gekappt, das ihn beinahe in den Abgrund gerissen hätte.
Und dann war da noch Tonia, die ihm einfach gut tat. Er wusste noch nicht genau, wohin sie beide gingen, aber das war auch nicht wichtig. Nicht im Moment.
Falco grinste sich selbst im Spiegel an. Irgendwie hatte er etwas von dem jungen Tom Cruise, fand er, knöpfte sich sein grauschwarz gestreiftes Designerhemd zu und verwuschelte mit gespreizten Fingern sein Haar.
„Wenn du weniger Zeit für deine Haare und mehr für dein Studium aufgewendet hättest, dann hättest du vielleicht auch Erfolg gehabt."
Falco zuckte zusammen, eine kurze harte Bewegung wie die Schnittkante einer Axt. Hinter ihm war sein Bruder, Ludwig, unbemerkt ins Zimmer getreten, gefolgt von seiner Hündin, Ginger, einem dicken, verzogenen Golden Retriever.
Falco wusste sehr wohl, dass es zwei Sachen gab, auf die sein Bruder eifersüchtig war - das eine war die Liebe ihrer Mutter, die Falco deutlich bevorzugte, und das andere war Falcos volles, dunkelbraunes Haar, denn Ludwig hatte bereits mit Anfang Dreißig eine Halbglatze - Erbe seines Vaters, genau wie sein süffisanter Gesichtsausdruck. Aus irgendeinem Grund kam der bei den Klienten von Vater und Bruder gut an. Offenbar suggerierte er genau die Überlegenheit, die der Durchschnittsbürger von einem Anwalt erwartete.
Falco ließ sich seinen Schrecken nicht anmerken. In all den Jahren, die er nun in dieser Familie lebte, hatte er gelernt, wie wichtig es war, ein Pokerface aufzusetzen und erst mal die Lage zu sondieren, bevor man sich in irgendeiner Form dazu äußerte.
„Was gibt's?" fragte Falco gleichmütig.
Sein Bruder hielt ihm ein Blatt Papier hin. Falco machte keine Anstalten es anzunehmen.
„Was ist das?"
„Vater will, dass ich mich in Zukunft um seine Finanzen kümmere."
Falco fand es lächerlich, dass sein Bruder "Vater" sagte, wie in einem der Romane aus dem 18. Jahrhundert, die seine Mutter ihm als Kind oft vorgelesen hatte, wenn er nicht einschlafen konnte. Wo, dachte er, dass er sich befände - in der Familie von Jane Austens Emma? Warum nannte er ihn nicht beim Vornamen wie jeder normale Erwachsene? Dennoch gab es ihm einen Stich, dass sein Vater Ludwig nun scheinbar die Verwaltung des Familienvermögens anvertraut hatte, wusste Falco doch, wie sehr ihm sein Geld am Herzen lag. Mehr als seine Frau und seine beiden Söhne, mehr als sonst irgendwer oder irgendwas.
Falcos Gesichtsausdruck blieb undurchschaubar. Das war seine einzige Waffe, sein Schutzschild gegen diesen Angriff. Er gönnte seinem Bruder die Genugtuung nicht, die er empfände, wenn er sähe, dass Falco wirklich schockiert war und konzentrierte sich vorsichtshalber ganz auf das Zuknöpfen seines Hemdes.
„Und?"
„Und das hier ist ein Rückzahlungsplan für deine Schulden. Angefangen mit dem Geld, das unsere Eltern dir fürs Studium zur Verfügung gestellt, haben, Miete, Essen usw. bis hin zu dem Betrag, den sie dir für deine Klitsche geliehen haben..."
Falco konnte sich nicht länger beherrschen und unterbrach Ludwig wütend.
„Wieso fürs Studium? Dir haben sie das Studium auch finanziert und dir dann noch die ganze Kohle für dein Haus geschenkt."
„Im Gegensatz zu dir habe ich mein Studium aber beendet und Vater sein investiertes Geld mehr als zurückgezahlt, indem ich jede Menge potente Klienten an Land gezogen habe. In deinem Fall allerdings handelt es sich schlicht um eine Verschwendung von Humankapital."
Falco hasste Ludwigs Art zu sprechen. Was für ein Hanswurst! Er glaubte wirklich, er könnte sich hinter diesem Wortschwulst verstecken. Dabei wusste Falco mehr als genug über seinen Bruder, um ihn auf jeder Party lächerlich machen zu können. Dass er noch bis 14 ins Bett gepisst hatte, oder dass er regelmäßig zu Nutten ging und dass er seit mindestens drei Jahren eine Psychotherapie machte. Aber dieses Wissen sparte Falco sich für den richtigen Moment auf. Er wusste sehr gut, dass derartige Munition, richtig platziert, zu einem weit größeren Effekt führte.
„Mama und Papa kriegen ihr Geld zurück, sobald das Restaurant richtig läuft."
„Toll! Ja, das sind wirklich ganz hervorragende Aussichten", bemerkte Ludwig ironisch. „Ab jetzt bekommst du keinen Cent mehr von uns. Also sieh zu, dass du den Karren alleine aus dem Dreck ziehst, ist das klar!"
Er streckte Falco das Papier erneut entgegen, doch Falco drehte sich demonstrativ wieder zum Spiegel um, sodass Ludwig genötigt war, das Blatt auf den Boden fallen zu lassen.
„Wenn das alles ist, mach die Tür von außen zu! Ich will mir in Ruhe einen runterholen!"
Ludwig schüttelte missbilligend den Kopf, erwiderte aber nichts und ging zur Tür.
„Und vergiss nicht, deinen fetten Köter mitzunehmen!"
Als die Tür ins Schloss knallte, wusste Falco, dass er das Scharmützel, trotz dieses kleinen Stichs, verloren hatte und das machte ihn nervös.
Eine halbe Stunde später zog er die Eingangstür seines Elternhauses leise hinter sich ins Schloss. Er wollte nicht gesehen oder gehört werden. Es war ein windiger Tag, aber die Sonne brannte vom Himmel und die bauchigen Wolken erschienen auf stürmische Art zerzaust. Der Frühsommer hatte Einzug gehalten, es roch nach Flieder und Meer und die unstete Atmosphäre erfüllte Falco mit freudiger Erwartung.
Als er die Auffahrt zum Anwesen seiner Eltern herablief, fiel ihm der Mercedes-Kombi ins Auge, dessen Kofferraum bis zum Rand mit Reisegepäck vollgestopft war. Falco erinnerte sich, dass sein Bruder und seine Schwägerin, Evelyn, die Ende September ein Baby erwartete, in den Urlaub fliegen wollten, um noch einmal die letzten Wochen alleine zu genießen. Ludwig schenkte seiner Familie einen Enkel. Er machte einfach alles richtig. Der perfekte Sohn - dachte Falco und ahmte Würgelaute nach. Als er an dem geöffneten Mercedes vorbeiging, erblickte er die Video-Kamera, die neben Ginger auf dem Beifahrersitz lag. Der Hund knabberte hingebungsvoll an einem roten Ball und geiferte ihn von oben bis unten voll. Als Falco sich dem Auto näherte, knurrte Ginger ihn warnend an. Sie hatten sich von Anfang nicht gemocht und, alle beide, keinen Hehl daraus gemacht. Doch jetzt verlieh Falco seiner Stimme einen freundlichen Anstrich und forderte die Hündin zum Spielen auf. Nach einem skeptischen Blick wedelte sie schließlich mit dem Schwanz und ließ von dem vor Sabber triefenden Ball ab. Falco griff mit spitzen Fingern danach, hielt ihn mit Daumen und Zeigefinger fest und unterdrückte seinen Ekel.
„Na los, hol dir das Bällchen! Komm, hol's dir!" presste er hervor und warf den Ball so weit wie möglich weg.
Hechelnd und schwanzwedelnd rannte Ginger ihm hinterher.
„Du dämlicher Köter!" grinste Falco und schnappte sich die Video-Kamera.
Er rannte mit ihr zu einem Schuppen, in dem seine Familie die Fahrräder abstellte und seine Mutter ihre Gartenutensilien aufbewahrte, stolperte über eine Harke und fluchte, hörte aber im selben Moment die Stimme Evelyns, die seit Beginn ihrer Schwangerschaft einen unangenehm schrillen Klang angenommen hatte, was Falco diebisch freute, da es seinen Bruder ungemein nervte. Evelyn war nie ein ausgeglichener Mensch gewesen, aber die Hormone hatten aus ihr eine launige Furie gemacht. Eigentlich mochte Falco seine Schwägerin, aber auch er ging ihr in letzter Zeit lieber aus dem Weg. Einzig die Tatsache, dass sie seinem Bruder das Leben zur Hölle machte, indem sie ihn wegen jeder Kleinigkeit ankeifte, führte dazu, dass Falco sie noch ein bisschen mehr in sein Herz schloss, wenn auch aus sicherer Entfernung.
Um besser hören zu können, presste Falco sich an die Wand des Schuppens und lugte vorsichtig um die Ecke. Evelyn stand mit dem Rücken zu ihm und ihre langen blonden Haare flatterten im Wind. Sie hatte die eine Hand in ihr Hohlkreuz gepresst, die andere brauchte sie, um damit wild zu gestikulieren. Falco konnte nicht alles verstehen, begriff aber, dass Evelyn das Fehlen der Kamera bemerkt hatte und nun Ludwig beschimpfte, weil er so dumm gewesen war, das Auto offen und unbeaufsichtigt stehen zu lassen. Ludwig machte ein paar schale Versuche, sich zu verteidigen, was ihm von seiner Frau ein freudloses Lachen einbrachte, und versprach schließlich, am Flughafen eine neue Kamera zu kaufen, aber auch das schien Evelyn nicht zu besänftigen. Falco hatte genug gehört. Zu wissen, dass der Urlaub für seinen Bruder alles andere als ein Vergnügen werden würde und die Tatsache, dass er die nächsten Stunden neben Evelyn im Flugzeug würde sitzen müssen, ohne Aussicht auf eine Fluchtmöglichkeit, bescherte ihm die Genugtuung, die er sich gewünscht hatte. Jetzt war er der Gewinner.
Den Gurt der Kameratasche über der Schulter schlich er mit seinem Rennrad nach draußen. Der Wind hatte sich gelegt und die Sonne strahlte warm und einladend auf ihn nieder, als er kräftig in die Pedalen trat.