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Bert

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„Wie ich das hasse", dachte Robert Haller, genannt Bert, durchstieß die feuchte Erde mit seiner Schaufel und besah sich den kompakten Dreckklumpen. Er wimmelte vor Asseln. Mit ihren strichförmigen Beinchen strampelten sie um ihr Leben, doch Bert warf die Erde mit einer geübten Armbewegung einfach auf den angehäuften Hügel hinter sich. Er verabscheute den dumpfen, modrigen Geruch nasser Erde, der ihm in die Lungenflügel kroch und sie zusammenpresste, als müsste er feste Materie einatmen. Er rammte die Schaufel mit einem kratzigen Geräusch in den weichen Boden und schob ein paar Beerdigungsbohlen mit dem Fuß zur Seite. Im Hintergrund leierte die monotone Stimme des Pfarrers uninspirierte Worte zur letzten Ruhe herunter. Eine Litanei, so abgegriffen und fadenscheinig wie ein zu oft gewaschenes Bettlaken.

Die Tatsache, dass niemand laut schluchzte, verriet Bert, dass es sich bei dem Toten wahrscheinlich um einen betagten Menschen handelte, für den die Zeit reif war oder um jemanden, der von niemandem geliebt worden war. Seit seinem sechsten Lebensjahr tummelte Bert sich auf dem Friedhof herum, und hörte einfach, wie es in sozialer Hinsicht um den Toten bestellt gewesen war. Es sei denn, die Leute waren wirklich alt und hatten sich in ihren letzten Lebensjahren zu sabbernden, in die Windeln kackenden Hauthüllen verwandelt - so wie Berts Opa. Jenen weinte auch niemand eine Träne nach.

Bert wünschte sich inständig, ihm bliebe das erniedrigende Altern erspart. Ein schneller, sauberer Tod, wenn er noch alle Sinne beieinander hatte, nebst Kontrolle über seinen Schließmuskel - das strebte er an. Auch wenn das ein kürzeres Leben bedeuten würde.

Der Pfarrer kam langsam zum Ende, Asche zu Asche und so weiter. Es war immer noch derselbe wie in Berts Kindheit, und an seinen Trauermonologen hatte sich in all den Jahren auch nicht viel geändert. Früher hatte er sich wenigstens noch die Mühe gemacht, Anteilnahme zu heucheln, fand Bert und wischte sich die erdverkrusteten Hände an seinem Blaumann ab, bis sie krümelten. Er stapfte umständlich aus der siebzig Zentimeter tiefen Grube, die einmal ein Grab werden sollte, wobei er sich seiner kräftigen Statur, die ihn bei allen körperlichen Aktivitäten plump erscheinen ließ, schmerzhaft bewusst wurde und jetzt kam noch ein übler Muskelkater dazu. Der jedoch erfüllte ihn mit Genugtuung. Er war mehr als zufrieden mit den Renovierungsarbeiten der letzten Wochen, während derer er sich und den anderen bewiesen hatte, dass sie nicht nur ihm einen Gefallen taten, als sie ihn mit an Bord genommen hatten, sondern dass sie ihn wirklich gebrauchen konnten. Dass ohne ihn ein wesentlicher Bestandteil gefehlt hätte, dass er einer der Grundpfeiler war, auf den die anderen ihren Traum fußen lassen konnten, ohne sich darum zu sorgen, dass er wanken oder einstürzen würde. Er war wichtig.

„Ich werde nicht hier enden. Nicht wie du", dachte Bert, als er seinen Vater auf dem Boden kniend an einem kleinen Bagger werkeln sah, leise Flüche ausstoßend. Offenbar gelang ihm nicht, was er vorhatte. Neben ihm hockte sein Mitarbeiter, Ulf. Mit seinem sommersprossigen Gesicht, das wie gemeißelt wirkte und den rotblonden Haaren, die in weichen Locken auf seine Schultern fielen, wirkte Ulf seltsam deplatziert in seinem verschmutzten Blaumann - wie ein verirrter Engel. Aber nur solange, bis er den Mund aufmachte und seine vulgäre Art zu sprechen den botticellihaften Eindruck in Sekundenschnelle zerstörte. Wie oft hatten Bert und sein Vater ihm schon geraten, er solle vor den Frauen so tun, als wäre er stumm, aber selbst dazu schien Ulf schlicht zu dämlich zu sein, also wartete er bis heute darauf, die Eine kennenzulernen, die ihn so akzeptierte wie er war. Dumm, gewöhnlich und wunderschön.

Dabei hatte Bert es selbst schwer beim anderen Geschlecht. Bullig war der Ausdruck, der einem als erstes in den Sinn kam, wenn man ihn sah. Seine durchaus leuchtend blauen Augen standen etwas zu weit auseinander, seine Nase war zu breit und seine vollen Lippen glänzten immer ein wenig ölig. Das Aussehen hatte er von seinem Vater und das war nicht das einzige, das er ihm krumm nahm.

Ulf grunzte, als Berts Vater ein paar unflätige Scherze vom Stapel ließ, während Bert mit dem Handrücken über seine kurzen, stacheligen Haare fuhr und zu der kleinen Trauergemeinschaft herüber spähte. Greise, um die neunzig, gänzlich in muffiges Schwarz gekleidet, standen sie da in der schiefen, leicht gekrümmten Haltung, als hätten sie alle Schicksalsschläge immer mit derselben Körperhälfte pariert. Sie pressten die Lippen aufeinander, wirkten streng und unnachgiebig und fragten sich wahrscheinlich allesamt, wer von ihnen der Nächste sein würde. Der Pfarrer blickte genervt zum Himmel.

Die Trauergäste hingegen hielten den Atem an, da der Sarg von den Trägern in das Grab hinabgelassen wurde, doch er verschwand ohne Zwischenfall im Grab und die Trauergäste atmeten weiter.

Bert sah zu seinem Vater und Ulf herüber und deutete mit dem Kopf auf die Trauergemeinschaft.

„Weiß jemand, wer der Tote ist?"

Sein Vater reckte den Hals, um besser sehen zu können.

„Ich bin nicht ganz sicher, aber ich tippe auf den Typ im Sarg", sagte er und grinste.

Ulf ließ sein debiles Kichern wie ein Husten klingen, etwas, das Berts Vater ihm beigebracht hatte, aus Gründen der Pietät. Bert verzog unwillig die Mundwinkel. Als er den Spruch das erste Mal gehört hatte, hatte er ihn auch ziemlich witzig gefunden, aber nach all den Jahren, in denen er seinem Vater jetzt schon zur Hand ging, war er nur noch davon angeödet.

„He, ich brauche einen Freiwilligen für Überstunden. Heute und morgen auch", rief sein Vater laut.

Bert wich dessen erwartungsvollem Blick aus, und auch Ulf schien wenig begeistert über die Aussicht zu sein, sein Wochenende auf dem Friedhof zu verbringen. Er sah geschäftig zu Boden und murmelte Unverständliches.

Bert konnte seinem Vater eigentlich nichts abschlagen, da er ihm, für seine Verhältnisse, eine Menge Geld geliehen hatte, damit sein Sohn sich selbst verwirklichen konnte, wie er es genannt hatte. Er hatte tatsächlich diese Worte benutzt und zwar bar jeder Ironie. Bert konnte nur ahnen, was dies für einen Mann wie seinen Vater bedeutete, er hatte ihm ja nicht mal zugetraut, dass er Ausdrücke wie diese überhaupt kannte, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Respekt und Dankbarkeit ihm gegenüber empfunden. Das machte fast alle Hänseleien wett, die er seinetwegen im Laufe seiner Kindheit erdulden musste. Aber nur fast. Der Sohn eines Totengräbers zu sein, hatte die Fantasie seiner Mitschüler auf das Schlimmste befeuert und Berts Schulzeit war ein nervenaufreibender Spießrutenlauf gewesen, der erst endete, als sich seine Statur von klein und schmächtig in groß und bullig verwandelt hatte.

„Ich dachte mir schon, dass ihr euch vor Eifer gegenseitig umbringt", sagte sein Vater lakonisch und erhob sich stöhnend vom Boden.

Er nestelte an seiner Hosentasche herum und als er gefunden hatte, was er suchte, hielt er es augenzwinkernd in die Höhe. Es war eine Schachtel mit Streichhölzern.

„Dann müssen wir eben Hölzchen ziehen."

Bert sah sich bereits Nachtschichten schieben, denn er hatte das Glück selten auf seiner Seite, wenn es darum ging, das Schicksal entscheiden zu lassen. Sein Vater hielt die zwei Hölzchen verdeckt in seiner Hand und streckte sie Ulf entgegen. Sein hübsches Gesicht nahm den hohlen Ausdruck eines Karpfens an, als er bemerkte, dass er den Kürzeren gezogen hatte.

Bert ließ sein erleichtertes Auflachen wie ein Husten klingen. Auch er war durch die Schule seines Vaters gegangen.

Eine Viertelstunde später saß er in Papas zerbeultem weißen Kastenwagen, ließ sich den Fahrtwind ins Gesicht wehen und rappte laut zu den Klängen von Bushido mit, während sich Ulf seine Pläne für das Wochenende sonst wohin stecken musste. Bert war in Hochstimmung.

„Ein gutes Omen", dachte er, schlug mit der Faust den Takt zur Musik aufs Lenkrad und rappte mit.

Vielleicht mache ich jetzt alles falsch, ich spüre diesen Klumpen in meinem Hals.

Ich schluck und rede nicht mehr.

Ich guck und seh dich nicht mehr.

Ich lass nichts mehr an mich heran, schenk dein Leben einem anderen Mann.

Steh auf und geh ohne mich.

Ich frag irgendwann den Wind wo du bist.

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