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Vinz

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Vincent Nedjad, genannt Vinz, wirbelte gekonnt mit den Messern durch die Luft. Er hatte sein Publikum fest im Griff, die Stamm-Kundschaft im Imbiss seiner Mutter, Bauarbeiter und Handwerker in ihren speckigen Arbeitsklamotten, ein paar Büroangestellte mit Anzug und Krawatte, gehetzte Mütter, die es nicht mehr geschafft hatten, Mittagessen zu kochen - sie alle hingen an seinen Lippen. Das war etwas, das ihn schon in der Schule zu einem der beliebtesten Schüler gemacht hatte - er konnte seine Lehrer betören und, gleichzeitig, seine Mitschüler amüsieren. Seine strohblonden Haare, dazu der gebräunte Teint, den er von seinem verstorbenen Vater geerbt hatte und die großen, dunklen Augen, aus denen pure Energie zu strahlen schien, machten ihn seit jeher unwiderstehlich - für alle. Was für ein Glück das war, hatte Vinz schon sehr früh begriffen. Seine Mutter musste schwer schuften, um sie beide durchzubringen. Ihr Imbiss warf nicht viel ab, gerade genug, dass sie beide davon leben konnten, aber sie hatte sich nie beschwert. Etwas, das Vinz sich von ihr abgeguckt hatte. Einstmals eine Schönheit, war sie vorzeitig verwelkt und sah immer abgekämpft und müde aus. Nur wenn sie ihren Sohn erblickte und unwillkürlich lächelte, war die Frau, die sie einmal gewesen sein musste, noch zu erkennen, dann ging ein Strahlen von ihr aus, das an die satten Farben von Akeleien erinnerte und sie einen schwindligen Moment lang wieder erblühen ließ.

Ihre Armut und die Tatsache, ohne Vater aufwachsen zu müssen, hätten aus Vinz auch einen bedauernswerten Jungen machen können. Einer, den man lieber meidet, um den eigenen gesellschaftlichen Status nicht zu gefährden. Stattdessen rissen sie sich in der Schule um ihn. Vor allem die Mädchen. Jeder wollte mit ihm befreundet sein. Und wenn doch einmal jemand darüber lästerte, dann zögerte Vinz nicht, stellte ihn zur Rede und wurde, zur Not, auch handgreiflich. Die Lehrer sahen über derlei Prügeleien großzügig hinweg und wer schlau war, hielt die Klappe. Obwohl Vinz die freie Auswahl hatte, war er mit Bert, Tonia und Falco befreundet, seit sie sich in der Grundschule kennengelernt hatten. Vinz hatte viele Bekannte, aber nur diese drei zählte er zu seinen Freunden. Er hatte einige Geschichten mit Mädchen gehabt, aber längst nicht so viele, wie er hätte haben können. Die meisten Gerüchte, die diesbezüglich über ihn kursierten, waren erfunden. Vinz kümmerte das nicht weiter, denn er hatte einen Traum. Ein Ziel, das er verfolgte, seit er elf war. Er wollte sein eigenes Restaurant. Etwas mit Stil. Etwas mit kreativem Anspruch. Und er wollte kochen. Er kochte seit seinem neunten Lebensjahr. Mit Leidenschaft.

Nach dem Abitur war er der einzige, der einen Plan verfolgte, alle anderen schienen im Nichts zu schwimmen, klebten fest im Sirup des Möglichen und kamen nicht von der Stelle.

Allein Vinz mietete sich bereits einen Tag nach dem Abschluss ein winzig kleines Zimmer in Köln und klapperte die besten Restaurants der Stadt ab. Da ihm eine Lehre nicht schnell genug ging und er es gewohnt war, zu bekommen, was er wollte, ging er einfach zu den Küchenchefs, bot sich als Mädchen für alles an und wollte dafür nicht bezahlt werden, sondern den Maitres nur ab und zu über die Schulter gucken. Nicht alle Spitzenköche, aber zwei von ihnen ließen sich darauf ein und es dauerte nicht lange, bis Vinz sie um seinen Finger gewickelt hatte, denn er schien immer überall gleichzeitig zu sein - sein Timing war nachgerade unheimlich. Zwischendurch kellnerte er noch in Studentenkneipen, um sein Zimmer bezahlen zu können. Und er lernte. Er saugte alles auf, was er zu sehen bekam und ab und zu ließen sie ihn sogar kochen. Tief beeindruckt von seiner Sensibilität für Gewürze und seinem Gespür für ungewöhnliche Geschmackskombinationen, boten ihm alle beide eine richtige Lehre an. Vinz lehnte alle beide ab.

Er hatte seinen Plan und von dem wich er nicht ab. Drei Jahre hielt er durch. Drei Jahre schrubbte, ackerte und plagte er sich, dann war er physisch und psychisch am Ende.

Doch er war ebenso bereit. Die Zeit war reif. Er brauchte nur noch ein paar Mitstreiter und eine davon wohnte immer noch in dem Dorf, in dem sie gemeinsam aufgewachsen waren. Also kehrte er zu seiner Mutter zurück, schlief zwei Tage und Nächte lang durch und ging dann schnurstracks zu Tonia, um mit ihr über seinen Traum zu sprechen. Danach ergab sich alles wie von selbst.

Es war fast schon zu einfach gewesen.

Jetzt schnitt Vinz eine Vanilleschote der Länge nach mit einem Kai Shun Allzweckmesser auf, das er manchmal sogar in einer ledernen Scheide bei sich trug, die seine Mutter ihm geschenkt hatte, kratzte mit der stumpfen Seite des Messers das Mark der Vanille heraus und roch genussvoll daran. Der runde, herbe, etwas rauchige Duft durchdrang seine Nasennebenhöhlen wie ein weicher Hochflorteppich.

„Hmmm. Merkt euch bitte eines, meine Herren: Ein Mann, der nichts von Nachspeisen versteht, hat keine Chance, bei den Ladys zu punkten."

Mit seiner linken Hand wedelte er sich erneut den Duft der Schote in die Nase.

„Dieser Geruch haut einen echt um. Wusstet ihr, dass man sich früher mit Vanillemark eingerieben hat, wenn man jemanden verführen wollte. Ein spitzenmäßiges Aphrodisiakum. Ich gestehe, ich hab' s auch mal versucht. Hat allerdings nicht geklappt. Wahrscheinlich habe ich einfach die falschen Körperteile eingerieben."

Die Männer lachten amüsiert. Vinz ließ seinen Blick über das Interieur schweifen. Ihm war vorher nie wirklich aufgefallen, wie erbärmlich hier alles aussah. Die abgenutzten weißen Stehtische, der Glückspielautomat an der hinteren Wand, der seit anderthalb Jahren kaputt war und keinen Mucks von sich gab, der Mülleimer aus hellblauem Plastik, der sein trauriges Dasein hinter der Theke schon mehr als zehn Jahre fristete und die alte Fritteuse, der Grill - all das war irgendwie traurig. Aber es war penibel sauber, darauf achtete seine Mutter peinlich und das Essen, das sie servierte, war tatsächlich schmackhaft, ihre Frikadellen waren sogar eine Offenbarung, aber das änderte wenig daran, dass es sich um einen primitiven Imbiss handelte, in dem hauptsächlich Pommes Frites verzehrt wurden. Einmal mehr schwor Vinz sich, seiner Mutter einen langen Urlaub der Luxusklasse zu spendieren, sobald er das erste Geld auf dem Konto hätte. Dann würde sie vielleicht endlich den Geruch des Frittenfetts los, der sich in all den Jahren in ihre Haut und Haare hineingefressen hatte und auch durch tägliches Haarewaschen und Duschen nicht weg zu schrubben war. Er wusste, wie sehr sie darunter litt, wie sehr es ihr jeden Tag ihre klägliche Existenz bewusst machte, die sie nur in der Hoffnung ertrug, ihrem Sohn einmal ein besseres Leben bieten zu können. Und er würde den Teufel tun und sie enttäuschen.

Vinz warf die Vanilleschote nebst ausgekratztem Mark in einen Topf mit Milch und drehte sich herum, um aus dem kleinen Backofen hinter sich ein goldbraunes, knuspriges, perfekt aussehendes Brathähnchen zu ziehen, dessen buttriger, würziger Geruch für einen Moment die fettgeschwängerte, heiße Luft des Imbiss überlagerte und sie auf einfache Art verfeinerte.

„Guckt euch das an! Ich mache euch einen Vorschlag: Jeder hier darf probieren, umsonst, aber wenn's euch schmeckt, dann will ich euch jeden Abend in meinem Restaurant sehen!"

Er erntete beifälliges Gemurmel und begann das Hähnchen auf Plastikteller zu verteilen.

„He, he! Finger weg von meiner Kundschaft!" rief seine Mutter scherzhaft stibitze sich ein Stück weißes Fleisch vom Hähnchen und steckte es sich genüsslich in den Mund.

Als sie strahlte, wusste Vinz, dass es gelungen war. Seine Mutter war schon immer seine schärfste Kritikerin und seine erste Lehrmeisterin in der Küche gewesen. Sie wusste weit mehr über die hohe Kunst des Kochens als es den Anschein hatte. Auch sie hätte es zur Spitzenköchin bringen können, wenn die Dinge in ihrem Leben anders gelaufen wären.

Waren sie aber nicht.

Ein Geräusch lockte Vinz' Blick durch das Fenster auf vier Teenager, die draußen den Plastikpinguin mit der Menükarte vor dem Imbiss traten und boxten. Offensichtlich ganz erpicht darauf, einander zu zeigen, wie cool und furchtlos sie waren. Vinz klopfte heftig an die Scheibe und die vier guckten, im ersten Moment erschrocken, zu ihm auf. Dabei verwandelten sich ihre Gesichter, eben noch Spiegelbilder von Renitenz und Provokation, in die von vier kleinen Kindern, die mit großen Augen und offenen Mündern beim Naschen von verbotener Schokolade erwischt worden waren. Doch der Schreck währte nicht lange. Vinz verscheuchte sie mit einer energischen Geste und die vier Teenager zeigten ihm unisono den Mittelfinger. Besonders ein Mädchen mit langen blonden Haaren, Stupsnase, Zahnlücke und einer roten Kappe schien wenig beeindruckt von Vinz' Autorität. Ihre drei Freunde zogen sie sie schließlich mit sich fort.

Einer der Gäste, ein Bauarbeiter mit Schmerbauch und kunstvollem Schnäuzer, ließ unterdessen Unmengen an Salz über das Hähnchen rieseln.

„Helmut, was zum Henker machst du denn da? So schmeckst du doch gar nichts mehr!" entfuhr es Vinz.

Helmut zuckte nur die Achseln und stopfte sich dann das Hähnchen in den Mund.

„Marlene, ich brauch hier dringend noch was Ketchup!" brummte er an Vinz' Mutter gewandt.

Vinz entgleisten die Gesichtszüge.

„War nur 'n Spaß, Kleiner. Ist lecker! Wirklich richtig gut."

„Hast du auch nur einen Moment daran gezweifelt, dass es perfekt ist?" fragte Marlene ihren Sohn lächelnd.

Vinz legte scherzeshalber seine Hände um den massigen Hals Helmuts und tat so, als würgte er ihn. Der machte den Spaß mit, verdrehte die Augen und streckte die Zunge heraus. In dem Moment betrat Falco den Imbiss, die Tasche mit der Videokamera in Händen. Er begrüßte Marlene höflich und nickte Vinz dann zu, der sich sofort die Schürze vom Leib zerrte, seiner Mutter einen Kuss auf die Wange drückte und zusammen mit Falco den Imbiss verließ.

Draußen empfing die beiden die vibrierend frische Luft des Frühsommers. Riesige Wolkenfetzen fegten über den Himmel, der Wind hatte wieder zugenommen.

„Ist mit dir alles ok?" fragte Vinz nach einem Blick auf Falco.

Falco zögerte einen Moment. Er hätte gerne mit seinem Freund über die Sache mit Ludwig gesprochen, aber er wollte die Stimmung nicht versauen. Heute war ein wichtiger Tag. Sie hätten später noch genug Zeit, über Ludwig zu lästern.

„Alles bestens!"

Vinz sah nicht überzeugt aus, ließ es aber auf sich beruhen. Er wusste, dass man Falco nicht drängen durfte.

„Sag mir lieber, wie es deiner Mutter geht. Sie sah ziemlich fertig aus", sagte Falco.

„Sie macht sich einfach Sorgen, ob auch alles so klappt, wie wir uns das vorstellen. Du kennst sie doch", erwiderte Vinz.

Das tat Falco. Im Gegensatz ihrem Sohn, der sich nie um irgendetwas zu scheren schien, war Marlene ein Sorgenbündel. Besonders, wenn es um ihr einziges Kind ging. Die Liebe zwischen den beiden war etwas sehr besonderes, fand Falco. Bedingungslos. Früher war er deswegen oft eifersüchtig gewesen und auch heute verpasste es ihm manchmal noch einen Stich, aber er konnte jetzt besser damit umgehen.

„Ist sie da?" fragte Vinz und spürte, wie die Aufregung ganz plötzlich Besitz von ihm ergriff.

„Erholt, bestens gelaunt und für alle Schandtaten bereit!" erwiderte Falco und grinste breit.

Die beiden teilten einen komplizenhaften Blick und in Falco glomm Bedauern auf, dass er nicht Vinz zu seiner Familie zählte, sondern den bescheuerten Ludwig. Er hätte das Geld und die Privilegien, die ihm seine Familie geboten hatten sofort dafür eingetauscht, ein Teil von Vinz' Familie zu sein, ein Teil dieser Liebe zu sein.

„Was ist das?" fragte Vinz und deutete auf die Videokamera.

„Ein Geschenk von meinem Bruder", erwiderte Falco und fügte auf Vinz' skeptischem Blick hinzu, „Er weiß nur noch nichts davon."

Vinz lachte und schlug seinem Freund kräftig auf die Schulter.

„Verstehe!"

Das reichte schon. Es reichte, um Falcos Herz ein Stück leichter werden zu lassen.

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