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Tonia

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Tonia hatte dem Volvo-Kombi ihrer Eltern noch lange nachgesehen, als er Richtung Schwarzwald davongefahren war, solange bis dessen Rücklichter nur noch zwei glühende Punkte in der Ferne waren, die eine Weile im Nichts zu schweben schienen und dann erloschen. Das war gestern Abend gewesen. Und noch heute versuchte sie das Bild aus ihrem Kopf zu merzen, wie ihr Vater ihr mit seiner linken Hand einen letzten Abschiedsgruß geschickt hatte. Warum hatte er ausgerechnet die Linke dafür benutzen müssen, dachte Tonia. Die Hand war noch immer verbunden, nachdem ihm vor drei Wochen Zeige- und Mittelfinger amputiert worden waren. Der Diabetes forderte langsam seinen Tribut. Und so würde es auch weitergehen, wenn ihr Vater nicht mit dem Trinken aufhörte.

„Warum soll ich aufgeben, was mir neben dir und deiner Mutter am meisten bedeutet?" erwiderte er jedes Mal stur, wenn Tonia ihn anflehte, endlich den Alkohol zu meiden, oder zumindest zu reduzieren. „Wenn du das, was du tust, nicht mit Leidenschaft tust, dann lass es lieber gleich" pflegte er hinzuzufügen, wenn Tonia oder ihre Mutter ihm widersprechen wollten.

Tonia bewunderte ihren Vater im Stillen für diese Hingabe, auch wenn sie sich große Sorgen um ihn machte und Angst hatte, ihn zu früh zu verlieren. Ihre Mutter hingegen betrachtete die Lage weitaus nüchterner. Sie hielt das Gerede über Leidenschaft nur für die Ausrede eine Alkoholikers, nicht mit dem Trinken aufhören zu müssen. Auch wenn sie in diesem Fall sicher recht hatte, so war Tonia der verklärende Blickwinkel ihres Vaters schon immer näher gewesen. Wenn man sich dem Wein mit Leib und Seele verschrieben hatte, so wie er, dann war es gar nicht anders möglich, als in jedem Tropfen eine neue Welt zu entdecken. Das war das Geheimnis eines guten Weines. Er erzählte eine Geschichte. Er flüstert dir zu, auf welchem Boden er gewachsen war, wie viel Wind und Sonne er genossen hatte, ob er gut behandelt worden war, verzärtelt und gehätschelt, oder ob man ihm Gewalt angetan hatte. Wollte man einen guten Wein wirklich begreifen, so musste man seiner Geschichte lauschen und bereit sein, sich mit ihm auf eine Reise zu begeben, ganz egal, wohin sie einen bringen würde. Genau wie bei einem guten Freund. Alle Sinne waren dafür nötig.

Nicht jeder war dafür gemacht, aber Tonia hatte dieses Talent von ihrem Vater geerbt. Schon mit zwei Jahren hatte sie zwischen all den Flaschen im Weingeschäft gespielt und nie auch nur eine einzige davon zerbrochen, obwohl sie ein ungestümes kleines Mädchen gewesen war. Ihre Mutter hatte es gar nicht gerne gesehen, als sie sich für den gleichen Weg entschieden hatte wie ihr Vater. Tonia war eine gute Schülerin gewesen, sie hätte alles Mögliche machen können, Ärztin, Anwältin, Journalistin, aber Tonia interessierte all das nicht. Wein, das war Poesie und Rausch, Abenteuer und Sinnlichkeit. Welcher andere Beruf hätte ihr das schon geben können? Ihre Mutter verstand das nicht. Sie unterteilte Weine schlicht in die Kategorien mögen und nicht mögen. Ihr Vater hatte ihr einmal erklärt, wieso das so war. Es gäbe nun mal Menschen, die es liebten zu tanzen, anmutig über das Parkett schwebten und solche, die es hassten und zwei linke Füße hätten. So ähnlich verhalte es sich auch mit dem Wein. Tonia und er seien Tänzer und ihre Mutter könnte allenfalls unter großer Anstrengung den Takt halten.

Tonia schwang sich auf ihr Fahrrad. Die Luft roch würzig und verheißungsvoll und glitt über ihren Körper hinweg wie ein einziger kühler Atemhauch. Sie spürte, wie die Aufregung an ihr empor kroch, spürte das feine Lodern. Jetzt war es bald soweit. Die Schufterei der letzten Wochen zahlte sich endlich aus. Das Leben, ihr Leben, konnte beginnen. Es war, als fügte sich mit einem Mal alles zusammen, als wären die Puzzleteilchen, die im Laufe der Jahre seit ihrer Geburt entstanden waren, nun ineinander verzahnt und ergäben endlich ein wundervolles Bild, das hier und da noch verfeinert werden konnte, aber das im Großen und Ganzen schon ziemlich perfekt war.

Die letzten Meter zum Restaurant legte Tonia einen Sprint hin, der sie kräftig ins Schwitzen brachte. Sie barst vor Energie, obwohl sie wenig geschlafen hatte in den letzten Tagen. Die Endorphine des Schlafentzugs tobten in ihren Adern, alles schien in einem Wirbel aus bunten Farben zu verschwimmen, der sie mit sich in die Tiefe riss, nur um sie kurz darauf wieder nach oben zu schleudern und mit einem verschmitzten Lächeln ganz sanft ans Ufer zu spülen.

Tonia passierte das verrostete Tor am Beginn der Auffahrt, dessen geöffnete Flügel schief in den Angeln hingen, als hätten sie zu viel getrunken und würden nur von den Brombeerbüschen gehalten, die wild hinter ihnen wucherten und sie eifersüchtig mit ihren dornigen Ärmchen an sich pressten. Als Tonia das mit dichtem Efeu bewachsene Haus aus der Jahrhundertwende erblickte, verlangsamte sie ihr Tempo. Sie wollte dessen Anblick genießen, das Kribbeln, das es ihr jedes Mal aufs Neue verursachte.

Es war ein graues zweistöckiges Haus, schlicht und breit mit hohen Fensterfluchten, die von türkisfarbenen Holzläden gesäumt wurden, deren Farbe großflächig abblätterte. Die Eingangstür war in dem gleichen Türkis gestrichen und zwei steinerne Treppen führten rechts und links zu ihr hinauf. Es war ein Haus, das offen und ehrlich da stand, nichts verbarg, sich nicht versteckte hinter Zierrat und Schnickschnack, sondern klar und konkret seine Existenz preisgab, nach dem Motto: Du bekommst, was du siehst. Tonia hatte es auf Anhieb gemocht. Es war perfekt für ihr Restaurant und das, was sie damit vorhatten. Es hatte sich so nahtlos in ihre Traumvorstellung eingefügt, dass es fast unheimlich war und sie eine Gänsehaut bekommen hatte, als sie es zum ersten Mal erblickte. Wie bei einem Déjà-vu. Damals war es ihr vorgekommen, als hätte das Haus auf sie gewartet, wie ein Hund, der plötzlich und unverhofft aus einer Hecke am Straßenrand schwanzwedelnd auf einen zugelaufen kommt und sich auf den Rücken wirft, alle Viere von sich gestreckt, damit man ihm den Bauch krault.

Sie stellte ihr Fahrrad ab und schlug die Fensterläden im Erdgeschoss zurück, dann öffnete sie mit ihrem Schlüssel die Tür, die sie weit offen stehen ließ, um die wunderbar klare Sommerluft hineinzulassen. Hastig stellte sie die Alarmanlage ab und sah sich dann einen innigen Moment lang um. In ihrem Leben hatte sie bis jetzt selten das Gefühl von Stolz gehabt, aber nun wallte es in ihr auf und füllte sie vom Kopf bis zu den Zehenspitzen aus. Sie hatten alle vier so viel Mühe und Liebe in dieses Haus gesteckt und das konnte man sehen.

Der massive Lärchenholzdielenboden sorgte für Wärme und Leichtigkeit und darauf hatten sie bei ihrer Innenausstattung aufgebaut. Die Bar im hinteren Teil des 160 Quadratmeter großen Raumes war mit pastellfarbenen Leuchtplatten bestückt und spiegelte das Gefühl von Schwerelosigkeit perfekt wider. Die groben Holztische aus europäischem Nussbaum standen in angenehmem Kontrast zum Stuck an den hohen Decken und harmonierten mit dem Herzstück des Raumes - einem offenen Kamin, vor dem weichlederne Sessel standen, und jene einluden, gemütlich auf ihre Tische zu warten, die nicht auf den stelzenhaften Barhockern Platz nehmen wollten. Gekrönt wurde der Raum durch einen opulenten Glaslüster, den Tonia gegen den Widerstand der Jungs durchgesetzt hatte und sie am Ende restlos überzeugte. An den Wänden hingen großformatige Fotos, die das Thema Essen variierten. Es gab luftige Schokoladensoufflees, klebrig glänzende Karamellskulpturen, leuchtende Obstteller, saftige Braten und geschmeidige Spagetti, die in Tomatensauce badeten. Dezente Wandleuchten verströmten ein warmes, diffuses Licht wie Kerzenschein, das Ecken und scharfe Kanten milderte und Allem den Anschein von duftiger Zuckerwatte und zarten Regenbögen verlieh. Ein Raum, der zum Träumen einlud, zum Essen, Trinken, Flirten und Schwelgen.

Es war ganz so wie Tonia es sich von Anfang an vorgestellt hatte. Sie alle. Sie waren bis zu diesem Punkt Arm in Arm im rhythmischen Gleichklang voran geglitten wie sie früher auf ihren alten Schlittschuhen über den zugefrorenen See im Park geglitten waren. Wenn einer gestrauchelt war, fingen sie ihn auf, wenn jemand hingefallen war, fielen sie mit ihm und richteten sich dann lachend gegenseitig wieder auf, mit verrutschten Mützen und eisfleckigen Hintern. Sie waren eine grandiose Kür gelaufen. Jetzt musste es einfach nur so weitergehen.

Links neben der Bar führte eine Schwingtür mit Bullauge zur Küche, rechts neben der Bar befand sich die weißgestrichene Kellertür, die sich nahezu unsichtbar in die Wand einfügte, sodass Tonia unauffällig verschwinden konnte, wenn sie Getränke-Nachschub holen musste. Das war in ihren Augen das einzige Manko - sie musste vor den Augen der Gäste in den Keller laufen. Die anderen fanden das nicht weiter wichtig, aber für Tonia war es so, als sähe ein Filmzuschauer im Kino plötzlich den Kameramann vor der Linse seiner eigenen Kamera, der irgendwas justieren musste. Die Illusion einer anderen, einer besseren, Realität wäre dahin, die Traumfäden wurden rüde gekappt und der Gast war einen nüchternen Moment lang auf sich selbst zurückgeworfen. Sie übertriebe maßlos, hielt Falco ihrer Beschwerde entgegen, Bert verstand überhaupt nicht, was sie meinte und Vinz war es letztlich egal, da er sowieso den ganzen Abend in seiner Küche verbrachte und es ihn nur interessierte, dass dort alles reibungslos lief.

Tonia knipste das Licht an und lief die steile, knarzende Treppe zum Keller hinunter geradewegs in die muffige Kühle hinein, die ihr eine Gänsehaut verursachte. Überall standen selbstgezimmerte Holzregale, die Bert in langen Nächten gebaut hatte und waren gut bestückt mit Wein und Spirituosen. Ein großzügiges Geschenk von Tonias Vater, um ihnen den Anfang zu erleichtern. Er und Tonia hatten gemeinsam eine kleine, aber durchaus hervorragende Auswahl an Weiß- und Rotweinen getroffen. Etwas für jeden Geschmack und auch jeden Geldbeutel. Rosé gab es nicht. Weder Tonia, noch ihr Vater hatten sich je damit anfreunden können und ein gewisse persönliche Note musste das Restaurant ja hervorbringen - sowohl, was Vinz' Auswahl an Speisen betraf, als auch Tonias Angebot an Weinen. Sie waren der Überzeugung, dass gemütliche Gradlinigkeit mit einigen wenigen Verspieltheiten genau die Mischung war, die sie zum Erfolg führen würde und das spiegelte sich im Haus, im Interieur und in ihren Speisen und Getränken wider.

Nachdem Tonia zärtlich über die Weinflaschen gestrichen hatte, schnappte sie sich eine Flasche Rohrreiniger von einem an die Wand gedübelten Aluminiumregal, auf dem sich Putzlappen, Schwämme, Bürsten und Reinigungsmittel aller Art stapelten. Eine Putzfrau hatten sie noch nicht. Sobald sie den ersten Gewinn erwirtschaften würden, war sie aber die Erste auf der Liste von Leuten, die sie einstellen wollten. Noch vor der Küchenhilfe - darauf hatte Tonia bestanden, wusste sie doch sehr gut, dass die Jungs das Putzen ansonsten vertrauensvoll in ihre Hände legen würden, auch wenn sie in den letzten Wochen wirklich alle mit angepackt hatten und keiner der vier sich vor Arbeit gedrückt hatte, egal, wie diese aussah. Tonia war wirklich überrascht gewesen, wie reibungslos und konfliktarm die Renovierungsarbeiten abgelaufen waren. Jeder hatte dem anderen sein Hoheitsgebiet zugestanden, hatte Respekt und Distanz gewahrt, wo es nötig war und an den richtigen Stellen seine eigene Position vertreten, ohne dem anderen auf den Schlips zu treten. Wo Kompromisse gebraucht wurden, waren sie schnell gefunden worden und wenn die Stimmung doch mal zu kippen drohte, dann war immer einer in die Bresche gesprungen, hatte einen Scherz gemacht, Lacher geerntet und den drohenden Wetterumschwung verhindert. Wenn es jemand schaffen konnte, dann sie vier, das war Tonia im Laufe der letzten Wochen klar geworden und sie hatte all ihr anfängliches Zögern und ihre Sorgen, ein Erbe ihrer Mutter, einfach verbannt und sich voll und ganz in das Projekt gestürzt. Die Zukunft, ihre Zukunft, war mit jedem Tag sichtbarer geworden und sie schimmerte warm und einladend wie ein Stück edle Seide im Kerzenlicht.

Sie hastete die Treppe nach oben und schloss die Kellertür hinter sich ab. Warme Freude durchströmte sie, als sie den Essbereich des Restaurants durchschritt, die Schwingtür aufstieß und in die Küche trat, die ganz und gar Vinz' Reich war. Ein Traum in Chrom. Vieles davon hatten sie aus zweiter Hand erworben, aber dennoch hatte sie die Ausstattung einen Riesenbatzen Geld gekostet. Geld, das sie von ihren Eltern, ihren Ersparnissen und dem Erlös vom Verkauf von Falcos BMW hatten. Ihnen war allen nicht sonderlich wohl dabei gewesen und sie hatten anfangs gar nicht wirklich darüber nachgedacht, wie viel Geld sie für ihren Traum würden investieren müssen. Außer Vinz. Er hatte es gewusst und spürte dennoch nicht die Spur einer Unschlüssigkeit, kein trockenes Schlucken, als Falco und Tonia ihm und Bert die ersten Zahlen vorgelegt hatten. Vinz hatte sich die Zahlen angesehen, kurz genickt und war dann wieder an die Arbeit gegangen, während Tonia, Falco und Bert noch eine ganze Weile beieinander hockten, sich mit großen, fragenden Augen ansahen, hin und hergerissen zwischen der Hoffnung, einer von ihnen würde sagen, das alles sei eine schwachsinnige Idee und sie wären einfach noch nicht bereit für so eine Riesensache und jener, dass einer von ihnen das genaue Gegenteil verkünden würde und zwar mit der nötigen Verve und Zuversicht, damit das unstete Schwanken im Kopf endlich ein Ende hätte. Es dauerte geschlagene zwei Stunden, bis klar war, dass keiner von ihnen auch nur irgendetwas sagen würde. Keiner wollte die Verantwortung übernehmen und es am Ende schuld sein.

Und dann kam der Anruf von Helen. Er war das untrügliche Zeichen, das gute Omen, auf das sie alle drei gewartet hatten. Helen Montanus - gute Fee und Retterin.

Vinz und Tonia hatten das Haus entdeckt, in dem sie nun in wenigen Stunden ihr Restaurant eröffnen wollten, und die Besitzerin ausfindig gemacht. Eine zierliche, langhaarige Blondine mit herzlichem Lachen, traurigen Augen und einem Sinn für die Schönheiten des Lebens. Sie hatte sich ein paar Tage Bedenkzeit auserbeten, nachdem Tonia und Vinz ihr ihren Traum in allen Einzelheiten geschildet hatten, und dann doch schon nach 24 Stunden angerufen.

Tonia wurden die Knie weich, als Helen ihr am Telefon vorschwärmte, wie großartig sie die Idee, ihre Idee, fand. Doch Helen hatte noch mehr zu sagen und das war es am Ende, das jedweden Zweifel aus Tonias, Falcos und Berts Gehirn geblasen hatte. Da Helen zwei Tage später auf eine viermonatige Weltreise ging, hatte sie ihnen vorgeschlagen, ihnen den Schlüssel zu überlassen, damit sie schon mal mit den Renovierungsarbeiten loslegen konnten. Ihr Anwalt sollte in der Zeit, in der sie unterwegs war, den Mietvertrag aufsetzen.

„Ich würde euch eine Staffelmiete vorschlagen, die sich nach den ersten drei Monaten das erste Mal erhöht und im Dreimonatsabstand immer wieder, bis nach circa einem Jahr dann der volle Betrag fällig ist. So habt ihr ein bisschen Luft und müsst nicht in Panik geraten, wenn die ersten Wochen nicht so gut laufen."

Auch wenn Falco zunächst Helens Motivation in Frage stellte, da ihm reines Gutmenschentum seit jeher fragwürdig vorkam, so änderte er seine Meinung schnell, nachdem er sie persönlich kennengelernt hatte. Helen wollte das Haus bereits seit vielen Jahren renovieren lassen und dann vermieten oder verkaufen, aber es war nie dazu gekommen, sodass sie nun glaubte, das Schicksal hätte zugeschlagen und das Haus sich schlussendlich seine eigenen Mieter ausgesucht. Es warf schon seit so langer Zeit keinen Gewinn ab, dass die paar Monate mehr oder weniger auch nicht weiter ins Gewicht fielen.

Nachdem dies geklärt war, hatten sie sich mit Feuereifer in die Arbeit gestürzt, ihre Eltern und Verwandten um Geld und Sachspenden angebettelt, Demütigungen in Kauf genommen, Nächte durchgemacht, Schwielen gesammelt, sich die Köpfe heiß geredet und wie im Fieber agiert. Ein schwereloses Reiten auf einer sich aufbäumenden Welle, das Tänzeln auf ihrer Gicht, mit angespannten Körpern und frei schwebendem Geist.

Gestern erst war das Schild angekommen, das noch über dem Eingang des Restaurants angebracht werden musste und dann wäre alles fertig. Es lehnte an der freien Wand in der Küche neben der Tür, durch die Tonia jetzt hereingeeilt kam, die Flasche mit dem Rohrreiniger in der Hand. Das Chrom der Küche reflektierte die vorwitzigen Sonnenstrahlen und tauchte den Raum in ein einziges Lichterflirren, das Tonia in der Nase kitzelte.

Da kündigte ihr Handy eine SMS an. Sie kam von Falco: Hoffe, deinem Dad geht's gut und dir auch! Freu mich auf dich! Bis gleich. F.

Sie antwortete: Alles soweit ok. Bin aufgeregt. Freu mich auch. Tonia.

Dann lief sie schnurstracks auf das große Waschbecken zu und drehte den Wasserhahn auf. Gestern hatte sie bemerkt, dass der Abfluss verstopft war und sie wollte die Sache schnell regeln, bevor Vinz etwas davon mitbekam, denn sie wusste, wie penibel er war, wenn es um seine Küche ging. So anstrengend und zickig wie eine alternde Diva. Und Tonia wollte vermeiden, dass am heutigen Tag auch nur die Spur einer Missstimmung aufkam. Außerdem vermutete sie, dass mal wieder Bert an der Verstopfung schuld war, denn er kippte öfter Sachen in den Ausguss, die dort einfach nicht hineingehörten. Einmal hatte sie ihn dabei erwischt, wie er Reste einer Dose Klarlack so entsorgen wollte und sie hatte ihn im letzten Moment noch davon abhalten können. Bert war ein verdammt lieber Kerl, aber manchmal konnte er auch wirklich behämmert sein.

Das Wasser aus dem Hahn sammelte sich im Becken und lief nur sehr langsam ab. Tonia kippte den Reiniger in den Abfluss und kurz darauf schäumte er über und kleine schwarze Dreckpartikel quollen hervor, als drängten sie an die frische Luft in Freiheit, um ihrem Häscher zu entkommen. Ein ungesunder, scharfer Geruch drang ihr in die Nase. Tonia besah sich den Dreck genauer, konnte jedoch nicht identifizieren, um welche Art Substanz es sich handelte und ließ dann erneut das Wasser laufen. Dieses Mal floss es ungehindert ab und spülte den schmutzigen Schaum weg, hinunter in den dunklen, stinkigen Kanal. Zufrieden verstaute sie den Rohrreiniger im Schrank unter der Spüle. Wer wusste schon, wozu sie ihn noch würde brauchen können.

An den weißen Wänden hingen gerahmte Fotos vom Mercat de la Boqueria, dem berühmten Markt in Barcelona, die Tonia vor drei Jahren, als sie mit ihrem Vater dort ein paar Tage Urlaub gemachte hatte, geschossen hatte. Getrocknete Früchte, knallbunte Süßigkeiten, Schalentiere aller Art, pralles Gemüse, frischglänzender Fisch, würzige Schinken - dort gab es alles, was das kulinarische Herz glücklich stimmte. Die Fotos gaben der sterilen Küche einen anheimelnden Anstrich, ebenso wie das Küchenradio in der Ecke und der riesengroße, zehn Kilo schwere Schinken, den Vinz, inspiriert von einem der Fotos, extra für die Eröffnung bestellt hatte und der nun an einem Fleischerhaken von der Decke baumelte. Sein rauchiges Aroma hatte sich in der ganzen Küche ausgebreitet und Tonia schloss für einen Moment die Augen, um der Versuchung zu widerstehen, sich ein Stück davon abzuschneiden und in den Mund zu stopfen. Ihr war flau vor Hunger, denn sie hatte in den letzten Tagen nicht viel gegessen. Nicht, dass sie das so schlimm fände, denn ein paar Kilo weniger würden ihr sicher gut stehen, aber sie merkte doch, dass sie langsam an ihre körperlichen Grenzen gekommen war. Nur noch zwei Tage, dachte sie seufzend, dann ginge der Restaurantbetrieb los. Sie warf einen letzten sehnsuchtsvollen Blick auf den Schinken und hörte im gleichen Moment den Motorenlärm eines Motorrads. Neugierig rannte sie nach draußen.

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