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Der letzte Schliff

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Tonia und Falco saßen an der Bar und blätterten den Vertrag durch, den Falco mithilfe eines Referendars der Kanzlei seines Vaters aufgesetzt hatte. Es hatte Falco ein ganzes Stück seiner neu gewonnenen Selbstachtung gekostet, seinen Vater zu fragen, ob er den Vertrag mit ihm durchgehen könnte, und die Tatsache, dass der ihn an einen Referendar weiterverwiesen hatte, zeigte Falco, wie verhärtet die Fronten zwischen ihnen beiden jetzt waren. Sein Vater konnte und wollte ihm nicht verzeihen, dass er im Studium versagt hatte. Das Restaurant war keine Alternative für einen Von Falkenhausen. Man wurde ein erfolgreicher Akademiker oder war ein erbärmlicher Verlierer. Die Welt war schwarz oder weiß, Grautöne existierten in Falcos Familie nicht und lange Zeit hatte er genauso gedacht. Selbst in die Augen seiner Mutter, die ihn über alles liebte, trat dieser mitleidige Ausdruck, wenn sie glaubte, er würde sie nicht beobachten. Es war vor allem dieser Ausdruck, der ihn zutiefst verletzte, demütigte und gleichzeitig antrieb. Er würde seine Sache gut machen, ja, mehr als das. Er würde seiner Familie, dieser Bande von spießigen Snobs, zeigen, was in ihm steckte. Denn das Restaurant war nur der Anfang. Falco hatte Ziele, er wollte expandieren und ein reicher Mann werden und allen, die jetzt über ihn herzogen, das Maul stopfen, vor allem seinem Schlappschwanz von Bruder.

Jetzt huschte Falcos Blick zu Tonia, die über dem Vertrag gebeugt saß und an ihrer Unterlippe nagte. Ihr Körper war üppig, sie war beileibe kein Magermodel, aber alles war fest, wohlproportioniert und wirkte unglaublich fruchtbar. Sowohl Vinz als auch Falco waren schmaler als sie und sie wussten alle drei, dass ihr das zu schaffen machte, dabei fanden sie ihre Figur unglaublich scharf. Und sie wurden auch nicht müde, ihr das zu sagen. So oft sie es eben hören musste. Und das war ziemlich oft.

Jetzt glänzten ihre blaugrünen Augen fiebrig und ihre Gesichtszüge und die schwarzen Haare stachen so deutlich und klar hervor, als wäre sie die einzige dreidimensionale Person in einer ansonsten zweidimensionalen Welt. Eine Lichtquelle, die strahlte und leuchtete und ihre Umgebung zum Glühen brachte. Eine Welle der Zuneigung überrollte Falco und er küsste sie auf den Mund. Tonia zog sich unwillig zurück und drückte ihn sanft, aber bestimmt von sich weg. Sie war nervös und hatte für derlei Zärtlichkeiten jetzt einfach keinen Kopf. Je mehr sich ihre Unruhe steigerte, desto gelassener wurde Falco. Das war schon immer eine seiner Stärken gewesen, in Situationen, in denen andere den Kopf verloren, einen sachlichen Überblick zu behalten. Er konnte seinen Körper von seinem Geist trennen und jedwede Panik oder Angst unterdrücken, um handlungsfähig zu bleiben. Etwas, das er seiner Erziehung zu verdanken hatte und von klein auf trainieren musste.

„Wie geht es deinem Vater? Verheilt alles gut?" fragte Falco.

„Es geht so. Aber das war ja zu erwarten."

„Und wie verkraftet er es sonst?"

„Ach, ihm geht's gut. Meine Mutter ist diejenige, die durchdreht. Sie ist einfach so wütend auf ihn. Aber du kennst ihn, das macht ihm nicht das Geringste aus."

„Und wie geht es dir?"

Tonia schossen unvermittelt die Tränen in die Augen. Sie schluckte. Sie wollte das jetzt nicht.

„Solange ich seine Hand nicht sehe, komme ich klar", sagte sie mit fester Stimme, lächelte und vertiefte sich wieder in den Vertrag.

Falco betrachtete sie eine Weile stumm, doch sie sah nicht mehr auf. Er verstand sie.

„He, wie oft willst du den Vertrag noch lesen? Zumal du sowieso nicht beurteilen kannst, ob er wasserdicht ist, oder nicht?!" fragte Falco mit neckendem Tonfall, um ihr entgegenzukommen.

Tonia fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

„Ich weiß, ich weiß. Ich hab nur das Gefühl, irgendwas tun zu müssen. Immer wieder kommt mir der Gedanke, dass wir etwas vergessen oder übersehen haben. Etwas Wichtiges. Aber mir fällt einfach nicht ein, was es sein könnte."

„Antonia, entspann dich! Wir haben alles vorbereitet, sind mehr als bereit und wenn endlich unsere und Helens Unterschriften auf dem Vertrag prangen, dann steht einer rosigen Zukunft nichts mehr im Wege. Das einzige, was du dich jetzt noch fragen solltest, ist, ob du auch genug Champagner auf Eis gelegt hast."

„Sekt. Ich hab nur Sekt, aber der ist absolut..."

Falco unterbrach sie.

„Was auch immer du kalt gestellt hast, es wird ohne Zweifel der Hammer sein. Hauptsache wir können uns noch mal ordentlich die Kante geben, bevor der ganze Wahnsinn losgeht."

Tonia nickte wie eine eifrige Schülerin, doch ihre Hände tanzten unablässig über die Seiten des Vertrags, bis Falco sie schließlich sanft wegzog und ihre Hände mit den seinen umklammerte. Sie waren kühl und trocken und Falco konnte die schwirrende Energie spüren, die Tonia innerlich rumoren ließ. Unter seinem festen Griff beruhigten sich ihre Hände.

Da erst fiel Falco der Ring auf, den Tonia sich an den Daumen gesteckt und vergessen hatte, abzunehmen. Er drehte Tonias Hand herum, um den Ring näher in Augenschein zu nehmen.

„Den kenne ich gar nicht. Ist der neu?"

Sie streckte unwillkürlich ihre Finger, um den Ring zu präsentieren, wedelte dann aber wegwerfend mit der Hand.

„Ja. Hab ich mir vor ein paar Tagen gegönnt. War eine Art Stress-Kauf, als wir hier so gerödelt haben. Ich weiß, ich weiß, typisch Frau. Bitte erspar mir die Leier!" fügte sie hastig hinzu, als sie sah, dass sich Falcos Mundwinkel spöttisch verzogen.

„Zeig doch mal!"

Falco fing ihre Hand wieder ein und musterte den Ring aufmerksam, was in Tonia ein unangenehmes Gefühl auslöste, so als berühre er unvermittelt eine intime Stelle. Sie zog sich den Ring vom Daumen und gab ihn Falco.

„Er ist dir doch viel zu groß", konstatierte er und schob ihn über seinen Zeigefinger, auf dem der Ring ebenfalls recht locker saß.

„Ich weiß, ich wollte ihn aber unbedingt haben und bin einfach noch nicht dazu gekommen, ihn enger machen zu lassen", erwiderte Tonia genervter als beabsichtigt.

„Er ist wirklich schön. Ziemlich ausgefallen. Wo hast du ihn her?"

Falco hielt seine Hand eine Armeslänge von sich weg, um zu sehen, ob ihm der Ring stand.

„Aus so einem kleinen, piefigen Laden in der Innenstadt. Ist das jetzt so wichtig?" Tonia rutschte hibbelig auf ihrem Barhocker herum. Sie wollte nicht darüber reden. Im Grunde konnte sie Falco doch jetzt sagen, was los war. Sie musste ja nicht erklären, an welchem Abend die Sache mit Kirsten passiert war. Was sollte er schon dagegen haben. Es war ja eigentlich nichts passiert. Oder doch? So sicher war sie sich gar nicht.

„Er ist echt schön. Würde mir auch gut stehen. Leihst du ihn mir mal?"

Tonia zuckte die Achseln, sie wollte das Thema einfach nur beenden und sprang von ihrem Platz auf, um zum Fenster zu laufen und hinauszuspähen.

„Sie wird schon kommen, jetzt hör bitte auf, so eine Panik zu verbreiten!"

„Tu ich gar nicht", verteidigte sich Tonia und rannte zu ihrem Platz zurück, um erneut kopflos durch den Vertrag zu blättern, ohne auch nur eine Zeile zu lesen, bis sie mitten in der Bewegung innehielt.

„Gott, du hast recht, ich bin Wrack. Aber sie müsste doch längst hier sein. Hatten wir nicht halb eins gesagt? Es ist schon viertel vor."

„Sie ist gestern erst von ihrer Weltreise zurückgekommen. Wahrscheinlich steckt sie mitten im Jetlag." Er zückte mit gespielter Resignation sein Handy. „Ich halte es zwar für keine gute Idee, Helen wegen einer Viertelstunde Verspätung anzurufen, aber ich habe Angst, dass du mir sonst zusammenklappst, also beuge ich mich deiner Nervenflatterei." Tonia warf ihm einen dankbaren Blick zu, während er Helens Nummer wählte. „Für dich tue ich doch alles, mein Schatz!" sagte er mit ironischem Unterton.

Tonia zeigte ihm den Mittelfinger und Falco grinste.

Helen war bereits nach dem zweiten Klingeln am Apparat.

„Hi, hier ist... In fünf Minuten? Super! Wir freuen uns schon auf jede Menge Urlaubsanekdoten. Ja, bis gleich!" Er legte auf.

„Ich ruf die anderen!"

Tonia lief aufgeregt auf die Küche zu, froh, endlich etwas Sinnvolles tun zu können.

Sie fand Bert und Vinz im Garten des Anwesens. Sie hatten die letzten Farbeimer, Pinsel und Folien in Berts Auto verfrachtet und sich für einen Moment ins kitzelige Gras gelegt unter den Schatten eines Apfelbaumes. Hinter dem Haus war es friedlich und windstill, nur ein paar Vögel zwitscherten vereinzelt und die Sonne brannte, sodass träge Schläfrigkeit durch die Luft floss wie Quecksilber durch ein Thermometer. Eine Idylle so unwirklich schön, dass sie einem Gemälde Renoirs zu entspringen schien.

Tonia betrachtete die beiden Jungs. Bert, der selbst im Liegen die Schwerfälligkeit eines Elefanten ausstrahlte, aber auch rührend wirkte wie ein zu großes Kind, das apfelbäckig und rundäugig seine erste richtige Geburtstagsfeier erwartete. Und Vinz, schmal und von zarter, fast weiblicher Schönheit, die erst in diesem ruhigen Zustand richtig zur Geltung kam, da seine unbändige Energie sie sonst vernebelte, sie roher und maskuliner wirken ließ als sie tatsächlich war. Tonia schwappte das Herz über. Sie liebte diese beiden Menschen sehr und war dankbar und glücklich, sie in ihrem Leben zu haben. Doch im selben Moment war ihr, als verdunkelte sich der Himmel für einen Moment, als verblassten die leuchtenden Farben und würden mit einem grauen Film überzogen wie langsam verbleichende Fotografien oder verfärbte Wäsche. Ihr Herz wurde schwer und wehmütig, Tränen stiegen ihr jäh in die Augen und ihre Eingeweide krampften sich zusammen, als glitte etwas Heißes und Spitzes durch sie hindurch. Was war nur los? Sie rieb sich durch das Gesicht. Die Schlaflosigkeit machte ihr doch mehr zu schaffen, als sie gedacht hatte. Außerdem bekam sie ihre Periode. Da waren Stimmungsumschwünge wie diese nicht untypisch und erwischten sie immer wie Angriffe aus dem Hinterhalt, unvorbereitet und gnadenlos. Bert gähnte herzhaft und Tonia besann sich darauf, weswegen sie eigentlich in den Garten gekommen war.

„He, ihr zwei Faulpelze! Helen ist in fünf Minuten hier, also tut mir den Gefallen und wascht euch noch mal durchs Gesicht und auch die Achseln, falls nötig, bevor sie kommt. Ich will, dass alles perfekt ist."

Bert setzte sich sofort auf, während Vinz nicht mal die Augen öffnete, sondern nur lässig grinste.

„Helen sieht aus wie eine Frau, die ein bisschen Männerschweiß durchaus zu schätzen weiß, also mach dir nicht zu viele Gedanken!"

Bert stand auf und zerrte Vinz ebenfalls auf die Füße. Er konnte es nicht leiden, wenn einer der Jungs frech zu Tonia war. Oder es auch nur den Anschein hatte, jemand wäre frech zu ihr. Manchmal fand Tonia das süß und herzig, aber manchmal ging es ihr auch mächtig auf den Zwirn. Selbst wenn er nie die geringsten Anstalten gemacht hatte, sich ihr zu nähern, so trug er seine Verliebtheit doch vor sich her wie ein flatterndes Banner. Das war ihm keinesfalls bewusst und obwohl die Sache für Tonia absolut offensichtlich war, war sie sich nicht sicher, ob Vinz und Falco Berts Gefühle für sie kannten, denn sie hatten nie darüber gesprochen und Jungs hatten in derlei Dingen einfach ein Brett vorm Kopf. Tonia schätzte es im Stillen sehr, zu wissen, dass Bert niemals einen Annäherungsversuch wagen würde. Sie spielte für ihn in einer völlig anderen Liga, war unerreichbar und deswegen tabu. Manchmal nutzte sie seine Gefühle ein kleines bisschen aus, um sich besser zu fühlen, wenn ihr Selbstbewusstsein einen Knacks erlitten hatte oder wenn sie einen Gefallen erledigt haben wollte, der lästig und nervig war wie jemandem beim Umziehen helfen zu müssen. Sie mochte es nicht, wenn sie das tat und war anschließend immer besonders lieb zu Bert, um es wieder gutzumachen, der sie dann mit seinen treuherzigen Kuhaugen anhimmelte und sich reich belohnt fühlte. Seltsamerweise war Tonia ein wenig eifersüchtig gewesen, als Bert eine Freundin hatte. Sie hatte Bert sogar ein paar Mal auf die Probe gestellt, um herauszufinden, ob sie immer noch seine heimliche Nummer Eins war und erst als sie dessen sicher war, gönnte sie ihm die Beziehung von ganzem Herzen und war ehrlich betrübt, als die beiden Schluss machten.

Bert zog Vinz mit sich fort in die Küche und Tonia eilte hinter den beiden her, um sich ein letztes Mal mit Argusaugen umzugucken. Sie hatte einen Riesenbammel, dass Helen nicht gefallen würde, was sie aus der Villa gemacht hatten und dass sie es sich im letzten Moment anders überlegen würde. Tonias Mutter hatte ein paar Mal erwähnt, dass Helen sich von ihrem Mann getrennt und deswegen wohl die Weltreise angetreten hatte, um auf andere Gedanken zu kommen. Hoffentlich war ihr Enthusiasmus jetzt nicht plötzlich verflogen, nachdem sie vier Monate Zeit gehabt hatte, über alles in Ruhe nachzudenken.

Aber vielleicht entsprangen diese Sorgen auch wieder nur Tonias Hang zum Perfektionismus, der sie manchmal verkrampft und verkopft machte und sie daran hinderte, sich zu entspannen und eine Sache völlig zu genießen. Schon in der Schule hatte sie die Jungs in den Wahnsinn getrieben, wenn sie gemeinsam ein Projekt erarbeiteten und sie am Tag vor dem Abgabetermin alle zu einer Nachtschicht verdonnerte, damit auch ja alles perfekt wäre. Und das war es auch jedes Mal. Das Gemeckere der Jungs verklang dann schlagartig, weil jeder von ihnen eine Eins als Belohnung kassierte und Tonia plötzlich wieder ihre Beste war.

Sie nahm sich fest vor, am heutigen Abend nicht einen Gedanken an Morgen zu verschwenden und sobald die Unterschriften auf dem Mietvertrag prangten, die erste Flasche Sekt zu öffnen und sich dekadent und haltlos zu betrinken. Störenderweise kam ihr immer wieder das Bild in den Kopf, wie sie Vinz dabei in den Armen lag, wie sie einander leidenschaftlich küssten und sich die Klamotten vom Leib rissen. Der Versuch, Vinz durch Falco zu ersetzen, scheiterte ein ums andere Mal und schließlich gab sie es auf. Es war ja nur ein Gedankenspiel. Nichts weiter. Süß und bauschig und unschuldig wie Zuckerwatte.

Alle vier rannten nun die Auffahrt herunter, um Helen direkt am Eingangstor in Empfang zu nehmen. Von weitem sahen sie den dunkelgrünen Alpha Romeo Spider die Straße runter brettern. Wie üblich viel zu schnell, als gelten die Verkehrsregeln für Menschen wie sie einfach nicht.

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