Читать книгу Alles nach Plan - Sarah LeVine - Страница 7
Kirsten
ОглавлениеDie Sonne schien grell und ungetrübt und Tonia musste die Augen zusammenkneifen, um etwas erkennen zu können. Sie hatte richtig gehört - das Motorengeräusch gehörte zu einer Motorradstreife. Ein Polizist in voller Montur, die über und über mit feinem Staub bedeckt war, schob das Motorrad nun fast geräuschlos die Auffahrt zum Restaurant hoch. Auf dem Visier des Helms konnte Tonia ihr eigenes verzerrtes Konterfei erkennen, das ihr mit einem schrägen Blick entgegensah und misstrauisch dreinblickte. Dann zerrte sich der Polizist den wuchtigen Helm vom Kopf und eine 28jährige Schönheit kam zum Vorschein, deren schmales sommersprossiges Gesicht und kurzes dunkelrotes Haar auf den ersten Blick so gar zu der restlichen Kluft und dem schweren Motorrad passen wollten. Doch sie hatte bei näherem Hinsehen einen fast brutalen Zug um den Mund, der einen stutzig und instinktiv vorsichtig machte. Etwas, das Tonia zunächst entgangen war, als sie einander vor ein paar Tagen in einem Club kennengelernt hatten.
Tonia hatte male einen Abend Pause von den Jungs gebraucht. Sie und Falco waren sich in der Zeit des Renovierens näher gekommen, ein erster Kuss nach einem langen Tag, erhitzte und erschöpfte Gemüter, die zueinander fanden, ohne es so richtig zu begreifen und dann schließlich auch Sex. Das Wälzen auf verstaubten Holzdielen und den Fetzen der gerade angebrachten Tapete, klebrige Hände an Tonias Körper, der Geruch von Farbe, Papier und frischem Männerschweiß. Es war spontan und sehr sinnlich, es war reiner, guter Sex gewesen und Tonia stellte erstaunt fest, dass sie und Falco einander körperlich blind zu verstehen schienen. Erst danach setzte das Denken wieder ein, mit roten Wangen und zerzausten Haaren, war ihr plötzlich bewusst geworden, dass dies vielleicht ein Riesenfehler gewesen war. Etwas, das alles zum Einsturz bringen könnte. Immerhin war der Plan, die nächsten Jahre gemeinsam ein Restaurant zu betreiben und wenn es zwischen ihnen beiden nicht funktionieren sollte, dann würde das die Situation unnötig verkomplizieren und das war noch euphemistisch formuliert. Auch Falco hatte offenbar darüber nachgedacht, aber dann waren sie übereingekommen, es einfach zu versuchen - ganz locker, ohne festgezurrte Absichten und darauf konnten sie sich beide einlassen. Auch Vinz und Bert schienen damit einverstanden zu sein, obwohl Tonia wusste, dass Bert schon seit ihrer Schulzeit in sie verliebt war. Aber genauso wie Tonia nie eine Chance bei Vinz gehabt hatte, so wusste Bert, dass er in diesem Leben nicht mehr mit Tonia zusammenkommen würde, außer in einem freundschaftlichen und sehr platonischen Sinne.
An jenem Abend aber war Tonia noch einmal schmerzlich bewusst geworden, dass sie mehr für Vinz empfand als sie sich eingestehen wollte. Es war der Abend, an dem Vinz seine derzeitige Freundin, Nina, nach Amerika verabschiedete, wo sie ein Au-pair-Jahr verbringen würde. Wie alle Beziehungen, die Vinz bis dato geführt hatte, so war auch diese nicht von einem ernsthaften Bindungsbedürfnis geprägt. Doch es war das erste Mal, dass Vinz sozusagen verlassen wurde, auch wenn es sich nur um eine Trennung auf Zeit handelte. Eine neue und überwältigende Erfahrung für Vinz, die ihn das erste Mal in seinem Leben zu einem Liebesschwur hingerissen hatte, der ihn selbst überraschte. Er hatte Nina versprochen, auf sie zu warten und von ihr das gleiche verlangt. Erstaunt und erfreut hatte Nina sich auf dieses Versprechen eingelassen und der Rest des kleinen Abschiedsfest war in wehmütiger und absurd romantischer Stimmung verlaufen, die Tonia Übelkeit bereitet und sie in die Nacht hinausgetrieben hatte. Sie hatte Falco einen flüchtigen Kuss auf die Wange gedrückt und ihm erzählt, sie wäre hundemüde und wollte endlich mal wieder ausschlafen, dann war sie ziellos durch die Gegend gestromert und schließlich in dem einzigen Schuppen in der Gegend gelandet, in dem man einigermaßen gut tanzen und vor allem ganz passable Cocktails trinken konnte.
Das fiebrige Flackern des Stroboskoplichts und der warme Nebel des Alkohols hatten sich wie eine angenehm schwere Decke auf ihre flatternden Gedanken gelegt und sie beruhigt. Schon bald hatte sie die dröhnende Musik mit sich gerissen und sie tanzte in bunter Schwerelosigkeit inmitten zuckender Leiber wie in einem lebendigen Mandala und vergaß, was sie vergessen wollte. Farben verschwammen und liefen ineinander, um sich dann wieder ganz neu zusammenzusetzen, als blickte sie durch ein Kaleidoskop. Und plötzlich war Kirsten da gewesen und bewegte sich vollkommen synchron im Rhythmus des hämmernden Beats. Ihre Körper hatten ganz einfach zueinander gefunden, sich im selben Takt gewunden und schienen zu verschmelzen. Tonia konnte nicht denken, wollte es auch nicht, in ihrem Kopf nur trudelnde Leere, süß und verführerisch und wohltuend. Und dann hatten sie sich geküsst. Ein warmer, unendlich sanfter Kuss, der Tonia an Karamelltee erinnerte.
Am nächsten Morgen hatte sie kaum noch gewusst, wie sie in ihr Bett gekommen war. Erst als sie einen Zettel mit Kirstens Namen und Nummer und der Aufforderung, sie anzurufen, egal, ob Tag oder Nacht, in ihrer Jeans fand, dämmerte ihr, dass diese Begegnung mehr als nur ein psychedelischer Traum gewesen war. Sie hatte den Zettel zerknüllt und in den Müll geworfen. Nachdem sie ihren Kaffee getrunken und zwei Kopfscherztabletten genommen hatte, war Kirsten vergessen und das nächtliche Erlebnis für sie abgeschlossen. Offenbar jedoch nicht für Kirsten, die zwölf Nachrichten auf Tonias Handy hinterließ. Tonia konnte sich nicht erinnern, Kirsten ihre Nummer gegeben zu haben, aber der ganze Abend erschien ihr nun wie ein undeutlich gemaltes Wimmelbild, auf dem nur ganz wenige Details scharf und erkennbar waren. Sie hoffte inständig, Kirsten sonst nichts Persönliches erzählt zu haben. Die Nachrichten löschte sie kurzerhand und ging davon aus, dass Kirsten sich, allein um ihrer selbst Willen, nicht mehr melden würde.
Doch da stand sie nun in ihrer Uniform und war zu allem Überfluss auch noch ein Bulle. Tonias innere Stimme fragte hektisch und ohne Unterlass, wie sie die ganze Angelegenheit deichseln könnte, ohne Kirsten zu verletzen und Falco von ihrem, nun, Ausrutscher, erzählen zu müssen.
„Ausgerechnet heute", dachte Tonia und zwang sich zu einem Lächeln. „Hi, Kirsten! Was machst du denn hier?"
Kirsten grinste schief und fuhr sich durch ihr verschwitztes Haar. Eine Verlegenheitsgeste, die Tonia noch mehr beunruhigte.
„Ich wusste gar nicht, dass du ein... eine Polizistin bist", stammelte Tonia und wischte sich ihre Hände am Hintern ab, obwohl nichts darauf war, was man hätte abwischen können.
Kirsten machte ein verschwörerisches Gesicht und lachte.
„Bulle. Du kannst ruhig Bulle sagen, das mache ich auch."
„Woher wusstest du, dass ich hier bin?" fragte Tonia, unsicher, ob das nicht zu forsch klang.
Kirsten war ein paar Schritte zur Seite getreten und musterte das Haus von oben bis unten. Offenbar gefiel ihr, was sie sah.
„Wirklich sehr schön. Du hast mir so viel davon vorgeschwärmt, da hab ich mir gesagt, Kirsten, das musst du dir selbst mal ansehen. Außerdem hast du nicht auf meine Anrufe reagiert, also - hier bin ich."
Sie gab ihrer Stimme ganz bewusst einen beiläufigen Ton, aber Tonia hörte, dass unter der zur Schau getragenen Gelassenheit, etwas anderes lauerte, das sie jedoch nicht richtig deuten konnte.
„Ich hatte hier jede Menge zu tun. Wir arbeiten wirklich rund um die Uhr, weil morgen die Eröffnung ist und alles andere in meinem Leben steht gerade auf dem Abstellgleis, bis ich wieder durchatmen kann", plapperte Tonia viel zu hastig und versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen, während Kirsten immer noch wie gebannt auf die Fassade des Hauses starrte.
„Das dachte ich mir schon", erwiderte Kirsten freundlich und wandte sich Tonia jetzt zu.
Erleichterung lag in ihrem Blick, als sie Tonia fest in die Augen sah. Tonia schlug die Augen nieder, suchte händeringend nach etwas, um der Situation zu entkommen und fand das mit Staub und Schlammspritzern übersäte Motorrad, ging darauf zu und strich unbeholfen über das Lenkrad.
„Tolle Maschine!" sagte sie und kam sich dabei blöd vor.
Kirsten ließ sie nicht aus den Augen und nickte amüsiert.
„Find ich auch. Aber, ehrlich gesagt, bin ich nicht hergekommen, um über mein "Firmenfahrzeug" zu sprechen."
Dabei kratzte sie bei dem Wort Firmenfahrzeug mit ihren beiden Zeige- und Mittelfingern Gänsefüßchen in die Luft. Tonia brachte ein gequältes Lächeln zustande. Sie fand Menschen albern, die diese Geste machten. Kirsten schien zu warten, bis Tonia nachfragen würde, weswegen sie sonst wohl gekommen wäre, aber diesen Gefallen tat Tonia ihr nicht. Sie wollte nicht wissen, warum Kirsten da war, der Gedanke daran erzeugte sogar panische Wellen in ihr. Eigentlich war es das alte Lied und nicht das erste Mal, dass Tonia jemanden abservieren und enttäuschen müsste, aber das hier war etwas anderes und zwar nicht deswegen, weil Kirsten eine Frau war. Etwas lag in der Atmosphäre, etwas Verschlagenes, das Tonia einen Schauder über den Rücken jagte und ihren Blick unruhig kreisen ließ, auf der Suche nach versteckten Schnappfallen oder ähnlichem. Kirsten war kein Mensch, der sich so einfach abwimmeln lassen würde, da war etwas Verbissenes an ihr, ein dunkler Abgrund hinter ihren grünen Augen, in den Tonia lieber nicht schauen wollte. Kirsten wurde langsam unruhig und verlagerte ihre Haltung, die Sonne brannte auf ihre dicke Lederkluft und Tonia sah erst jetzt, dass sie mit kleinen roten Spritzern übersät war.
„Ist das etwa Blut da auf der Kluft? Hattest du einen Unfall?" fragte sie ehrlich erschrocken.
Kirsten sah unwillkürlich an sich herab und schüttelte dann den Kopf.
„Ich nicht, aber drei Teenager, die geglaubt haben, sie müssten in der Disko jede Menge Alkohol trinken und bräuchten keinen Führerschein, um nach Hause zu kommen. Eine üble Fehleinschätzung, das kannst du mir glauben. Kein schöner Anblick, wenn man mit 150 Sachen gegen einen Baum prallt. Natürlich war keiner von ihnen angeschnallt. Wir haben die halbe Nacht damit verbracht, ihre Einzelteile auf dem Feld neben der Straße zusammenzusuchen. Ich muss zu Hause erst mal unter die Dusche, mir das Blut abwaschen, sonst glauben meine Katzen noch, ich sei ein Steak."
Kirsten lachte laut auf, das helle klare Lachen eines jungen Mädchens, doch als sie Tonias geschockten Gesichtsausdruck bemerkte, wedelte sie verlegen mit der Hand in der Luft.
„Sorry, ich vergesse manchmal völlig, wie mein Galgenhumor auf Zivilisten wirken muss. Aber ohne ihn würde ich in dem Beruf kaputtgehen. Irgendwie muss man sich von all der Scheiße distanzieren können, die einem dabei um die Ohren fliegt. Jeder von meinen Kollegen hat da seine eigene Methode. Bei mir ist es der Humor und das Tanzen."
Sie zwinkerte Tonia komplizenhaft zu, die nicht recht wusste, was sie dazu sagen sollte.
„Ist alles in Ordnung bei dir? Du wirkst irgendwie nervös."
„Nein. Ich meine, ja, stimmt schon, ich bin ein bisschen wuschig, weil gleich unsere Vermieterin kommt und wir den Mietvertrag für das Haus mit ihr durchgehen und unterschreiben wollen. Der erste offizielle Schritt sozusagen."
Ihre Stimme flatterte, als säße ein Kolibri in ihrer Kehle, sie räusperte sich verärgert.
„Oh! Ich verstehe. Ich will dich auch gar nicht lange stören, ich wollte dir nur was geben. Moment!" sagte Kirsten lächelnd.
Sie zog den Reißverschluss ihrer Motorradjacke auf und griff in die Innentasche, um ein kleines Beutelchen aus Organza hervorzuziehen, das in der Sonne schimmerte, zart und filigran wie ein Kokon. Sie hielt ihn Tonia auffordernd hin, die danach griff und noch bevor sie hineingesehen hatte, fühlte, dass sich darin ein Ring befand. In ihrer Magengegend zog es leicht. Um Zeit zu schinden, zog sie den Ring umständlich aus dem Beutelchen und hielt ihn dann in die Sonne, um ihn ausgiebig zu mustern. Es war ein ausgefallener Siegelring aus Sterlingsilber, in dessen rechter unterer Ecke ein kleiner hellgrüner Aquamarin prangte, von dem so etwas wie Strahlen ausgingen, die sich über das ganze Siegel zogen und ihm die geheimnisvolle Aura einer jahrhundertealten Loge verliehen, deren Code nur wenige Eingeweihte kannten. Tonia fand ihn wunderschön und war verblüfft über Kirstens Geschmack.
„Sensationell."
„Gefällt er dir?" fragte Kirsten so sehnsüchtig, dass es Tonia ins Herz schnitt.
Sie hielt Tonia plötzlich ihre eigene Hand vor die Nase, deren Mittelfinger der gleiche Ring zierte, nur dass der Stein ein kleiner gelber Beryll war. Tonia zuckte unmerklich zusammen. Ihr war vollkommen klar, dass sie der Sache hier und jetzt ein Ende bereiten müsste und so wie Kirsten sich verhalten hatte, galt es dafür klare Worte zu finden, denn gegen Andeutungen und Mikrosignale schien diese Frau vollkommen immun zu sein. Dennoch widerstrebte es Tonia zutiefst, sie mit einer allzu harschen Abfuhr zu verletzen.
„Ja, er ist wunderschön."
„Ich habe ihn selbst entworfen", erklärte Kirsten stolz. „Und ein Goldschmied, der mir noch ein Gefallen schuldig war, hat ihn genauso hingekriegt, wie ich's ihm aufgezeichnet hatte. Der Mann ist ein Idiot, aber vom Schmieden versteht er was. Sie sollen Glück bringen und vor Trunkenheit schützen."
Sie klang so begeistert, so glücklich, dass Tonia schlecht wurde.
„Kirsten, ich kann das nicht annehmen. Versteh mich nicht falsch, der Ring ist toll, aber ich habe einen Freund und ich fürchte, das hier läuft in eine Richtung, die ich nicht..."
„He, schon gut, du musst nicht gleich in Panik ausbrechen", unterbrach Kirsten sie hastig. „Ich wollte dir nur eine Freude machen, sonst nichts. Du hast einen Freund, na und?! Heißt das, dass wir beide nicht einfach so befreundet sein können? Ohne Hintergedanken oder sonst was."
„Nein, natürlich nicht", stotterte Tonia und in ihrem Kopf schwirrte es.
„Komm, zieh ihn mal an, er beißt dich schon nicht", drängte Kirsten sie.
Automatisch streifte Tonia sich den Ring über den Mittelfinger. Er war zu weit, also probierte sie es am Daumen, doch auch dort saß er etwas zu locker. Kirsten machte ein enttäuschtes Gesicht.
„Ich war mir so sicher, dass er passen würde. "
„Ist doch nicht schlimm.",
„Gib mal her, ich lass ihn enger machen.
„Nein!" rief Tonia zu laut. Sie mäßigte den Ton und sagte: „Besser ich lasse ihn enger machen, damit er auch ganz sicher passt."
Sie wollte keinesfalls, dass Kirsten einen Grund hätte, in den nächsten Tagen schon wieder unangemeldet vor der Tür zu stehen. Kirsten überlegte kurz.
„Ok. Trotzdem - er steht dir super. Ich hab den Stein passend zu deinen Augen und den schwarzen Haaren ausgesucht."
„Danke", sagte Tonia und es hörte sich fast wie eine Frage an.
Kirsten nickte und schlenderte dann zu ihrem Motorrad. Sie schnappte sich ihren Helm.
„Wenn dir mal wieder nach Tanzen ist, oder du einfach mal eine Runde quatschen willst und von dem Ganzen hier eine Pause brauchst, dann ruf mich an. Meine Nummer kennst du ja."
Ihre Stimme klang freundlich und beiläufig, zu beiläufig, wie Tonia fand, aber gleichzeitig schalt sie sich dafür. Was, wenn Kirsten einfach nur ein netter Kerl war, der wirklich keine weiteren Absichten verfolgte. Sie könnte eine gute Freundin gebrauchen, denn die Jungs waren auf Dauer anstrengend und es gab einfach Dinge in ihrem Leben, die sie lieber mit einer Frau besprechen wollte. Eigentlich hatte sie nie wirklich eine weibliche Vertrauensperson in ihrem Leben gehabt. Die Beziehung zu ihrer Mutter war schon von klein auf von Eifersüchteleien wegen ihres Vaters geprägt, in der Schule hatte sie lieber mit Vinz, Falco und Bert zusammengehangen, statt mit den Mädels ihrer Klasse und nach der Schule hatte es sich einfach nicht ergeben. Und hier stand Kirsten, offensichtlich ebenfalls auf der Suche nach einer verwandten weiblichen Seele. Wieso also nicht mit beiden Händen zupacken? Doch etwas ließ sie zögern, irgendwas stimmte nicht an dem Bild, das Kirsten hier von sich zeichnete. Anfangs, im Klub, hatte sie das nicht bemerkt, vielleicht weil sie an jenem Abend zu betrunken und verwirrt gewesen war, aber auch jetzt hätte Tonia nicht sagen können, ab welchem Moment die leise warnende Stimme in ihr zu rufen begonnen hatte. Wie ein kaum hörbares Summen im Hintergrund, das man erst wahrnahm, wenn man darauf aufmerksam gemacht wurde und dann nicht mehr sagen konnte, seit wann es überhaupt da war.
„Klar, mach ich! Und wenn dir mal nach richtig gutem Essen zumute ist, dann komm vorbei!" entgegnete Tonia und hoffte, es klänge so unverbindlich, dass sie sich jederzeit wieder aus der Affäre ziehen könnte, aber verbindlich genug, um Kirsten nicht wehzutun.
Kirsten wollte sich gerade den Helm über den Kopf ziehen, als Berts Kastenwagen die Auffahrt hochgetuckert kam. Tonia fluchte innerlich und zerknüllte das Organza-Beutelchen zwischen ihren Fingern. Bert parkte den Wagen und ging zum Kofferraum, um ihn zu öffnen und ein langes Regalholzbrett hervor zu zerren. Vinz war ebenfalls aus dem Auto gesprungen und ging ihm dabei zur Hand. Gemeinsam trugen sie es zum Eingang des Restaurants, dabei begrüßten sie Tonia und Kirsten mit einem gutgelaunten Hallo und kümmerten sich nicht weiter um sie.
Kirstens Blick huschte kurz zu Tonia herüber, als Falco aus dem Wagen stieg, sein Handy am Ohr. Er hörte mit amüsiertem Gesichtsausdruck zu und lachte hin und wieder laut auf. Tonia sah Kirsten nicht an, sondern starrte unentwegt auf Falco, der gestikulierte, dass er gleich fertig sei. Falco hatte das Talent, die Dinge sehr schnell zu durchschauen und das machte Tonia nervös. Dabei war es weniger die Tatsache, dass sie Kirsten geküsst hatte, die ihr ein schlechtes Gewissen bereitete, immerhin wollten Falco und sie es langsam angehen lassen und immerhin war Kirsten eine Frau, sondern dass sie es ihm verschwiegen hatte. Das war der eigentliche Betrug. Und dahinter steckte schlicht, dass sie ihm nicht hätte erklären können, warum sie an jenem Abend nicht direkt nach Hause, sondern in einen Club gegangen war.
„Ist er das?" fragte Kirsten ausdruckslos.
Wer? hätte Tonia beinahe zurückgefragt.
„Ja, das ist Falco."
„Hübscher Kerl - auch wenn ich mir Vinz geschnappt hätte."
Tonia zuckte zusammen.
„Kennst du Vinz?"
„Aus der Frittenbude. Mein Essverhalten lässt leider zu wünschen übrig." Sie grinste. „Bert kenn ich auch. Eigentlich mehr seinen Vater. Hat berufliche Gründe."
„Ist ja witzig", erwiderte Tonia, doch ihre Kehle war plötzlich trocken und ausgedörrt.
„Wie lange seid ihr schon zusammen?"
„Noch nicht so lange. Ein paar Wochen erst."
Tonia wurde das unangenehme Gefühl nicht los, wie eine Verdächtige in einem Mordfall verhört zu werden. Kirsten wollte gerade zur nächsten Frage ansetzen, als Falco sein Telefonat beendete und zu ihnen herüber kam. Er taxierte Kirsten kurz von oben bis unten und Tonia bemerkte sofort, dass er sein Pokerface aufgesetzt hatte - interessiert und gelassen. Bevor er die Situation nicht einschätzen konnte, würde er genau diesen Gesichtsausdruck beibehalten.
„Hi, ich bin Falco."
Er streckte Kirsten die Hand hin, die sie nahm und einmal kräftig zudrückte.
„Kirsten."
„Schatz, hast du was ausgefressen?" fragte er scherzhaft und drückte Tonia einen Kuss auf die Wange. Kirsten ging auf Falcos Spielchen ein.
„Ja, ich fürchte, ich muss sie sofort mitnehmen."
Sie packte Tonias Handgelenk und zog sie zu sich herüber.
„Nur über meine Leiche", lachte Falco und griff ebenfalls nach Tonias Arm, um sie wieder zu sich zu zerren.
„Wie du willst..."
Tonia fand die ganze Situation alles andere als lustig und unterbrach das Geplänkel der beiden, indem sie sich mit einer heftigen Bewegung von ihnen befreite.
„Kirsten wollte gerade los, sie hat eine ziemlich anstrengende Nacht hinter sich. Ich hab ihr gesagt, sie ist jederzeit im Restaurant willkommen", erklärte Tonia schnell und es war ihr egal, ob sie dabei unbeholfen wirkte. Sie wollte einfach nur, dass Kirsten endlich wegfuhr. Die verstand den Wink Gott sei Dank auch, verabschiedete sich freundlich von Falco, wünschte den beiden viel Erfolg für die Eröffnung und raunte Tonia noch ein "Ruf mich an!" zu, bevor sie sich den Helm aufsetzte und mit ihrer Maschine davon brauste. Tonia winkte ihr nach, bis sie außer Sichtweite war.
„Woher kennst du die denn?" fragte Falco.
„Ach, ist schon ewig her, da haben wir uns mal im "Tiefenrausch" beim Tanzen kennengelernt. Seitdem haben wir sporadischen Kontakt miteinander. Sie ist ganz nett, aber ein bisschen seltsam."
„Davon hast du mir nie erzählt."
„Na und? Ich weiß ja auch nicht alles über dich, also was soll's?" schnappte Tonia ungewollt giftig.
„Schon gut, schon gut, erschieß mich nicht gleich. Ich sag's ja nur. Es ist nicht gar schlecht, mit einem Bullen befreundet zu sein. Man weiß nie, wann man seine Hilfe braucht", erwiderte er sanft und Tonia bereute ihren Ton sofort. Falco konnte nun wirklich am wenigsten dafür, dass sie in dieser verzwickten Lage steckte.
„Recht hast du!" sagte sie und gab ihm einen langen Kuss als Wiedergutmachung, den Falco überrascht erwiderte.
Vinz und Bert hatten das Regal an der Küchenwand angebracht und während Vinz seine Gewürze darauf sortierte und immer wieder aufs Neue verrückte, weil ihm die Anordnung missfiel, spielte Bert am Küchenradio herum und versuchte einen Sender einzustellen, dessen Musik seinem Geschmack entsprach. Da es Punkt zwölf Uhr war, liefen überall die Nachrichten, trotzdem spielte Bert weiter mit dem Sucher herum.
„Mann, Bert, warte doch einfach, bis die Nachrichten vorbei sind. Du findest jetzt keinen Sender, der Musik spielt. Die meisten von uns interessiert es nämlich, was so in der restlichen Welt los ist", brummte Vinz.
„Warum?"
„Dödel!"
Bert musste grinsen. Er nahm es den anderen nicht übel, wenn sie ihn aufzogen, im Gegenteil. Das war seine Rolle, er war der Klassenclown und er spielte sie gerne. Hinter den Neckereien steckte meistens viel Liebe, so wie bei Eltern, die die verqueren Eigenarten ihres Kindes mit gespielten Seufzern kommentieren, aber im Grunde amüsiert und irgendwie auch stolz sind auf ihren Nachwuchs, weil er so ist wie er ist.
Bert machte das Radio aus und stellte sich mit verschränkten Armen vor die Tür, die von der Küche in den Garten führte und schaute durch deren staubige Fensterscheibe nach draußen. Die Wiese des Gartens sah mitgenommen und schlammig aus, der schneereiche Winter hatte ihr ordentlich zugesetzt. Eine Schubkarre lag hingeworfen auf der Seite und schien nur darauf zu warten, endlich zum Einsatz kommen. Ein Kirsch- und zwei Apfelbäume standen da wie hingehaucht und ihre zarten weißen Blüten verliehen dem Garten etwas Zauberisches. Bert lächelte unwillkürlich, als er sich vorstellte, wie sie schon nächsten Sommer einen Biergarten hier betreiben würden, wie er mit schweren Tabletts voller sonnengelber Biergläser durch die Bank- und Tischreihen marschieren würde und seinen Stammgästen ab und zu eine Runde spendieren wollte, die ihm dann dankbar zuprosten würden. Er hatte die Idee gehabt, einen Teil des Gartens mit alten Holzbohlen auszulegen und drum herum feine weiße Kieselsteine auszustreuen, als befände man sich in der Nähe des Meeres. Die Kinder der Gäste dürften dann auf der angrenzenden Wiese spielen und rennen und würden niemanden stören. Da es sonst in der Gegend keine Restaurants gab, die für Familien mit Kindern geeignet waren, betrachteten sie das als grandiosen Schachzug. Alles hatte sich wunderbar ineinander gefügt und sie sprudelten nur so über vor Ideen, was sie in Zukunft noch alles verbessern und verändern könnten.
Als ihn Vinz' Atem am Ohr kitzelte, drehte Bert sich um. Er hatte gar nicht bemerkt, wie sein Freund hinter ihn getreten war und über seine Schulter hinweg in den Garten spähte. In Vinz' Augen sah er das gleiche helle Leuchten, das er in seinem Inneren spürte. Der Ausblick auf eine verheißungsvolle Zukunft, auf wonnige Zeiten und farbenfrohe Tage, die zwar arbeitsam und stressig, aber vor allem glücklich sein würden.
„Wir müssen noch die Malersachen ins Auto verfrachten. Wenn Helen kommt, sollte es hier so schnieke wie möglich aussehen", sagte Vinz und klopfte Bert auf die Schulter.
„Wo ist eigentlich Falco, der faule Hund?"
„Wollte mit Tonia noch mal den Vertrag durchgehen. Zum ungefähr tausendsten Mal. Auch wenn er Anwälte neuerdings hasst, so steckt tief in ihm drin doch eine kleine, pedantische Juristenseele."
„Dann bleibt die Drecksarbeit also an uns einfachen Arbeitern hängen?!" scherzte Bert.
„Siehst so aus, mein Freund! Dafür bekommst du später die größte Portion von der sensationellen Nachspeise, die ich gestern Nacht erfunden habe! Ich sag nur Schokoladenbiscuit, Birne, Chili und Karamell. Dem Anlass angemessen und die zukünftige Nachspeise des Hauses."
Er zückte sein Handy und hielt Bert ein Foto des Nachtischs unter die Nase, das aussah wie ein Gemälde. Bert schleckte sich über die Lippen. Wenn Vinz seine Kreativität in der Küche spielen ließ, dann zwang das den größten Kostverächter in die Knie.
„Ich liebe dich, Mann!"
„Spar dir die Schwulitäten für den süßen Ulf auf. Und wenn ich sage, wir müssen noch ein paar Latten versenken, dann komm ja nicht auf dumme Gedanken!"
Bert griff Vinz kurzerhand an den Hintern. Der schlug ihm auf die Hand und drohte ihm mit einem Zeigefinger.
„Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist kein Kavaliersdelikt, junger Mann!" sagte Vinz mit heller Kopfstimme.
„Ich, als Kavalier, sehe das aber ganz anders!" parierte Bert. Vinz lachte. Sie klatschten sich ab und Bert riss beschwingt die Tür zum Restaurant auf und ein Schwall kühler Luft erfrischte ihn für einen Moment. Genau in dieser Sekunde wurde ihm bewusst, dass heute der glücklichste Tag seines Lebens war.