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Das Ende der Strafrunden

Nichts verklärt sich mit den Jahren mehr als die eigene Vergangenheit. Was früher bittere Wahrheit war, ist heute höchstens noch eine nachlassende Erinnerung. Nirgendwo merke ich das mehr als auf dem Trainingsplatz, wo ich mir als Jugendtrainer mittlerweile einen Ruf irgendwo zwischen „Ernst Happel ohne Zigaretten“ und „Helmut Schön ohne Mütze“ hart erarbeitet habe. Als selbsternannter Trainer-Gott kämpfe ich einen harten, aber gerechten Kampf gegen Fehlpässe, Schlendrian und sinnlose Grätschen. Der Einzige, der weiß, dass ich selbst einst als Spieler genau für diese (Un-)Tugenden stand, bin ich selbst. Und weil ich es niemandem erzähle, kann es mir auch niemand vorwerfen. Die, die einst dabei waren, als Fehlpässe, Schlendrian und sinnlose Grätschen zu mir gehörten wie die Peitsche zu Max Merkel, wohnen mittlerweile ganz woanders und trainieren wahrscheinlich selbst irgendwo die Mannschaften ihrer Kinder – eine ganz neue Trainergeneration ist da entstanden, die immerhin weiß, wie man es nicht macht.

Geht etwa einer meiner Jungs im Training frei auf das gegnerische Tor zu, und einer der Verteidiger macht sich auf, ihn noch vor dem Torschuss abzugrätschen, bin ich es, der beschwörend und vielleicht etwas zu feierlich das Training unterbricht, zur Ruhe mahnt und in angemessener Trainer-Lautstärke das Wort an die Mannschaft richtet: „Auf den Beinen bleiben! Auf den Beinen bleiben!“ Bleibt der Verteidiger im Laufe der weiteren Übungseinheit tatsächlich dort oben auf seinen Beinen, bekommt er das wohlverdiente Lob des Trainers und darf sicher sein, am kommenden Samstag in der Startelf zu stehen. Bleibt er allerdings nicht dort, weht ihm der eisige Wind der trainerlichen Ansage entgegen, fachlich fundiert natürlich. So viel Konzepttrainer muss dann schon noch sein. „Du nimmst dich nur selbst aus dem Spiel!“ Denn wer am Boden liegt, kann nicht mehr verteidigen. Hätte mir das doch auch mal jemand erzählt, als ich einst meine Oberschenkel bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf den Aschenplätzen des Kreises Düren wundgrätschte.

Noch schlimmer als die grätschenden Verteidiger trifft es während unserer gemeinsamen Übungsstunden allerdings die selbsternannten Künstler – die, die das Erlernen des Spiels nicht wie ihr Coach als harte Arbeit, sondern als willkommene Spaßveranstaltung verstehen. Künstler, so wie Olli einer ist. Jener Olli, der zu meinen Lieblingsspielern gehört, weil er das Spiel und das Leben liebt. Er hat zwar kein ausgeprägtes Faible für die Blutgrätsche, dafür aber für den gepflegten Hackentrick, egal in welcher Situation. Er streichelt den Ball am liebsten mit der Ferse, im Aufwärmspielchen genauso wie mitten in einer von seinem Trainer am Schreibtisch akribisch erdachten Passübung, im Trainingskick oder bisweilen auch im Spiel. Im Rahmen hochfeierlicher Elterngespräche sagt sein Vater dann wahrscheinlich gar nicht mal zu Unrecht, dass sein Sohn sich damit eben ausprobiere. Und trotzdem: Seinen Trainer beschleicht eher das Gefühl, dass er damit ausprobiert wird. Etwa dann, wenn Olli den Hackentrick frei vor dem gegnerischen Tor auspackt und ausprobierend scheitert. Um ihm die Flausen auszutreiben, greife ich bei fast jedem Hackentrick auf die gute alte Trainerschule zurück und ordne eine Strafrunde nach der anderen an – ein Instrument, das bei Elfjährigen erstaunlich gut funktioniert. Notiz an mich selbst: Max Merkel hatte recht!

Was indes weder Olli noch seine Mannschaftskameraden ahnen und auch besser nie erfahren: Sie hätten ihre wahre Freude an mir gehabt. Denn ich war einer von ihnen und ging einst selbst unter dem Spitznamen „Die Grätsche“ in die schnell (und an späterer Stelle noch ausführlicher) erzählte Geschichte der Zweiten Mannschaft des TSV Stockheim 09 ein. Noch dazu beendete ich kein Training, ohne wenigstens einen erniedrigenden Beinschuss gesetzt oder einen unnötigen Hackentrick zum Besten gegeben zu haben. Was der Trainer dazu sagte, interessierte mich herzlich wenig. Lieber feierte ich solche Aktionen lautstark bis in die Kabine hinein und nahm den Platz auf der samstäglichen Ersatzbank gleichmütig hin, wusste ich doch: Auf den Beinen bleiben sollen ruhig die anderen. Nichts verklärt sich mit den Jahren eben mehr als die eigene Vergangenheit.

Und weil es so ist, wie es war, freute ich mich mächtig, als mein Sohn Carl seinen besten Kumpel Olli an einem dieser Freitage dazu überredete, mit uns ins Stadion zu fahren, um dort eine ihm noch völlig unbekannte Mannschaft namens Alemannia Aachen anzuschauen. Ganz entspannter Spieltagsvater und für einen Abend kein bisschen Trainer kaufte ich jedem der Jungs eine Cola und eine Stadionwurst. Anschließend schlenderte ich mit ihnen zur Sitzplatzschale der Wahl und studierte an ihrer Seite das Stadionheft. Ich war zwar einigermaßen neugierig, wie Olli das Spiel und die Mannschaft meines Herzens gefallen würden, war mir aber sicher, dass er hier nicht viel von dem finden konnte, was ihn ansonsten auf dem Trainingsplatz so entzückte.

Doch dann nahm das Spiel seinen Lauf. Wir sahen eine schnelle 2:0-Führung einer erstaunlich gut aufgelegten Heimmannschaft, die von Carl und mir mit einem ungläubigen Blick und ekstatischem Jubel gefeiert wurde, während Olli wohl dachte, dass Fußball hier immer so gespielt würde. Kein Vorwurf, er konnte ja nicht wissen, dass so ein Spektakel ganz und gar nicht üblich war an diesem Ort – viel weniger üblich jedenfalls als der obligatorische 2:2-Ausgleich durch die Gastmannschaft aus der Bundesstadt am Rhein in der zweiten Halbzeit. Und so schien zu kommen, was ich schon vorher ahnte: Ollis erster Besuch in diesem Stadion drohte auch sein letzter gewesen zu sein. Bis, ja bis eine Flanke vom rechten Flügel in den gegnerischen Strafraum segelte und in der Mitte ein Mann namens Hammel den Ball weder mit dem Vollspann noch mit dem Innenrist auf das gegnerische Tor bugsierte. „Du Hammel“, wollte ich noch, völlig überwältigt von der Chance dieses einzigartigen Wortwitzes, auf das Spielfeld rufen. Ich tat es aber nicht, denn es passierte, was offenbar nur passieren konnte, weil Olli neben uns saß. Hammel packte seine rechte Hacke aus und schickte das Leder hinter dem eigenen Standbein zum vielumjubelten Heimsieg samt späterer Nominierung zum „Tor des Monats“ in die gegnerischen Maschen. Ich glaubte nicht, was ich sah, jubelte aber umso ausgelassener – und als ich dabei wie beiläufig zu Olli hinüberschaute, sah ich das überlegene Lächeln eines stillen Siegers. Wie recht er doch hatte.

Ich wollte es ihm noch sagen, tat es aber lieber nicht: Nichts verklärt sich mit den Jahren mehr als die eigene Vergangenheit. Und lang lebe der Hackentrick!

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