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ОглавлениеDer König von Stolberg
Meine Karriere als Trainer der F-Jugend von Grün-Weiß Brauweiler begann auf holprigen Naturrasen in Kerpen-Horrem mit einem dritten Platz – ungeschlagen zwar, aber trotzdem nur auf dem dritten Platz. Glamour sieht anders aus. Und deswegen hatte die Ansprache des Horremer Jugendvorstandes etwas Tröstendes. Der hatte nämlich bei der Siegerehrung große Worte für die acht F-Jugend-Mannschaften. Dass F-Jugend-Fußball mehr ist als F-Jugend-Fußball, dämmerte mir schon länger. Hier wurde es offen und schonungslos thematisiert:
„Liebe Jungs, bevor wir zur Siegerehrung kommen, will ich euch für euren weiteren Lebensweg noch eines mit auf den Weg geben. Egal, was eure Eltern euch erzählen: Es gibt nichts Wichtigeres als den Fußball! Wenn auch eure Eltern mal mit euch schimpfen oder wenn im Leben mal eine Flaute auf euch zukommt, in der Schule oder irgendwann in der Liebe: Das ist nicht weiter schlimm! Denn der Fußball wird immer für euch da sein! Vergesst alles andere – nur der Fußball ist euer Freund!“
Einige Monate nach dieser denkwürdigen Ansprache spielte Alemannia Aachen in Wattenscheid gegen 09, das ohne Uwe Tschiskale, Samy Sané und ebenso wenig mit einem Hannes Bongartz auf dem Trainerstuhl antrat und vielleicht auch deshalb an Alemannia-Spielmacher Rafael García Doblas, dem einzigen Spanier mit zwei linken Füßen, verzweifelte. Ich war nicht im Lohrheidestadion. Das hatte einen guten Grund, denn zeitgleich spielten meine Jungs das erste Hallenturnier der Saison. Und das war nicht irgendwo, sondern ausgerechnet in Stolberg, beim Heimatverein von Egidius Braun – Qualifikation für den „Mexiko Cup“, der eine Woche später am gleichen Ort stattfinden sollte. Heimspiel also für mich! Keine Frage, dass ich die Jungs vor allem damit heißmachte, dass dies hier ein besonderer Ort für ihren Trainer sei und es deswegen keine billigen Ausreden gebe: Die Quali musste her. Egal, welche Flaute die Jungs in ihrem für mich uninteressanten Privatleben auch gerade durchmachten.
Wenn mich nicht alles täuschte, kam die Motivationsspritze auch gut an, wenngleich das ständige Versammeln um mein Handy, um den Liveticker aus Wattenscheid kollektiv als Teamevent zu zelebrieren, auf viele der Jungs etwas befremdlich wirkte – sind die meisten doch Fans des FC Bayern, von Borussia Dortmund oder des aufgrund des Wohnortes unvermeidlichen 1. FC Köln. Trotzdem zahlte sich meine positive Ansprache der letzten Monate aus, und die kleinen Kicker heuchelten wenigstens ein bisschen so etwas wie Interesse. Die verständnislosen Kopfschüttler nach dem Ergebnischeck übersah ich jedenfalls geflissentlich, zumal der eigene Sohnemann ehrlich und voller Stolz die Faust ballte, als Alemannia in Führung ging.
Nur einen interessierte das Ganze nicht mal im Ansatz: Johannes. Johannes war so etwas wie unser Ergänzungsspieler. Irgendwie war Fußball nicht so seine Sache, was ihn aber auch nicht sonderlich mitnahm. Am Ende war er froh, dabei zu sein. Ansonsten belächelte er seine Trainer eher, die tapfer und ausdauernd versuchten, wenigstens einen seiner Füße richtig einzurenken. Ein Tor hatte er in seiner Karriere bis Stolberg noch nicht geschossen, und jeder Versuch, ihn dahin zu bringen, scheiterte bisher kläglich. An seinen Mannschaftskameraden lag das nicht. Die versuchten alles, um ihn in Szene zu setzen – egal, wie aussichtsreich sie selbst gerade standen.
Als Trainer liegst du manchmal nachts wach und denkst darüber nach, ob es an dir liegt, wenn du einen Spieler nicht richtig weiterentwickeln kannst. Dann nimmst du dir mitten in der Nacht einen Block und zeichnest dir Trainingsübungen auf, mit denen es vielleicht klappen könnte. Schließlich willst du dir nicht irgendwann vorwerfen müssen, ein hoffnungsvolles Talent ignoriert zu haben. Bei anderen ist es noch etwas schwieriger. Bei denen fragst du dich nicht, wie du sie entwickeln kannst, sondern eher, wie du sie überhaupt erst mal anknipst.
Ausgerechnet in Stolberg kam die Erleuchtung, und zwar genau in dem Moment, in dem ich wieder einmal alle Jungs um mich versammelte, um Alemannias Bemühungen in Wattenscheid zu kon trollieren. Und als auf dem Handy dann ein sattes 3:0 für Schwarz-Gelb blinkte, mein Sohnemann und ich uns ungläubig anschauten, weil wir es nicht fassen konnten, und alle anderen uns anerkennend auf die Schulter klopften, da war klar: Wenn Rafael García, der einzige Spanier mit zwei linken Füßen, einen Doppelpack schnüren konnte, dann war heute auch der Tag, an dem Johannes treffen würde. Und so schritt ich mit meinem Co-Trainer voller Elan zur Mannschaftsbesprechung vor dem zweiten Spiel, stellte die Mannschaft ein und haute zum Schluss noch einen Motivationshammer raus, gegen den Christoph Daums „Geldscheine an die Kabinentür nageln“-Trick ähnlich kraftlos angemutet hätte wie eine Linke von Axel Schulz. Kurz nach der Mannschaftsaufstellung bat ich kurz um Ruhe und nutzte den seltenen Moment der Stille, um mit der Faust in die flache Hand zu schlagen und dabei laut und deutlich „Johannes!“ zu rufen. Dadurch aufgeschreckt, wurde Johannes wach und schien mir zum ersten Mal zuzuhören. „Johannes“, wiederholte ich. „Das ist dein Spiel – wir wechseln dich genau zur Hälfte ein, und dann machst du das Tor!“ Johannes nickte; ja, die ganze Mannschaft nickte. Die Einzigen, die allerdings wirklich daran glaubten, waren die beiden Mitglieder des offenbar verrückt gewordenen Trainer-Gespanns.
Das Spiel begann und war schnell entschieden. Unsere Jungs überrannten den Gegner und führten schnell mit 3:0. Also kam Johannes. Er hielt tapfer seine Position und versuchte ebenso tapfer, am Spiel teilzunehmen – allein, er tat es nicht. Und so gaben wir draußen am Spielfeldrand schon die Hoffnung auf. Sicherheitshalber schaute ich noch einmal auf meinem Handy nach, ob Alemannia nicht doch noch 3:3 gespielt hatte, denn dass das Spiel in Wattenscheid mit diesem Turnier hier in einer Art telepathischem Einklang stand, schien mir völlig klar. Da in der Lohrheide aber wirklich Schluss war, rief ich doch noch einmal ein lautes „Auf geht’s, Johannes!“ in die Halle, ohne noch recht an das Wunder zu glauben – erst recht nicht, als die anwesenden Zuschauer begannen, die letzten zehn Spielsekunden herunterzuzählen. Doch dann rauschte tatsächlich ein letzter Angriff auf das gegnerische Tor zu, und als das Publikum bei „vier“ angekommen war, rollte der Ball zu Johannes. Um Himmels willen, direkt zu Johannes. Es war einer dieser Momente, die in Jahrhunderten atmen. Offene Münder, verzerrte Schreie, lähmende Erwartungshaltung, alles wie in Superzeitlupe. Stundenlang schien Johannes auszuholen, um den auf ihn zurollenden Ball zu treffen. Und tatsächlich: Er traf ihn und schickte das Leder in Richtung Tor, in dem der Torwart sich streckte und lang machte. Vergeblich! Für Sekunden schien die Welt still zu stehen, als die Kugel wirklich und für alle sichtbar das Netz ausbeulte. Ungläubig drehte Johannes sich um, vergaß zu jubeln und schaute in meine Richtung. Aber auch ich verharrte! Ein Augenblick – was für ein Augenblick! –, der erst vom tosenden Jubel seiner Mannschaftskameraden unterbrochen wurde, die jetzt alle gemeinsam und ausgelassen auf ihn zuliefen, um sich mit ihm zu freuen.
Und so gewannen wir die Vorab-Quali um den Mexiko Cup ohne Gegentor. Und während sich in Wattenscheid gerade Rafael García, der einzige Spanier mit zwei linken Füßen, von den mitgereisten Fans feiern ließ, war in Stolberg ein König geboren worden. Deshalb sage ich euch: Wenn im Leben mal eine Flaute auf euch zukommt, ob in der Schule oder in der Liebe: Das ist nicht schlimm! Scheißt drauf! Denn es ist der Fußball – und nur der Fußball! –, der euer Freund ist! Sonst niemand! Egal, was eure Eltern euch erzählen!