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Unhaltbar!

Da war es wieder, das Gefühl – elf Jahre, nachdem dieser nie vergessene Ball in der D-Jugend neben mir ins Tor gekullert war. Ein schmerzhafter Gegentreffer, der eine Karriere beendet hatte, lange bevor sie beginnen konnte. Aussichtslos! Chancenlos! Unhaltbar! Der Ball war links an meinem Standbein vorbeigerollt; nicht geflogen, sondern einfach nur gerollt. Für die da draußen hatte er haltbar ausgesehen, aber das war er nicht. Das ist das Schicksal eines Torhüters: Die Situation sieht für all die Pfeifen, die nie auch nur irgendwann in einem Tor standen, lösbar aus. Schweigt, ihr Narren! Unhaltbar war er, dieser Ball, der 1982 an mir vorbeigrüßte. Mehr noch: Wer im Lexikon unter „unhaltbar“ nachschlägt, findet dort ein Foto von diesem Moment – diesem Moment in der Geschichte der D-Jugend der SG Düren 99. Niemand hätte den Ball gehalten, nichts und niemand, weil er eben unhaltbar war. „Unhaltbar“ – ein wunderbares Wort, erfunden für solche Situationen und nur genutzt in der Welt des Fußballs, weil es nirgendwo sonst Momente gibt, für die das Wort taugen würde.

Der Ball 1982 WAR unhaltbar, genau wie sie es war: Steffi aus Mönchengladbach, die mich jetzt, elf Jahre nach diesem Moment, anrief, um mir zu sagen, dass sie keinen Sinn mehr „darin“ sehe. Ja, sie nannte es „darin“. Alles, was ich ihr gegeben, alles, was ich für kurze Zeit für sie verlassen hatte – Bier, Fußball und T-Shirts mit dem Konterfei Michael Jordans darauf –, all das nannte sie jetzt nur „darin“. Fuck! Mein Vater hatte mich ans Telefon gerufen und, überfordert von dem seltenen Moment, eine Frau für mich am Hörer zu haben, diesen schlechten, aber immerhin bemühten Witz in Bezug auf ihren Vornamen gemacht: „Stefan Edberg für dich am Telefon!“ Ich lächelte gequält, was nichts gegen das war, was mich an der Muschel erwartete.

Ich war Torwart. Eigentlich war ich es schon immer, auch jetzt, in diesem beschissenen Moment. Natürlich versuchte ich, Steffi im Nachfassen zu halten, doch sie war längst in vollem Umfang hinter der Linie. Nicht einmal Kreide hatte gestaubt. Ich war längst und klar geschlagen, auch wenn ich verzweifelt zurück ins Netz hechtete und versuchte, das Leder noch aus dem Tor zu befördern – was aber nur dazu führte, dass ich mich verhedderte, die Stollen hoffnungslos in den Maschen verloren, bei jedem Rettungsversuch immer lächerlicher wirkend; quasi den Karabiner durch die Milz geklickt. Ditmar Jakobs reloaded. Das miese Tor war gefallen, egal, was ich im Nachhinein noch tat, um es zu verhindern. Es ging ein Raunen durchs Stadion, als ich erbärmlich um Gnade bettelte und nur noch stammelte, bis ich endlich erkannte, dass dieser Schuss für jemanden wie mich nicht zu halten war.

Also ließ ich Steffi aus Mönchengladbach passieren, zog mit diesem Schmerz vor Augen aber trotzdem noch Jahre später morgens um vier völlig betrunken und mega-erwachsen durch Fußgängerzonen und stimmte dabei ein „Wer auf Gladbach scheißt, der klatsche in die Hand“ an. Doch jetzt, in dem Moment, in dem es geschah, versuchte ich Größe zu bewahren. Ich trat den Dreck unter meinen Schuhen am Pfosten ab, ging gebeugt und geschlagen in Richtung Elfmeterpunkt, wo ich die Arme demonstrativ in die Hüften steckte und vergrämt auf den Boden spuckte. Ich hatte sie nicht durch die Finger gleiten lassen – nein, sie war unhaltbar gewesen, außerhalb meiner Reichweite. Sie flog nicht, sie rollte nur; so platziert, dass ich nicht einmal reagieren konnte, kein Alibi-Abroller, keine theatralische Geste, nichts. Unhaltbar! Auf dem falschen Fuß stehend, ließ ich Steffi an mir vorbeiziehen.

Ob Stefan Linden sie wohl gehalten hätte? Vielleicht. Stefan Linden war Erster Torwart in Stockheims Zweiter, was jetzt allerdings nichts war, womit man angeben konnte. Und Stefan Linden hielt immer die Unhaltbaren. Die eigentlich Haltbaren hielt er nie, was auch der Grund war, warum wir bei Serien immer hoch in die Mitte schossen, wo er die größten Schwierigkeiten hatte. Wenn Stefan also eine schwache Ecke hatte, dann lag sie bei ihm zentral unter der Latte – eine Steilvorlage, wenn es zur Serie kam. Eine „Serie“ ist das, was Kreisligavereine als Training verkaufen, wenn sie keinen Bock auf Laufen haben. Dann legen sie die Bälle einen neben den anderen auf die Linie des Sechzehners, und einer, meist der Kapitän, ruft lautstark in eines dieser Gewerbegebiete, die meist einen Kreisligaplatz umgeben: „Wie viele kriegst du?“ Und wenn der Torwart gut drauf ist, dann antwortet er nicht weniger leise: „Keinen!“

Bekommt der Torwart wirklich keinen, gewinnt er eine Runde von der kompletten Mannschaft. Das nennt man dann „eine Runde kredenzen“. Das ist übrigens auch wieder eines dieser Wörter, die es nur im Fußball gibt: „kredenzen“ spielt in einer Liga mit „unhaltbar“, „kompakt stehen“ oder „anvisieren“. Wenn der Torwart eine Runde kredenzt bekommt, lässt er normalerweise sein Auto am Trainingsplatz stehen. Bekommt er bei einer Serie allerdings mehr als angekündigt, gibt er selbst eine Runde aus. Danach lassen dann alle zusammen das Auto stehen (und melden sich am nächsten Tag krank). Stefan Linden sagte nie: „Keiner!“, Stefan Linden sagte immer: „Drei!“ Also schaufelten alle Schützen ihre Versuche umständlich zentral aufs Tor und ließen anschließend ihr Auto am Sportplatz stehen. Stefan Linden hielt eben selten die Haltbaren, seine Spezialität waren die Unhaltbaren – die aber gibt es in der Kreisliga nun mal nur sporadisch.

Unhaltbare schossen Björn Boßhammer und ich so gut wie nie. Jedenfalls nicht in der D-Jugend der SG Düren 99. Dort waren wir gleicher als gleich, wenn es das gibt: Wir waren gleich schlecht. Das sollte sich später in der C-Jugend bemerkbar machen, als unser Trainer Jörg eine Liste vorlas, auf der die Namen aller Spieler standen, die ab sofort allerhöchstens noch zum Training, aber nicht mehr zum Spiel kommen durften. Björn Boßhammer und ich standen ziemlich weit oben auf dieser Liste, was bedeutete, dass die Spiele zukünftig ohne uns angepfiffen wurden. Eigentlich habe ich uns nie so schlecht gesehen, vielleicht hatte Jörg aber auch einfach nur recht. Dass er den tiefen Teller nicht gerade erfunden hatte, jedenfalls ganz bestimmt nicht in Sachen Sportpsychologie, hatte mit der Liste nichts zu tun, und das sollte man ihm auch nicht mehr vorwerfen. Schon gar nicht nach all den Jahren. Außerdem geben all die verstrahlten Irren, die sich heute Jugendtrainer nennen und als solche schreiend und wild gestikulierend vor Siebenjährigen stehen und diese beschimpfen, ihm im Nachhinein einiges an Kompetenz zurück.

An einem Donnerstag in der D-Jugend aber war alles anders, und für einen kurzen Moment hatten Björn und ich die Chance, doch noch etwas aus unserer verkorksten Fußballerkarriere zu machen. Unser Torwart war ausgefallen, und einen Ersatztorwart gab es nicht. Klar, dass sich unser Trainer vor allem bei den Leuten umschaute, die sonst nicht über den Status von Begrenzungspylonen hinauskamen: „Björn und Sascha, einer von euch beiden steht am Samstag im Tor!“ Kurze, knappe Sätze, für die Jugendtrainer in den achtziger Jahren ja bekannt waren. Lange Ansagen waren aber ohnehin nie Jörgs Ding, und irgendwie hätte es auch nicht gepasst, wenn er uns ausgerechnet jetzt väterlich in den Arm genommen hätte, um uns auf das nun folgende Torwarttraining vorzubereiten.

Wir stellten uns also nacheinander auf die Torauslinie, und Jörg zimmerte unmotiviert jeweils drei bis vier Bälle in unsere Richtung. Der Sinn der Übung lag auf der Hand: Wer in diesem einen Moment die bessere Figur abgab, würde am Samstag im Tor stehen und die Chance haben, eine bis hierhin trostlose Spielerkarriere hinter sich zu lassen und eine märchenhafte Torwartkarriere zu starten – eine von der Sorte, bei der man quer in der Luft liegend Bälle mit der übergreifenden rechten Hand über die Latte lenkt, um anschließend aufzustehen und den Abwehrchef nach allen Regeln der Kunst zusammenzufalten. Torwart sein! Mehr Sex-Appeal hätte selbst Thomas Magnum nicht geschafft, oder Colt Seavers oder Howie Munson. Und es lief gut für mich: Björn Boßhammer versagten komplett die Nerven. Die Situation war zu groß für ihn. Er war kein Torwart, so wie ich es war. Er zerbrach an dem Druck und ließ jeden Ball passieren, während sich bei mir das Sofa-Sprungtraining, das ich mir als Schlüsselkind zu der Zeit täglich selbst verordnete und für das ich sogar die sechste Klasse opferte, nun voll zum Tragen kam. Von vier Bällen hielt ich drei: einen unhaltbaren wie Stefan Linden und zwei haltbare, die eigentlich auch Björn Boßhammer hätte halten müssen, woraufhin Jörg kurz und knapp resümierte: „Sascha, Samstag, Tor!“

Ohne Torwarttrikot, aber mit Sepp-Maier-Handschuhen ausgestattet, startete ich die zweite Karriere und hielt mich lange gut. Zwei souverän gefangene Bälle und eine Glanzparade ließen nicht nur Jörg, sondern auch meine Mannschaftskollegen staunen. Sollte dieser Theisen doch zu etwas gut sein? Unfassbares Staunen! Lange hielt ich das 0:0 – bis kurz vor Schluss, bis der Ball auf mein Standbein zurollte. Er war nicht weit von mir weg. Ich konnte ihn förmlich spüren. Wie in Trance hörte ich von Weitem Jörgs Stimme: „Sascha! Sascha!“ Sie wirkte Kilometer entfernt. In diesem Moment war ich vollständig auf diesen Ball fokussiert. Er schien erreichbar. Ich wollte hin, aber ich konnte nicht. Wenn du dein Gewicht auf dem Bein hast, mit dem du eigentlich abspringen müsstest, dann geht das einfach nicht. Kein Richtungswechsel möglich. Du stehst da wie ein Idiot, und dir bleibt nur, dem Ball hinterherzuschauen. Alle denken: „Den kann er doch halten! Verdammt! Den kann er doch halten!“ Doch du weißt, dass du es nicht kannst. Er ist unerreichbar. Er ist unhaltbar. Es war meine Chance – Titan und Fußballgott. Stattdessen rollte dieser eine Ball an mir vorbei. Er rollte nur, er flog nicht einmal.

Hätte ich Steffi gehalten, wenn ich diesen einen Ball gehalten hätte? Hätte Stefan Linden sie gehalten? (Nie im Leben, wenn sie zentral und hoch auf ihn zugekommen wäre.) Hatte sie ein Standbein? Was war mit Björn Boßhammer? Wo war er, als sie keinen Sinn mehr „darin“ sah? Wo war Jörg, dieses Ohrfeigengesicht, mit seinen einsilbigen Ansagen? Sie alle waren weg. Sie hatten mich verlassen, elf Jahre bevor sie anrief und mein Vater diesen „Stefan Edberg“-Witz machte. Denn sie alle wussten: Stürmer gewinnen Spiele, Torhüter gewinnen Meisterschaften!

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