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Der Charme der Niederlage

Wir waren zu fünft, und drei von uns hatten gerade verloren – kein Spiel, nur Frauen! Nicht schlimm, wie das Leben zeigen sollte. Damals vor allem ein Grund zum Trinken. Eher das. Immerhin das. Nicht jede Niederlage ist ein Desaster. Es war seltsam, dieses Pfingsten zu Beginn der Neunziger: Freddie Mercury war gestorben und Karl-Heinz Feldkamp wie zu seinem Gespött mit dem 1. FC Kaiserslautern Deutscher Meister geworden. Dagegen war es ein Fliegenschiss, was drei von uns verloren hatten. Manchmal kann selbst der Tod ein Trost sein, wenn das Leben Karl-Heinz Feldkamp heißt.

Wahrscheinlich war es nicht Karl-Heinz Feldkamp, der am Freitagabend des betreffenden Wochenendes Eddie Vedder von „Pearl Jam“ eine volle Dose Bier an den Kopf geworfen hatte. Freddy Mercury wäre es zuzutrauen gewesen, Wolfram Wuttke und Harry Koch auch, aber Feldkamp eher nicht. Doch wer weiß schon, wie Dosenbier schmeckt, wenn man tot ist. Was unbestritten ist: Dosenbier schmeckt vor allem dann, wenn du verloren hast – so wie damals, als drei von uns verloren hatten. Damals oder dann, wenn bei minus zwölf Grad ein Spiel in Rostock verloren geht. Dann ist es Dosenbier, das hilft. Der metallene Geschmack der Niederlage, der dich wie eine wärmende Decke des Desasters mit der kratzenden Wolle des Elends umwickelt, denn nichts anderes ist eine Niederlage im November in Rostock. Würde man Niederlagen auf orientalischen Basaren verkaufen, gäbe es für eine kalte Novemberniederlage im Ostseestadion drei Kamele. Für die Niederlage, mit Mitte zwanzig eine Frau zu verlieren, einen rostigen Dolch, höchstens.

Damals, als Feldkamp Meister geworden war, tranken wir Dosenbier – viel Dosenbier, bis jemand sagte: „Die rauchen wir jetzt!“ Es ging um so viele Niederlagen und darum, wie wir sie zelebrieren sollten. Und irgendwie war das halt dumm für die Ameisenkolonne, die gerade über den Biertisch marschierte und äußerst präzise den leeren Dosen auswich. Denn auf diesem Tisch stand seit Beginn des Festivals eine Wasserpfeife; eine, die wir nicht mit Wasser, sondern eben mit dem Dosenbier unserer persönlichen Niederlagen füllten, um mit ihr und diesem bis heute rätselhaft feuchten arabischen Tabak über die Tage zu kommen. Diese Pfeife wurde zum Schicksal dieser fleißigen Ameisen, die halt im falschen Moment am falschen Ort waren – so falsch, dass man falscher nicht sein konnte. Sie hätten es wissen müssen, an Tagen, an denen Karl-Heinz Feldkamp Deutscher Meister wird; Tage, an denen Eddie Vedder Dosenbier gegen den Kopf geworfen wird und er deshalb einen Auftritt stoppt. An solchen Tagen läuft man halt nicht über Biertische, schon gar nicht in Kolonne. Diese Ameisen taten es trotzdem, und deshalb war ihr Schicksal der Tabak. Anders als Feldkamp oder Mercury sollten sie aber immerhin nicht in der Hölle schmoren, sondern schon kurz danach mitten in unseren Großhirnen.

II.

Man tut seltsame Dinge in der Niederlage.

Ab der fünften Klasse war ich Schlüsselkind und verbrachte meine Nachmittage hauptsächlich damit, einen Softtennisball immer und immer wieder mit links gegen den Backofen zu lupfen, von wo er in meine Richtung zurückprallte und von meinem rechten Fuß per Volleyabnahme unhaltbar in Richtung Terrassentür vollendet wurde. Oft traf ich auch tatsächlich und versuchte anschließend die eine oder andere Jubelvariante, die ich aus dem Fernsehen kannte. Dabei ließ ich mich bis in den frühen Abend hinein von einem Publikum feiern, das ganz mir gehörte, weil nur ich es sah.

Viel öfter als den vielumjubelten Treffer hinein in die Terrassen-Maschen jedoch gönnte ich mir einen tragischen Fehlschuss – einfach nur, um zu verzweifeln und nach alter Väter Sitte dahinzusiechen.

„Da kommt der Ball von links, wunderschön hereingebracht von Theisen, der vorher drei Mönchengladbacher Gegenspieler wie Pappfiguren stehen lässt. Und in diesem Durcheinander findet er die Zeit, gelassen den Kopf zu heben, um die Situation auf diesem Spielfeld, das schon so viel gesehen hat, in Sekundenschnelle zu analysieren.

Und Theisen sieht, wie Theisen sich in der Mitte freiläuft und mit kurzer Handbewegung den Ball fordert. Und genau da, wo er hinzeigt, kommt das Leder auch hin. Was für ein Pass – ein Pass, der pure Anarchie ist und trotzdem auf den Zentimeter genau ankommt. Und es ist die letzte Spielminute, es geht hier um alles. Meisterschaft für Aachen, Nichtabstieg für Mönchengladbach.

Theisen hat freie Schussbahn, er schießt!

Das muss es sein! Ja – das muss es sein!

Und? Nein! Das ist es nicht! ABSEITS! Unfassbar!

Was für eine Fehlentscheidung! Statt Tor gibt es Freistoß für Mönchengladbach!

Was für eine Fehlentscheidung! Unfassbar!

Verzweifelt trommelt Theisen mit den Fäusten auf den Boden!“

Ja, es wäre leicht gewesen, zu gewinnen. Doch ich wählte die Niederlage, verzichtete auf Ruhm, auf Frauen, auf bis zum Bersten gefüllte Glasvitrinen. Stattdessen entschied ich mich für Schmutz, Elend und Verzweiflung. Es lag an mir, in jeder Beziehung. Ich hätte der „King of Küche“ werden können, gefeiert von der Menge und geliebt vom Nivea-Model auf Seite 56 der Brigitte meiner Mutter. Ich gewann nicht, ich verlor. Und ich verlor, wie sonst niemand verlor: voller Empathie und Zuneigung für diesen unvergleichlichen Moment der Niederlage. Wie entfesselt rannte ich durch Küche und Wohnzimmer dem nicht anwesenden Schiedsrichter hinterher, um auf ihn einzureden, ihn schreiend davon zu überzeugen, dass das hier nie im Leben Abseits gewesen war – alles andere, aber niemals Abseits. Er ließ sich nicht beirren, dieses Schwein, das es nie gab. Ich sank auf den Boden, wälzte mich gepeinigt vom Schmerz der Niederlage, die mich, weit bevor ich an Hausaufgaben oder den Feierabend meiner Eltern dachte, niedergestreckt hatte wie ein dumpfer Bud-Spencer-Hieb mit der Faust von oben auf den Schädel. Es war verloren, dieses Spiel. So viele weitere sollten folgen.

III.

Nichts ist wie Niederlagen! Du stehst vor deinem Wellenbrecher und schaust rüber auf die andere Seite, wo sie immer wieder wie von Sinnen ihre zum Kotzen glücklichen Köpfe schütteln, sich in die von Freudentränen betrunkenen Augen schauen, erneut mit dem Kopf schütteln und sich dann umarmen, wildfremde Leute, wildfremd sich selbst und dir sowieso. Menschen, die gerade gewonnen haben; entweder, weil ihr chilenischer Mittelfeldmann noch einen Freistoß über die Mauer gechippt hat, oder weil der holländische Schiedsrichter bei 2:1-Führung 20 Sekunden vor Schluss einen Freistoß in Mittelstürmerposition für deinen holländischen Gegner gibt, der dich letztlich das Finale kostet.

Deshalb führen sie sich auf wie „Frau Rottenmeier auf Koks“ da drüben. Klar, du hast dich auch schon so aufgeführt, vielleicht sogar schlimmer. Auf die Knie bist du gefallen, die Hände vor dem Gesicht. Hast auf lächerliche Art und Weise mit den Tränen gekämpft und theatralisch all die Leute umarmt, die um dich herumstanden. Aber das zählt jetzt nicht. Jetzt stehst du auf der anderen Seite, und das nicht mal in irgendeinem beschissenen übertragenen Sinne, und du hast verloren – mehr als nur ein Fußballspiel. Denn während sie nur ein gewonnenes Spiel feiern, musst du dich in DER Niederlage suhlen. In DER Niederlage, nicht in der „Mutter aller Niederlagen“. Ich habe noch nie verstanden, wie man den Begriff der Niederlage mit dem der „Mutter“ überhöhen kann. Mehr Gegensatz geht nicht. Niederlagen sind der Dunkle Lord, sind Josef Stalin, sind Fritz Haarmann, sind Idi Amin, sind Kasseler. Ja, Kasseler! So wie Kasseler das fleischigste Fleisch aller Fleische ist, sind Niederlagen der dunkelste Abgrund aller Abgründe. Niederlagen sind wie Kasseler: fleischig, grundlos, und jemand musste dafür sterben, wenigstens ein bisschen.

Und trotzdem: Sind sie nicht auch verlockend? Trifft nicht der Schmerz einer Niederlage viel genauer und nachhaltiger, als ein Sieg es tut?

Weißt du noch, als du zum fünften Mal abgestiegen bist, als du in der schwarzen Pyrowolke versankst, als die Chaoten den Platz stürmten und es schlimmer einfach nicht mehr ging?

Weißt du noch, als du 3:1 führtest – bis zur 70. Minute? Als du schon Pipi in den Augen hattest, weil es so schien, als wäre der erste Heimsieg nach einer halben Ewigkeit endlich eingetütet? Und dann, weißt du noch, als Hansa Rostock (ja, Hansa Rostock!) bis zum Abpfiff noch dreimal traf und als das blanke Entsetzen greifbar war auf der Südtribüne?

Weißt du noch, damals im Camp Nou, als du guter Dinge gewesen bist beim Anpfiff und trotzdem keinen klaren Gedanken fassen konntest, weil du vom ersten Europacupsieg seit 23 Jahren geträumt hast? Als Scholl den Pfosten und Jancker die Latte traf? Erinnerst du dich an diese verfluchte norwegische Fußspitze, an die Fuß-spitze von Ole Gunnar Solskjær, als dir der Atem stockte, das Spiel 30 Sekunden später vorbei war und du so sprach- wie fassungslos zurückgeblieben bist?

Weißt du noch? Der erste Abstieg? Ausgerechnet gegen „DIE“. Nach 2:0-Führung – und dann kamen die Zwischenstände von den anderen Plätzen herein, die dir ins Gesicht schrien, dass es vorbei war, dass alles im Arsch war. Erinnerst du dich an deine Tränen in der Kurve und an die Schmähgesänge von der anderen Seite? Damals, als die lange Leidenszeit begann?

Weißt du noch, als sie anrief, um dir zu sagen, dass es vorbei sei? Als du dich deswegen in der Eifel betrankst und sie von einer Telefonzelle aus anriefst, nur um ihrer Mutter zu sagen, dass ihre Tochter wenig empathisch sei? Erinnerst du dich, wie du der Mutter – wie zur Versöhnung – zum Schluss des Gesprächs zuriefst, dass alle Schlampen seien außer Mutti?

Weißt du noch, als deine Jungs gegen den KV Mechelen spielten? Gegen diese Belgier, die man in Orten mit belgischen Kasernen, wie auch Düren lange einer war, nur „Waggesse“ nannte? Zehnjährige „Waggesse“ mit gegelten Haaren und ersten Starallüren, aber ohne Wimpel beim Anpfiff? Erinnerst du dich, wie sich der Ball im Zeitlupentempo auf das Tor zubewegte, dabei frech die Sekunden von der Spieluhr herunterzuzählen schien und bei 15 Minuten und 59 Sekunden über die Linie rollte? Dass du direkt nach diesem Nackenschlag hören musstest, wie der Schiedsrichter pünktlich nach 16 Minuten Spielzeit bei diesem Turnier abpfiff? Als du in die Gesichter von Zehnjährigen schautest, denen Tränen die Wangen hinabliefen, weil sie es nicht verstanden?

Weißt du noch, als „Uwe“ Díaz kurz vor Ende der Relegation den Ball mit der Innenseite über die Mauer streichelte und dir klar wurde, dass du mindestens ein weiteres Jahr zweite Liga würdest spielen müssen?

Natürlich weißt du das alles noch! Und ging es nicht tiefer als jeder Sieg? Ist es nicht die Niederlage, die dich immer wieder antreibt, wieder und wieder hinzugehen, sie wettzumachen? Und wenn sie dann durch einen Sieg ausgelöscht, zu den Akten gelegt, assimiliert ist, ist dann die Freude darüber nicht doch bedeutend kürzer als die Melancholie nach dem Schmerz?

Die Niederlage – sie ist tragisch, sie ist oft vorhersehbar, sie ist vernichtend. Egal, ob sie knapp ist. Egal, ob sie moralisch ist. Egal, ob sie schwer ist. Egal, ob sie verdient oder gar unverdient ist.

Aber niemand nimmt sie dir je wieder weg! Sie gehört dir! Sie wird zu einem Teil von dir, mehr als jeder Sieg! Gegentor, Fehlpass, Innenpfosten, Abstieg, ihr gehört mir! Was wäre ich ohne euch? Cristiano Ronaldo? Matthias Sammer? Serena Williams?

Niederlagen – zeigt Demut, wenn sie kommen. Begrüßt sie! Heißt sie willkommen! Denn: Nicht jede Niederlage ist ein Desaster. Und dann ist da ja auch noch Dosenbier. Das dir hilft, wenn du es trinkst oder es in Wasserpfeifen füllst, um die wegzurauchen, die gerade deinen Weg kreuzen, die Kolonnen der Niederlage. Und wenn du sie dann tief und langsam einatmest, vergiss nie: Manchmal kann selbst der Tod ein Trost sein, wenn das Leben Karl-Heinz Feldkamp heißt.

Ballbesitz

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