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Am Rande des Wahnsinns

Harter Zweikampf im Mittelfeld, zwei Jungs – beide unwesentlich älter als acht Jahre – kommen nahezu zeitgleich an den Ball und bugsieren ihn über die Seitenlinie ins Aus. Es ist nicht auf den ersten Blick erkennbar, wer den Einwurf erhalten soll. Einen Schiedsrichter gibt es in dieser Altersklasse im Fußball-Verband Mittelrhein (und überhaupt in immer mehr Ligen der unteren Jugendklassen in Deutschland) seit einigen Jahren nicht mehr. Das ist sie also, die ideale Spielsituation für die „Fair Play Liga“, die im deutschen Jugendfußball greifen soll und auf die Idee eines im Kreis Aachen beheimateten Trainers namens Ralf Klohr zurückzuführen ist. Dahinter verbirgt sich ein eigentlich guter Gedanke, nämlich der, dass die jungen Kicker kontroverse Situationen selbst entscheiden sollen. Die ehrenwerte Idee: Der Spieler, der zuletzt am Ball war, gibt dies offen zu und damit den Einwurf an die gegnerische Mannschaft ab, die ihn somit ja auch verdient hat.

So weit, so gut. Die Krux: Es funktioniert nicht – weder an diesem Vormittag noch an irgendeinem anderen. Zum Wohle des ruhigen Schlafes aller Kinderpsychologen: Es sind nicht die Kinder, die es verbocken, denn die wären in der Tat sehr oft dazu in der Lage. Das Problem steht am Spielfeldrand oder – entsprechend der Vorgaben der „Fair Play Liga“ – ein paar Meter dahinter.

„Kevin! Das ist UNSER Ball! Lass dir nicht immer alles gefallen! Du musst dich auch mal durchsetzen!“ Laut und keine Fragen offen lassend ist der Ruf aus der Reihe der mitgereisten Väter und Opas, die viel zu viel Vergangenheit in Form sportlicher Niederlagen mit sich herumtragen und das gerne am Rande eines Aschenplatzes im dörflichen Nirgendwo über ihre Söhne oder Enkel kompensieren möchten. Scheiße ist das für die jungen Kicker. Denn wer wäre Kevin, wenn er jetzt seinem Vater widersprechen und den Ball in einer fast schon gandhiesken Geste an seinen Gegenspieler abgeben würde? Natürlich hält er diesem Druck nicht stand, denn er ist ja gerade einmal acht Jahre alt. Er zerrt seinem Gegenspieler den Ball aus der Hand und ruft, ganz im Sinne seines alten Herrn: „Wir haben Einwurf!“

Dass die Sache damit nicht geklärt ist, ist ebenfalls klar. Denn natürlich fühlt sich jetzt auch der Trainer von Kevins Gegnern zum Einschreiten berufen, und zwar im Stile der Trainer, die er im Fernsehen sieht und ganz offenbar bewundert. Verzerrtes Gesicht und theatralische Geste? Kein Thema! Schließlich wird schon gejubelt wie Kloppo – da kann man auch seine Meinung genauso kundtun wie der zweifache Dortmunder Meistertrainer. „Ihr müsst endlich mal lernen, euch zu wehren!“, schallt es über die gesamte Breite des Kleinfelds. Und schon reißt Kevins Gegenspieler sich den Ball wieder unter den Nagel. Die Einhaltung der Fairplayregeln ist damit in diesem Moment allerdings so weit entfernt wie der gesunde Menschenverstand von allen erwachsenen Beteiligten.

Es ist erschreckend, wenn nicht sogar verstörend, was im deutschen Fußball und seiner „Szene F“ bisweilen passiert. Der Autor dieser Zeilen ist nun seit 2011 in diesem Metier unterwegs, zunächst als Spielervater und mittlerweile als Trainer – Stoff für ganze Romane! In dieser „Szene F“ gibt es Trainer, die ihren Spielern in Orkanstärke Anweisungen entgegenpusten, die weder verständlich noch pädagogisch wertvoll sind. Es gibt Eltern, die ihre Kinder auf dem Weg in die Bundesliga wähnen und deshalb am Spielfeldrand des Wahnsinns vor nichts und niemanden zurückschrecken. Da werden Torbeteiligungen notiert, vermeintliche Konkurrenten des Sohnemannes schlechtgeredet oder Kindergeburtstage abgesagt, um Turniere zu spielen.

Wenn sich F-Jugend-Spielerväter über das Geländer am Spielfeldrand lehnen, erinnern sie nicht selten stark an eine besonders berüchtigte DDR-Eiskunstlauftrainerin. Auch deshalb florieren derzeit private Fußballschulen, die das wöchentliche Training optimieren sollen. So ganz vertraut man den fünf Bundesligaminuten des Orkan-Trainers eben doch nicht. Der Weg zur Bundesliga führt, so scheint es, über diesen Dorfplatz, und wer sich nicht durchsetzt, der kann später immerhin noch sein Studium mit dem Fußball zahlen, denn das (so viel ist klar) muss es mindestens sein.

Und an diesem Einwurf, den Kevin und sein Gegenspieler nun endlich eher rabiat und unter einer abwinkenden Geste beider Trainer ausgerangelt haben, entscheidet sich eben, wer das Zeug für die Jugendmannschaften der Profiklubs hat. Deren Scouts sind übrigens nicht selten zu Gast bei den Spielen und sorgen damit nur für noch mehr Konfusion bei Eltern und Trainern. „Schatz! Der Scout von Bayer Leverkusen ist da!“, raunt ein Vater einer Mutter zu und beginnt, leicht von einem Fuß auf den anderen zu wippen. „Das soll der Scout von Bayer Leverkusen sein?“ – „Ja, das ist er!“ Doch anstatt irgendjemanden anzusprechen, notiert sich der unscheinbare Rentner geheimnisvoll etwas und verschwindet still und leise. Ob jemals einer der hier Wartenden von ihm hört, weiß niemand. Darüber spricht man nicht in der Szene, zu viel Konkurrenz, zu viel Angriffsfläche.

Im nächsten Augenblick schießt Kevins Gegner ein Tor. Sein Trainer winkt ab. Er hat es geahnt: Beim Einwurf, da fing es schon an!

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