Читать книгу Die Mitternachtsuniversität - Saskia Burmeister - Страница 10

5. Morgengrauen

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Spike merkte, wie er der nächsten Ohnmacht schon nahe kam. Aufmunternd klopfte Hulk ihm erst auf die Schulter, grinste dann dämlich und hielt beide Daumen hoch. Derweil drehte sich im Kopf des Jungen alles. Was er bisher für real gehalten hatte, verschwamm vor seinem inneren Auge und das, was für ihn bis dato Fiktion war, nahm nun klare Strukturen an. Langsam aber sicher glaubte er tatsächlich, dass dies alles echt war, dass es Monster und Geister wirklich gab und dass ausgerechnet ihn eine alte Hexe auserwählt hatte, ihr Nachfolger zu werden. Mit logischen Argumentationen ließ sich all das Geschehene schließlich nicht erklären.

»Die große Macht, die dir gegeben wurde, ist unberechenbar wenn du nicht lernst, sie zu kontrollieren und es ist kaum möglich, dass dich ein Lehrer auf einer normalen Schule darüber unterweist. Das geht nur an diesem Ort. Daher musst du hier bleiben. Doch keine Bange, für alles wird gesorgt. Bei deiner Flucht aus dem Zimmer von Hulk hast du deinen Schülerausweis verloren. Unser Rattenfreund hat ihn freundlicherweise zu mir gebracht und so konnte ich meine kleinen grünen Agenten zu jener angegebenen Adresse aussenden. Meine Gremlin-Spione überwachen seither das Haus, um ungewünschte Aktivitäten zu unterbinden, wie das Rufen der Polizei oder anderer unnötiger Aufregung. Ich werde ihnen mitteilen, dass sie deine Habe konfiszieren und hierher bringen sollen. So schnell und so diskret wie möglich.«

Kurz hielt der Direktor inne, kniff die Augen zusammen und legte einen Finger an die Stirn.

»So, das wäre erledigt. Sie sind informiert. Wozu Telepathie doch immer wieder gut ist...«

»Die Gedankenübertragung werde ich auch bald lernen«, wisperte Hulk und schien ganz aufgeregt dabei, »mein Lehrer meinte, ich sei bald soweit ... vielleicht schon in ein oder zwei Jahrzehnten - er ist ein alter Witzbold.«

»Aber«, kam Spike nun ins Stammeln, »was ist mit meinem Vater? Wenn er von seiner Forschungsreise zurückkehrt, wird er mich vermissen und meine Ziehmutter ist sicher jetzt schon stinksauer. Wie spät ist es bereits? Bestimmt schon Mitternacht. Um halb zwölf hätte ich zu Hause sein sollen, die Frau tobt garantiert wie eine Höllenfurie.«

Leicht legte der farbige Teenager den Kopf schief, während der Direktor eine wegwerfende Handbewegung machte: »Lass dir darüber keine grauen Haare wachsen. Es wird für alles gesorgt. Meine Gremlins sind Profis. Sie werden die Dame beruhigen und mit tollen Erklärungen füttern. Ich für meinen Teil werde ihr noch ein amtlich zertifiziertes Dokument übersenden, nebst einem Brief. Ebenso wie deinem Vater. Darin wird stehen, dass die Mitternachtsuniversität für Hochbegabte sich ausgesprochen geehrt fühlt, dass du - Spike - an dieser Schule mit Internat fortan lernen wirst. Es wird alles als große Überraschung deinerseits ausgelegt. Alle sonst noch aufkommenden Fragen werde ich im Keim ersticken. Glaube mir, du bist nicht der erste Mensch, den ich in meiner Direktorenlaufbahn von der Bildfläche verschwinden habe lassen, und nie kam es zu irgendwelchen unerwünschten Nachforschungen. Wir haben sogar eine wundervolle Internet-Seite, auf der sich unsere Schule als staubtrockene Akademie für Hochbegabte ausgibt, die hier auf Lehramt, Bachelor, Master, zweites Staatexamen oder Diplom studieren. Wenn du dann auch noch regelmäßig deinen Lieben Briefe schreibst, ist das Alibi komplett. Du wirst sehen. Es gibt so viele Millionen von Menschen, wenn da ein paar verschwinden, spielt das nicht weiter die Violine.«

Statt endlich den Durchblick zu finden, wurde Spike nur noch verwirrter. Im Endeffekt hatte er aber keine Gegeneinwände. Gab es doch noch keine weiterführende Schule, eine Ausbildung oder dergleichen, die er konkret nach den Ferien hätte besuchen wollen. Zwar hatte er sich großflächig beworben, bisher aber keine Zusagen geerntet, sondern nur Absagebescheide.

»Und nun ist endlich Feierabend. Abmarsch, ihr beiden«, verlangte der Direktor. Spike lagen mit einem Mal unendlich viele Fragen auf der Zunge. Sie dem Direktor zu stellen wagte er aber nicht. Dessen Blick haftete auf dem Langen.

»Du wirst dich um den Neuzugang kümmern, Hulk. Schließlich hast du ihn hierher geschleppt. Außerdem ist in deinem Zimmer noch eine Koje frei. Gib Acht, dass er nicht des Nachts weiter durch die Gänge wandelt. Schließlich schiebt das Monster im Keller mächtig Kohldampf, seit es auf Diät ist. Ich verlasse mich darauf, dass du ihm den ein oder anderen Kniff beinbringst, um bei uns zu überleben, klar?«

»Ja, Sir!«, kam es zackig von Hulk, der zu salutieren versuchte, sich aber sehr ungeschickt dabei anstellte.

»Und jetzt raus!«, brummte der Schulleiter, während eine große Uhr im Gebäude begann, Mitternacht zu schlagen.

»Aye«, raunte Hulk und schob den immer noch verdatterten Spike aus der Tür, die sich knarrend hinter ihnen schloss. Die Ratte folgte ihnen in den Flur. Beim Zurückschauen hätte Spike schwören können, dass die steinernen Wächterfiguren neben den massiven Türflügeln eine andere Haltung eingenommen hatten als noch vorhin.

»Wir müssen ins fünfte Stockwerk hinunter. Dort befinden sich die Schlafsäle der Jungen. Die der Mädchen sind im vierten«, schwadronierte Hulk, während sie die Wendeltreppe herab stiegen. »Der Rektor residiert allein im Turmzimmer im sechsten Stock. Hinter seinem Arbeitszimmer befinden sich seine Gemächer.«

Auf der richtigen Etage angekommen, ging es wieder einen Gang entlang. Dieser kam Spike von seiner Flucht her etwas bekannt vor.

»Hier gibt es diverse Doppelzimmer und auch einige Einzelzimmer«, laberte Hulk in einem fort, während Spike ganz andere Fragen auf der Zunge lagen.

»Was hat der Direktor damit gemeint, dass er Leute verschwinden lässt?«

Kurz hielt Hulk an und legte einen Finger auf die Lippen, »Nun, tja...«

»Heißt das, dass hier Leute gefressen werden, für deren Verschwinden dann ein Grund gefunden werden muss?« Spike ballte die Fäuste und ihm wurde abwechselnd heiß und kalt.

Sein Gegenüber machte beschwichtigende Handbewegungen. »Nein, nein, Mann! So ist das nicht. Aber, wenn zum Beispiel so ein süßes blondes Mädchen plötzlich zum Vampir wird oder der Streber in Geographie entdeckt, dass sein Vater - von dem seine Mutter nie sprechen wollte - ein Dämon war und ihm plötzlich Pferdefüße und Flügel wachsen oder wenn das schüchterne Mauerblümchen von Gegenüber zum flammenden Racheengel mutiert - dann müssen sie zum Schutz ihrer Mitmenschen verschwinden und auch zu ihrem eigenen Wohl. Sie könnten jemanden verletzen oder sich selbst oder was noch schlimmer ist - sie könnten die Jäger auf sich aufmerksam machen und die sind gnadenlos. Menschen mögen das Fremde und Unbekannte nicht. Hier in der Uni haben dann alle ein Zuhause, die nicht mehr in die Welt der Normalsterblichen gehören. Die heißen bei uns übrigens ,Normalos‘, falls das Wort mal fallen sollte. Jetzt gecheckt?«

»So halbwegs«, log Spike und fasste sich an den Kopf, »und wie lange muss ich hier bleiben?«

»Öh-ha. Ich schätze bis du gelernt hast, deine extrem enormen magischen Kräfte zu gebrauchen. Das kann so zwischen 'nem halben und dreien liegen.«

»Zwischen einem halben Jahr oder drei Jahren?«, fuhr Spike zusammen.

»Nee, Mann. Zwischen einem halben Jahrhundert oder drei Jahrhunderten. Du weißt schon, die Magie, die bringt es voll. Mit der kannst du locker tausend Jahre leben. Oder waren es zehntausend?«

Grübelnd kratzte Hulk sich hinter dem rechten zugespitzten Ohr und Spike wurde ganz schwummerig zumute. Er biss sich auf die Zunge, um nicht noch mehr Fragen vom Stapel zu lassen, auf die er die unangenehme Wahrheit eigentlich gar nicht hören wollte. Gerade bogen sie in einen anderen Korridor ein, als Spike endlich eine Frage in den Sinn kam, die nicht gleich sein ganzes Weltbild erneut kollabieren ließ: »Du sagtest vorhin, du kennst den Labrador Retriever mit dem braunen Fell? Ich habe ihn vorhin hier gesehen, doch dann war er wieder verschwunden.«

Vor einer Zimmertür blieben sie just stehen und Hulk nickte eifrig. »Klar kenne ich den Vierbeiner. Wir zwei ... öhm ... sind krass beste Kumpel. Der kommt immer mal zu Besuch hier her und dann verschwindet er wieder ... vielleicht erscheint er ja wie ein Phantom gleich morgen zum Frühstück! Er ist voll der Checker! Der ist immer da, wo was Gutes zu Essen abfällt.«

Mit einem goldenen Schlüssel, dessen Ende geformt war wie ein Knochen, öffnete Hulk das Türschloss, das in Gestalt eines Totenschädels gefertigt war. Drinnen flackerten die Wachskerzen, die wie durch Magie gar nicht kleiner wurden. Spike ließ den Blick schweifen. Die Ratte huschte zwischen seinen Füßen hindurch und verschwand in einem unordentlich in die Ecke gefeuerten Wäschestapel, wobei sie den Jungs eine gute Nacht wünschte. Doch Spike ließ sich von dem sprechenden Nagetier nicht weiter beirren, dafür glotzte er auf das eigentümliche Bett, in dem er vorhin aufgewacht war. Von dem gab es in der diagonal gelegenen Ecke des Zimmers noch eine zweite Ausführung.

»Sind das echte Särge oder spinne ich doch nun endgültig?«, zauderte Spike ein wenig.

»Ja, Mann. Das ist ein Scherz des Direktors. Alle hier schlafen in großen, gepolsterten Särgen. Das findet er kreativ und passend. Hat halt auch nicht alle Birnen im Kronleuchter. Na dann, schlaf gut.«

Der Lange gähnte, verschwand kurz hinter einem Paravent und kam im weißen Nachthemd wieder hervor, das ihm nur bis zu den Knien reichte. Im Kontrast zu seiner dunklen Haut ließ ihn die helle spitzenbesetzte Robe ziemlich schaurig wirken. Dann packte er sich auch schon in den Sarg, in den er auf Grund seiner Länge nur ganz haarscharf passte, zog sich eine geblümte Decke über den Kopf und schon herrschte Grabesstille.

Nach und nach erloschen die Kerzen an den Wänden durch Geisterhand und es wurde düster im Zimmer. Nur mit viel Überwindung legte sich Spike in seine Koje. Der blutrote Samt war anschmiegsam, ohne Frage - aber auch schaurig zugleich.

»Was ich dir noch unbedingt sagen wollte, Mann«, drang es von dem anderen Bett herüber, »du bist echt der Mega-Ober-Knaller! Respekt! Ich dachte immer, ich sei der Meister des Chaos, aber das war nichts im Vergleich zu dem Tohuwabohu, das du heute angerichtet hast. Also echt, du fetzt! Du bist wohl ein Adrenalin-Junkie allererster Güte ... was du alles binnen keiner Stunde angestellt hast, dafür bräuchte ich Tage. Erst überträgt dir eine Hexe ihre Kräfte, dann nimmt du es mit dem fiesesten Jäger diesseits und jenseits des Meeres auf, danach mischt du die Schule kräftig auf, reitest auf einem Besen und legst dich auch erfolgreich mit dem Lupo an! Du rockst, in echt!«

Danach wurde es wieder still im Raum und Spike gab nur ein gekünsteltes kurzes Lachen von sich. So verrückt das alles auch war, empfand er doch einen gewissen Stolz. Nicht etwa wegen dem ganzen Zeug, das er angeblich getan hatte, sondern darauf, dass ihn jemand bewunderte. Das war noch nie zuvor geschehen, jedenfalls nicht, dass er sich erinnern konnte. Vielleicht hatte sein Vater schon einmal geäußert, er wäre stolz, als Spike wieder mit einem Sternchen in Mathe oder Physik nach Hause kam. Aber eine Klausur zu schreiben war doch etwas Anderes, als eine »Heldentat« zu begehen, die ein Fremder bewunderte. Das ging runter wie Öl, das musste Spike zugeben.

Etwas dümmlich grinste er vor sich hin und zog sich die Bettdecke bis unter das Kinn. Ihm war klar, dass er in diesem unheimlichen Gemäuer nie ein Auge zumachen konnte. Dennoch versuchte er es und siehe da, keine fünf Minuten später schlummerte er auch schon selig.

»Oh nein!«, hallte es durchs ganze Zimmer und Spike saß sofort senkrecht in seinem Sarg. Alles war hell erleuchtet und für einen Moment wusste er gar nicht, wo er war. Dann aber kam die Erinnerung zurück und er befürchtete sofort Schreckliches. Wurden sie angegriffen, hatte ihr letztes Stündlein geschlagen?

»Wir haben voll fett verpennt!«, reichlich kopflos stürzte Hulk durch das Zimmer, wühlte in Schränken und im Wäschehaufen, wobei er die schnarchende Ratte aufschreckte. »Wenn wir zu spät zum Unterricht kommen, droht uns die Folterkammer!«

»Im Ernst?«, Spike fing schon an mit den Zähnen zu klappern.

»Äh ... keine Ahnung. Weiß keiner, denn bisher waren immer alle pünktlich. Aber jetzt raus aus den Federn! Mit Frühstück ist leider Essig, Alter. Fettes Sorry!«

Weiter kramte Hulk hektisch herum, zog sich eine viel zu kurze Hochwasserhose an und hüllte seine hagere Gestalt in ein zerknittertes gelbes Hawaii-Hemd mit Blumenaufdruck.

»Was für ein Aufstand«, gähnte die Ratte und reckte sich, »dabei ist es doch immer knapp vor schnapp. Nicht wahr, Amigo? Pünktlichkeit ist nicht unsere Stärke.«

Während sie nun schwadronierte und der Junge weiter in einem anderen Wäschehaufen wühlte, konnte sich Spike nur wundern. Denn neben seinem eigentümlichen Bett hatte jemand eine Sporttasche, einen Rucksack und mehrere Jutebeutel deponiert. Da ihm die Taschen äußerst bekannt vorkamen, öffnete er eine davon und staunte noch mehr. Denn darin befanden sich all seine Habseligkeiten, wie er nach kurzer Inspektion feststellte. Angefangen von seinen Klamotten, über Bücher, Poster und sogar seine Spielkonsole nebst Flachbildfernseher, den man auch herangeschafft hatte.

»Wer ist denn der Typ?«, die Ratte war heran gehuscht und hatte eines der Poster, die berühmte Physiker zeigten, hervorgekramt. »Die Frisur ist ja der Hammer!«

»Das ist Albert Einstein«, ächzte Spike, »den kennt doch echt jeder.«

»Also ich nicht«, tat die Ratte kund, »du etwa, Großer?«

Statt zu antworten wedelte Hulk nur wild mit den Armen, »Das war kein Scherz, Alter! Wir müssen echt loswetzen und unser Klassenzimmer aufsuchen!«

Spike tat ihm den Gefallen und sputete sich. Doch kaum hatte er das befleckte Hemd gegen ein frisches getauscht, packte der Lange ihn auch schon am Arm und zerrte ihn aus dem Zimmer. Dazu, den Rest seiner Garderobe zu wechseln, kam Spike nicht mehr.

»Und jetzt legt mal flott einen Zahn zu!«, kam es von der Ratte, die gut reden hatte. Schließlich hockte sie auf dem Kopf von Hulk, inmitten des Haarwustes. Im wilden Zickzackkurs ging es durch Flure und um Biegungen herum, in ein anderes Stockwerk hinab und immer weiter durch verschachtelte Gänge.

Spike konnte nur staunen, wie es möglich war, sich hier zu orientieren. Er gab jedenfalls sein Bestes, um Hulk nicht aus den Augen zu verlieren. Doch dessen Beine waren wesentlich länger und der Abstand zwischen ihnen wurde immer größer. Am Ende dieses Flures bog der Lange dann nach links. Keuchend versuchte Spike aufzuschließen, als ein Löwe ohne Mähne an ihm vorbei schoss. Mit großen Augen starrte er das Tier an.

»Na dann bis später, lahme Schnecke!«, giggelte die Löwin mit hoher Mädchenstimme und bog um die nächste Ecke.

Die Frechheit beflügelte Spike immerhin etwas und er legte einen Zahn zu, fegte um die Kurve und stieß frontal mit einem dahin schlurfenden Riesen zusammen.

»He!«, grunzte der zweieinhalb Meter große Typ. Den kannte Spike schon von gestern. Schließlich war er mit seinem einen Auge unverkennbar.

»Wer eigentlich du sein?«, grunzte der Zyklop. Spike, der ziemlich unsanft auf seinem Allerwertesten gelandet war, richtete sich gerade leise schimpfend wieder auf. Von dem Löwen oder von Hulk war weit und breit nichts zu sehen.

»Warum du immer rennen als sein Teufel hinter dich her?«, schnauzte ihn der Riese plötzlich an, hielt dann aber inne. »Du sein Mensch, oder? Aber die hier nichts haben verloren ... die einzigen Menschen die kommen her sein Jäger - du sein einer?«

Dabei schreckte der Zyklop, mit den vorstehenden Schneidezähnen, zusammen und wich rückwärts aus. Einen Moment lang konnte sich Spike nur wundern über das Gebaren des eben noch so fürchterlichen Unholds, der nun zu zittern begann. Es war genau dieser Moment, in dem Spike klar wurde, dass er hier sein konnte, wer er wollte. Der Direktor hatte es gestern unmissverständlich formuliert. Für Spike würde hier ein ganz neues Leben beginnen. Keiner hier kannte seine Vergangenheit und wusste, dass er der Oberloser seiner Schule war und falsche Freunde ihn mit jedem noch so dämlichen Streich vorführen konnten. Hier, an dieser absolut schrägen Universität, konnte Spike ganz neu anfangen. Er musste nicht länger der Fußabtreter sein und sich alles gefallen lassen. Also stellte er sich breitbeinig hin, machte das finsterste Gesicht, das er auf Lager hatte und stierte dem Zyklop in das einzelne Auge: »Ein Jäger? Natürlich, was denn sonst! Ich bin der fieseste und gemeinste Jäger von allen!«

Jetzt begann der Zyklop erst richtig zu zittern, kaute an seinen Fingernägeln und seine Knie schlotterten.

»Mach dich vom Acker«, Spike versuchte auch seine Stimme zu senken, damit sie möglichst bedrohlich klang, »sonst mache ich dich ja sowas von platt - mittels meiner ... Dings ... meiner Super-Duper-Mega-Monster-Kaltma- cher-Flinte! Das Neueste was es am Markt gibt! Die verschießt Kugeln mit Weihwasser, Myrrhe, poliertem Silber, Brunnenkresse, Weihrauch und solchem Zeug! Zwing mich nicht, gewalttätig zu werden!«

»Wow, ein Jäger«, kam es von hinten, während sich der Zyklop fast in den Lendenschurz nässte. »Was hast du denn schon so alles erlegt, großer Jäger?«

Irgendwie kam Spike die Stimme bekannt vor. Er wollte jedoch nicht über die Schulter schielen, um zu sehen, wer von den ganzen unheimlichen Gestalten sich da angeschlichen hatte. Stattdessen spielte er lieber seine Rolle weiter, die ihm außerordentlich gut gefiel. Also legte er sich so richtig ins Zeug.

»Was ich alles schon erledigt habe? Tja ... so einiges! Eine Hydra, eine Legion von Zombies, ein paar böse Elfen. Ja in echt, deren Köpfe hängen bei mir alle über dem Kamin. Dazu kommen dann noch Mutanten, Sockenfresser, Cyborgs, Mikrowellenmonster - und der Yeti.« Bei dem Stichwort nahm der Zyklop endgültig schreiend Reißaus, jagte den Flur entlang um die nächste Kurve herum und verschwand aus Spikes Blickfeld.

»Der Yeti?«, höhnte die Stimme hinter ihm, »das Gehirn der Zyklopen ist wirklich nur groß wie eine Walnuss. Die lassen sich jeden Bären aufbinden. Aber mal ernsthaft: den Yeti gibt es nur im Märchen, Kleiner.«

Nun reizte es Spike doch zu erfahren, wer da so altklug daher redete. Er drehte sich ein Stück und bereute es sogleich. Dort hinter ihm blitzten viele scharfe Zähne, die zu einem enorm großen weißen Wolf mit zwei unterschiedlich gefärbten Augen gehörten.

»Wenn du schon schwindelst, dann recherchier vorher ordentlicher«, riet das Raubtier, zwinkerte und wetzte weiter. Auch es verschwand hinter der nächsten Ecke.

»Klugschwätzer«, brabbelte Spike in seinen nicht vorhandenen Bart und schlurfte los. Er musste unbedingt Hulk wiederfinden und die Klasse, zu der sie unterwegs waren.

»Gleich am ersten Tag schon zu spät, wie?«, wieder hatte sich wer von hinten angeschlichen. Diesmal war es niemand geringeres als der gut frisierte Direktor. Der schob Spike auch gleich vor sich her in den nächsten Flur und dann durch eine Tür in einen Raum, der eindeutig ein Klassenzimmer war. Die Schreibpulte standen jeweils zu zweit in mehreren Reihen. Von den Reihen gab es wiederum zwei, jeweils eine rechts und eine links vom zentralen Gang, der zum Lehrerpult führte.

Hinter sich schloss der Direktor die Tür und Spike ließ den Blick schweifen. Alle Plätze waren besetzt und hier wimmelte es nur so von Klauen, Hörnern und spitzten Raubtierzähnen. Es hockten die eigentümlichsten Gestalten in diesem Saal. Auch der verschreckte Zyklop war darunter, ebenso wie das vorlaute Mädchen mit den Zöpfen, das vorhin als Löwe an ihm vorbei gestürzt war. Auch die drei Grazien mit den schwarzen Haaren und das Gothic- Mädchen mit den Schmetterlingsflügeln waren anwesend. Ganz vorne saß sogar die schlanke Teenagerin mit den langen blonden Haaren, die sich gestern als Austauschschülerin ausgegeben hatte.

Daneben kauerten Gestalten an den Schreibpulten, die direkt dem Höllenschlund entsprungen waren. Andere sahen auf den ersten Blick fast wie normale Menschen aus, waren aber eindeutig durchscheinend wie Geister. Auch die Spukgestalt, die Spike gestern gedroht hatte, er müsse bald sterben, war darunter.

Ein rothäutiger weiblicher Teufel mit Pferdefuß und Fledermausflügeln grinste ihn frech an. Sie war höchstens siebzehn Jahre alt. Neben ihr saß eine etwa gleichaltrige Schönheit. Ein Wesen, wie eine lebendig gewordene Statue der Anmut. Die ebenmäßige Haut hatte einen goldenen Glanz und dem Rücken der zarten Kreatur entsprangen große gefiederte Schwingen. Erst auf den zweiten Blick und an dem Kinnbärtchen erkannte Spike, dass es sich um keine junge Dame, sondern einen männlichen Engel handelte. Direkt hinter jenem hockte Hulk mit der Ratte auf der Schulter und lächelte entschuldigend: »Fettes Sorry, Mann.«

Der Platz neben Hulk war leider auch schon besetzt und zwar mit einer halben Portion. Das grünhäutige Wesen hatte riesige spitz zulaufende Segelohren und schien keinen Meter hoch zu sein.

»Nun setz dich endlich, damit der Unterricht beginnen kann«, der Direktor klopfte Spike aufmunternd auf die Schulter und begab sich dann nach vorne. Der Junge wiederum hatte den einzigen freien Platz entdeckt. Langsam schlich er an finsteren Gestalten vorbei, die ihn höhnisch angrinsten. Ihm kam es aber so vor, als wären sie viel mehr hungrig als gehässig. Besonders ein Vierergespann fiel ihm ins Auge. Deren Haut war ungesund grünblau und auch violett. Stellenweise sogar gelb, als seien sie mit hunderten von Hämatomen übersät. Die Zähne standen ihnen schief im Mund und einer trug eine Augenklappe. Alle hatten starke, gelblich gefärbte Krallen an den dürren Fingern. Die Wangen waren eingefallen und die ledrige Haut hing ihnen teilweise vom Knochen herab. Ein Schauer nach dem anderen jagte Spike über den Rücken. Am ehesten konnte er sie mit den Zombies aus seinem absoluten Lieblingsspiel vergleichen.

Die Abscheu, die Spike bei diesen grotesken Figuren empfand, war aber noch gar nichts gegen den Schrecken, als er endlich an dem freien Platz anlangte. Denn nun erst wurde er gewahr, neben wem er da sitzen müsse. Es war nicht etwa ein Dämon mit Hauern und Adlerkrallen oder ein vielköpfiges Monster. Nein, es war der kreidebleiche Typ von gestern. Jener mit der Glatze, der sich so undankbar gezeigt hatte.

Die haarfeinen, weiß schimmernden Augenbrauen hatte der Teenager schon hochgezogen, als Spike sich überwand und auf Ermahnen seitens des Direktors endlich auf dem freien Stuhl Platz nahm. Mit seinem einen grünen Auge und dem anderen, das haselnussbraun war, sah der Kahle auf Spike herab. Das war kein Problem, da er mit Sicherheit mehr als einen Kopf größer war als Spike. Jener schätzte den so genannten Lupo auf einen Meter und achtzig.

»Na, gut geschlafen, Lockenköpfchen?«, knurrte der Typ. »Hätte nicht geglaubt, dir noch einmal zu begegnen.

Gestern dachte ich, du hättest dich einfach nur verlaufen. Aber scheinbar bist du der Neue in der Runde.«

Schon schnellte Spikes Finger in die Höhe und der Direktor schaute auf, gerade hatte er einen Monolog in Sachen Disziplin, Selbstbeherrschung, Ordnung und Körperpflege gehalten.

»Ja, was ist, Neuer - ich meine Spike?«

Zunächst konnte der gar nicht seine Frage stellen, da mindestens die halbe Klasse in schallendes Gelächter ausgebrochen war. Die anderen Anwesenden grinsten blöde oder giggelten leise hinter vorgehaltener Hand. Offenbar war hier niemand der Meinung, dass dieser Name zu einem keinen, etwas dicklichen Jungen mit rotem Lockenkopf passte. Erst als der Lehrer energisch auf sein Pult klopfte, wurde es wieder einigermaßen ruhig.

»Was wolltest du fragen?«

»Muss ich hier sitzen?«, kam Spike trotz schlotternder Stimme auf den Punkt. »Ich würde gerne noch weiter leben.«

Damit sorgte er für einen neuen Anflug von Heiterkeit. Bedauernd zuckte der Direktor mit den Schultern. Ein anderer Platz war nicht frei. Missmutig stierte Spike vor sich hin. Im ganzen Gelächter fielen Worte wie »Feigling«, »Memme«, »Hasenfuß« und »Hosenscheißer«. Das erinnerte ihn extrem an seine eigene Klasse, in der er noch bis vor ein paar Wochen gehockt hatte. Da war auch niemand nett zu ihm gewesen und alle hatten ihn ausgelacht. Die einzigen zwei, die das nicht brüllend komisch fanden waren Hulk, der bedauernd guckte und ausgerechnet der unheimliche Typ neben Spike. Der schaute noch immer von oben herab.

»Wie ist es nur möglich, dass ich überhaupt diese Nacht überlebt habe, ohne dass mich eines dieser Monster angeknabbert hat?«, fragte sich Spike halblaut und doch hörte es offenbar jeder Anwesende. Sofort brach das Gelächter ab. Manch einer fing an zu schmollen. Die vier Typen, deren Haut aussah, als wäre sie mit einem blauen Fleck neben dem anderen übersät, schoben sogar bockig die Unterlippen vor. Wie es schien, hatte Spike da gerade kein Kompliment vom Stapel gelassen.

»Das passiert euch nur zu Recht«, räusperte sich hingegen der Direktor.

»Aber wir sind keine Ungeheuer!«, heulte der Zyklop los wie ein Schlosshund.

»Und ich bin auch ganz nett!«, kam es ausgerechnet aus dem Mund einer Kreatur, die wahrhaftig aussah wie das Monster, das Spike sich immer unter der Treppe vorgestellt hatte: mit zotteligem Fell, das alles überwucherte. Aus dem haarigen Gesicht lugten nur gut sichtbar mehrere Hauer heraus. Die langen Arme endeten in sechs spitzen Katzenkrallen. Das Sumpfungeheuer, das neben dem Ungetüm saß, versuchte es zu trösten. Es selbst war übersät mit Algen, Schlick und Seepocken.

»Wir tun doch gar nix«, fauchte auch der kleinste der vier Zombies. »Das ist ja so gemein, dass er das sagt und nicht von der Schule fliegt!«

Nun fasste sich Spike erst einmal verdattert an den Kopf, während der Lehrer energisch um Ruhe bat und sich die versammelte Mannschaft auch tatsächlich beherrschte.

»Was erwartet ihr denn, wenn ihr einem neuen Schüler solch einen Empfang bereitet?«, tadelte der geschniegelte Direktor. »Aber zu deiner Beruhigung sei eines gesagt, Spike. Es ist das erste Gebot dieser Schule, dass sich die Schüler nicht gegenseitig auffressen dürfen.« Das beruhigte den Jungen nun nicht wirklich. Noch immer reichlich verängstigt schielte Spike von links nach rechts und wieder zurück.

»Keine Sorge«, raunte da sein Sitznachbar, »die Viecher hier stehen nicht so auf Fastfood. Wenn die schon jagen gehen, dann suchen sie eine Herausforderung, alles klar?«

Das brachte die gute Laune der Schüler wieder zurück und sogar der Zyklop, der so dicht am Wasser gebaut hatte, hörte auf zu flennen. Derweil räusperte sich der Direktor abermals und begann dann seinen heutigen Vortrag mit einem langen Exkurs über Tarnung und Täuschung im Tierreich, wobei er über die Anpassungsfähigkeit von Chamäleons schwadronierte, dann die Mechanismen des ,sich tot stellen und auch so riechen‘ beim Opossum erörterte und schließlich vollkommen abschweifte und über Birkenspanner auf rußgeschwärzten Birken salbaderte und über Heuschrecken, die sich als Blätter oder Äste ausgaben, ebenso wie über Spinnen, welche die Farbe jener Blüten aufwiesen, auf welchen sie ihre Opfer belauerten.

Die Mitternachtsuniversität

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