Читать книгу Die Mitternachtsuniversität - Saskia Burmeister - Страница 6
1. Eine seltsame Begegnung
Оглавление»Loser!«, tönte es weithin hörbar über die Straße.
Mit hängenden Schultern schob der Junge, dem das galt, sein Fahrrad ein Stück jenen Hügel hinauf, den die Mauern seiner Heimatstadt umschlossen.
»Und, ’nen schönen Ausflug gehabt, Whity?«, unkten die drei Spaßvögel, die ihn zuvor zum anderen Ende der Stadt bestellt, aber dort natürlich nicht auf ihn gewartet hatten.
Niedergeschlagen schaute er zu Boden. Wieder einmal hatte er sich von den drei vorführen lassen. Das nagte wie üblich an seinem Selbstvertrauen und seiner Hoffnung, sie würden eines Tages wirklich seine Kumpel sein. Mit ersterem war es darüber hinaus auch nicht besonders weit her. Zwar hatte der Junge wenige Tage zuvor sein Abschlusszeugnis der zehnten Klasse erhalten und war schon fast sechzehn Jahre alt, dennoch schätzten ihn Fremde immer Jahre jünger ein. Darüber hinaus war er ziemlich unscheinbar, mit seiner dunkel umrandeten Brille auf der Nase, deren Gläser seine unspektakulären graubraungrünen Augen auch noch betonten. Das alles zusammen bescherte ihm nur ein Minimum an Selbstvertrauen.
Dass Whity kein Trendsetter war, erkannte man aber nicht nur an seiner Brille. Passend zu jenem unmodischen Utensil trug er ein ausgewaschenes weißes Hemd, eine zerschlissene Jeans und einen Pullunder, der aber auch nicht verbergen konnte, dass er zu leichter Pummeligkeit neigte. Allein seine wahrlich blasse Haut, die nicht einmal ein heißer Sommer wie dieser mit all seinem Sonnenschein vertreiben konnte, stach schon von weitem sichtbar hervor. Dazu hatte ihn die Natur auch noch mit rotblonden Naturlocken auf seinem Kopf schikaniert, wobei man seine Frisur zu seinem Verdruss nur allzu oft mit der eines Putten-Engelchens verglich.
»Hey, Whity! Wie kann man nur so blöd sein?«, schallte es aus dem Mund von einem der so genannten Freunde hinter dem Jungen her. »Es ist viel zu leicht, dich zu verarschen!«
Missmutig schob der Junge die Unterlippe vor, schaute aber nicht zurück. Stattdessen schob er sein Fahrrad so schnell als möglich um die nächste Kurve der gewundenen Straße. Leise murmelte er dabei nur etwas zu sich selbst.
»Mein Name ist nicht Whity, sondern Spike, ihr Pappnasen! Spike Abendrot!«
Wie zur Bestätigung kläffte es dicht neben ihm. Ein leichter Schreck durchfuhr den Jungen, der ganz in Gedanken war. Schwanzwedelnd stand ein schokoladenbrauner Labrador Retriever hinter der Straßenbiegung. Das Maul halb geöffnet, ließ der Hund die lange Zunge herabbaumeln.
»Oh, du bist es nur«, Spike atmete auf und begann den Vierbeiner hinter den Ohren zu kraulen, der vor Freude Bocksprünge vollführte. Dessen freudige Aufregung legte sich dadurch wieder, mit der sich verjüngenden Otterrute wedelte er aber immer noch unaufhörlich. Beruhigend klopfte Spike dem Hund gegen die Flanke. Dieser himmelte ihn mit seinen hellgrauen Augen an. Für einen Labrador Retriever, mit dessen eher kompaktem Rassestandard, war er ungewöhnlich schlank und feingliedrig gebaut. Dazu war dieser Hund auch noch wesentlich größer gewachsen als ein gewöhnlicher Labrador Retriever und kam von der Länge einer Deutschen Dogge schon recht nahe.
»Wie kommt es nur, dass du immer dort auftauchst, wo ich gerade bin?«, fragte sich Spike halblaut und schob sein Fahrrad auf den Bürgersteig, da gerade ein Auto nahte. Der Hund folgte ihm dabei auf dem Fuße und hockte sich dann auf seine Hinterläufe. Er legte den Kopf leicht schief und machte eine Unschuldsmiene. Ein Halsband oder ein ähnliches offensichtliches Identifikationsmerkmal besaß der schokoladenbraune Vierbeiner leider nicht.
»Du bist wie ein Phantom. Tauchst auf und verschwindest wieder und nirgends gibt es einen Hinweis darauf, dass man dich vermisst. Keine Aushänge an Straßenlaternen und auch keine Anzeige in der Wochenendzeitung. Das macht mir wirklich Kopfzerbrechen. So ein braver Hund muss doch irgendwo vermisst werden? Habe ich nicht recht, Fangzahn?«
Wie zur Entschuldigung für die Umstände hielt ihm der Hund daraufhin die Kehle hin und ließ sich daran kraulen. Wie er die Schnauze so hoch reckte, wurden seine extrem langen oberen Eckzähne sichtbar, die auch bei geschlossenem Maul unter den Lefzen hervor lugten und ihm den Spitznamen ,Fangzahn‘ bei Spike eingebracht hatten.
»Na, hast du dir eine Freundin angelacht?«, es nahte die Dreierbande der Spitzbuben, angeführt vom Chef, dem größten der Kohorte. Die anderen beiden Jungs lachten dämlich, hörten damit aber auf, als sich der schokoladenbraune Hund ruckartig umdrehte und sich erhob. Seine Schulterhöhe lag bei bald neunzig Zentimetern. Das machte augenblicklich Eindruck bei den drei Dummschwätzern.
»Ist das ne‘ Dogge?«, fragte einer der Jungs.
»Oder doch eine Kuh?«, blödelte der Dritte im Bunde.
Nun machte Spike ein wirklich sauertöpfisches Gesicht. Es reichte doch völlig, wenn sie ihn andauernd aufzogen, als Brillenschlange oder Klops bezeichneten. Warum mussten sie nun auch noch zu dem Hund gemein sein?
»Lasst ihn in Ruhe«, murmelte Spike so entschlossen, wie er es konnte. Dennoch klang es eher wie das Piepsen einer Maus.
»Hast du was gesagt, Kurzer?«, sprang der Boss gleich darauf an. »Oder hat nur ein Floh genießt?«
»Vielleicht hat auch nur der blöde Köter gehustet, was Whity?«
»Wenn du schon was zu sagen hast, dann sag es uns ins Gesicht!«, verlangte der dritte Bengel. Leise vor sich hin brummend schaute der Hund von ihm zu Spike und wieder zurück. Letzterer war inzwischen so angesäuert, dass er glatt seine sonstige Zurückhaltung vergaß und sich nicht länger seinen kühlen Kopf bewahrte.
»Idioten seid ihr, das wollte ich euch schon lange sagen!«, platzte es aus Spike heraus. Wie zur Bestätigung gab der Labrador Retriever ein Schnauben von sich.
»Wie war das?«, wutentbrannt ballte der Chef die Faust, auch seine Kameraden wollten das so einfach nicht auf sich sitzen lassen. Etwas von einer fetten Brillenschlange im Karopullunder murmelnd kamen sie einen Schritt auf Spike zu, dem die Knie längst ganz fürchterlich schlotterten. Schon bereute er es, einmal seine Ruhe vergessen und nicht alles tonlos in sich hinein gefressen zu haben. Das Brummen in der Kehle des Hundes wuchs sich unterdessen zu einem Grollen und Knurren aus, dann fletschte der Labrador die sagenhaft langen und scharfen Zähne. Augenblicklich verharrten die drei Jungs, machten dann gar einen Schritt rückwärts. Ruckartig sprang der Labrador vor und bellte wie ein dreiköpfiger Zerberus. Schreiend wie kleine Mädchen suchte die Bande das Weite. Vier Bocksprünge setzte der Hund ihnen nach.
»Halt uns diese Mutation vom Hals!«, jaulte der Anführer, der den Atem des Hundes schon im Nacken spürte.
»Wir ärgern dich auch nie wieder!«, fielen die anderen zwei ein. Das entlockte Spike ein Grinsen und er klatschte kurz in die Hände. Sofort hielt der Hund inne, machte kehrt, setzte ein Grinsen auf und holte sich schwanzwedelnd seine nächste Portion an Streicheleinheiten.
»Das hast du aber fein gemacht!«, lobte Spike den haarigen Kumpel überschwänglich. Dieser kläffte leise, sprang kurz hoch und leckte dem Jungen über die Wange. Das fand Spike nun nicht so wundervoll und schüttelte sich: »Igitt, giftige Hundebazillen!«
Sofort ließ der Hund von ihm ab, setzte ein reichlich verdutztes Gesicht auf, hockte sich auf die Hinterbeine und legte den Kopf schief. Ein Fiepen entwich ihm. Dabei ließ er auch die ohnehin schon langen Schlappohren noch weiter hängen.
Mit seinem linken Ärmel wischte sich der Junge gerade das besabberte Gesicht trocken, hielt dann aber inne. Ein Anflug von Traurigkeit lag im Blick des Vierbeiners. Als hätte dieser jedes Wort verstanden.
»Habe ich dich etwa beleidigt?«, murmelte Spike in leicht-geistiger Abwesenheit. »Kein Wunder dass ich keine Freunde habe, ... da rettest du mich vor diesen Blödmännern und so danke ich es dir.«
Da horchte der Vierbeiner nun wieder auf und zog die Lefzen zu einem Grinsen hoch. Die Rute, die einen kurzen Augenblick still gestanden hatte, wedelte gleich wieder los wie der überspannte Zeiger eines Pendels. Kläffend sprang er auf alle vier Pfoten und wetzte zur anderen Seite der Straße. Dort ragte steil die Wand des steinernen Hügels auf. In einer Nische hatte der Hund vorhin gehockt, als Spike ihm unerwartet begegnete. Kurz steckte der Labrador Retriever seinen Kopf in die Spalte im Stein, zog etwas heraus und kam zurück über die Straße, welche zu dieser Tageszeit wenig befahren war.
Verwundert schaute sich Spike an, was sein vierbeiniger Kumpel da anschleppte: ein geflochtenes Seil. Langsam, aber sicher wurde der Junge nicht mehr schlau aus dem schokoladenbraunen Hund. Seit einigen Wochen begegnete er diesem immer wieder. Wohin er auch ging, war der Vierbeiner nicht weit. Manchmal hatte er sogar vor der Schule gewartet und seit die Sommerferien begannen, war der Vierbeiner ein ums andere Mal auch um das Haus herumgeschlichen, in dem Spike mit seiner Stiefmutter wohnte. Sein Vater, ein Archäologe, war zurzeit wieder auf einer mehrmonatigen Forschungsreise.
»Was soll ich denn damit machen, Fangzahn?«, fragte sich Spike, der sich eigentlich auf sein Fahrrad schwingen und weiter radeln wollte. Nicht, dass er etwas Wichtiges vorgehabt hätte. Ihm war nur mulmig bei dem Gedanken, dass das Trio vielleicht zurückkehren und auf eine Revanche sinnen könnte.
Leicht legte der große schlanke Hund wieder den Kopf schief, dann schien ihm ein Licht aufzugehen und er wetzte drei Mal um das Fahrrad herum, schnell wie der Blitz. Sodann hielt er Spike wieder das eine Ende des Seils hin. Dieser nahm es seinem Kumpel aus der Schnauze.
»Soll ich es etwa an meinem Fahrrad fest machen?«, fragte sich der Junge und erntete ein bejahendes Kläffen. Also kam er dem nach. »Und was jetzt?« Ein schelmischer Ausdruck breitete sich über das Hundegesicht aus und als das Seil am Lenker befestigt war, nahm der Kläffer das andere Ende in die Schnauze. Spike, der schon auf dem Fahrradsitz hockte, hatte nicht lange Gelegenheit sich zu wundern, denn schon sauste der Vierbeiner los, das Seil spannte sich und das Fahrrad setzte sich in Bewegung.
In wildem Galopp ging es um die nächste Biegung der gewundenen Straße, dann ein Stück den Berg hinauf und anschließend fast wie in einer Achterbahn wieder bergab. Was Spike übrig blieb, war nichts weiter, als sich schreiend am Lenker festzuklammern. Immer schneller wurde das Fahrrad. Zwei Passantinnen mussten zur Seite springen, um nicht mitgenommen zu werden. Wie die Rohrspatzen brüllten sie dem Gespann etwas von Chaoten und Rowdies nach.
Die Möglichkeit zu bremsen, war in jenem Moment nicht gegeben, da es steil bergab ging. Der Hund lief zu dieser Zeit neben dem Fahrrad her, gab aber keine Anzeichen, schlapp zu machen. So schnell hatte Spike noch nicht einmal einen Windhund im Fernsehen galoppieren sehen. Ein sehr mulmiges Gefühl machte sich in dem Jungen breit, doch da hatten die zwei schon den Fuß des Hügels erreicht. Nun führte die Straße schnurgeradeaus und der Labrador Retriever nahm wieder seine Position als »Schlittenhund« ein und zerrte das Fahrrad mit enormer Geschwindigkeit weiter.
»Nun halt doch mal an, wo willst du überhaupt hin?«, brüllte Spike, musste dann aber abbrechen und sich aufs Festhalten konzentrieren. Nach einer kurzen geraden Strecke wetzte der Hund nach rechts und verließ den Bürgersteig. Schleppend überwand das Fahrrad die Bordsteinkannte und Spike wurde reichlich durchgeschüttelt. Von rechts nahte hupend ein Auto, Spike verfiel in lautes Geschrei, doch der Hund stoppte nicht, sondern beschleunigte sogar noch mehr. Er schnitt das Auto mit dem schimpfenden Fahrer, der die Bremsen quietschen ließ und bog in eine kleinere Straße ein, die geradewegs in eine Wendeschleifen-Sackgasse führte.
»Jetzt halt doch mal an!«, brüllte der Junge und tatsächlich tat der Hund ihm endlich den Gefallen. Er ließ das Seil los, Spike bremste und kam in der Wendeschleife zum Stehen. Vor ihm lag die Uferpromenade, an welcher die Straße endete. Nach rechts und links erstreckte sich die geflieste Promenade bis zum Horizont. Dahinter gab es einen kurzen, mit schwarzen Steinen gespickten Uferstreifen und wiederum dahinter lag das weite, unendlich wirkende Meer. Starker salziger Wind wehte, große Wellen brandeten an die Felsen und die Gischt wirbelte umher. Weit draußen vor der Küste ragte eine kleine Felseninsel aus den Wogen und zur Linken von Spike mündete ein Flusslauf ins Meer. Eine Brücke führte ganz in der Nähe über das Fließgewässer hinweg.
Keuchend schnappte der Junge nach Luft, zerrte das Fahrrad auf den Gehsteig und ließ es scheppernd fallen. Leises Winseln kam von dem Labrador und Spike sah ihn vorwurfsvoll an.
»Wolltest du mich vielleicht umbringen, mein Freund?«
Der braune Hund gab ein schnaubendes Geräusch von sich, schüttelte sich heftig und stieß den Kopf dann dem Jungen leicht in die Seite; jener stolperte einen Schritt nach hinten. Leises Brummen kam vom Labrador, dann warf er wieder den Kopf herum, als sei er innerlich angespannt und ruhelos. Einmal jagte der Hund im Kreis herum, hinter seiner Rute her, brach dann diese kreisende Bewegung ab und wetzte in Richtung der Brücke zur Linken davon. Aus dem Blickfeld des Jungen verschwand er, als er hinter eines der in der Sackgasse geparkten Autos hetzte.
Verwirrt fasste sich Spike an den Kopf. Was war hier nur los? Von rechts nahte eine große, breitschultrige Männergestalt im Trenchcoat. Die braune Schiebermütze tief ins Gesicht gezogen. Schnell entfernte sich der Mann in Richtung der Flussmündung. Vor Schreck über das plötzliche Auftauchen der düsteren Gestalt, machte der Junge einen Ausfallschritt nach hinten und stieß mit der hüfthohen Mauer zusammen, welche die Promenade vom steinigen Strand abschirmte.
»Brrr«, der Junge schüttelte sich leicht um wieder zur Besinnung zu kommen. Hinter ihm färbte sich der Horizont schon orangerot mit der untergehenden Sonne. Ein leises Zischen holte ihn gänzlich ins Jetzt zurück. Sein Blick fiel zu seiner Rechten, wo auf der Mauer eine alte Bekannte hockte: eine in die Jahre gekommene dreifarbige Katze mit strahlend bernsteinfarbenen Augen. Spike kannte sie schon sein Leben lang.
»Dich habe ich ja ewig nicht mehr gesehen«, fiel es Spike ein und er hockte sich auch auf die Mauer. Es war unterdessen ziemlich frisch durch den brausenden Wind geworden. Weit und breit ging niemand an der Promenade spazieren. Leicht legte die weiße Katze mit den schwarzen und braunen Flecken den Kopf schief und ließ sich geduldig hinter einem Ohr kraulen.
»Was für ein verrückter Tag«, klagte Spike ihr sein Leid und ein leises Schnurren kam aus ihrer Kehle. Sie blieb auch entspannt, als er von dem scheinbar übergeschnappten Hund erzählte und von der tollkühnen Fahrt, die ihn hierher brachte. Sie blieb so gelassen wie eh und je, denn bevor der Labrador Retriever hier aufgetaucht war, hatte sie schon ein ums andere Mal als Kummerkasten hergehalten und sich stets mit einer Engelsgeduld angehört, was Spike auf der Seele lag: Waren es nun Klassenkameraden, die ihn wegen seiner Brille oder seinem leichten Übergewicht foppten oder Sportlehrer, die ihn wegen seiner zwei linken Füße verlachten. Spike hatte es nie in seinem Leben besonders leicht gehabt. Sein Vater war meistens auf Reisen und mit seiner Stiefmutter kam er auch nicht besonders gut zurecht. Meist tat er einfach, was sie in Punkto Hausarbeit von ihm verlangte und ging ihr ansonsten aus dem Wege oder schwieg sie an.
Dass Spike ansonsten auch eher durchschnittlich war, hatte er der Katze längst anvertraut. Er war in vielen Fächern eher schlecht, vor allem was die Sprachen betraf. Nur in den Naturwissenschaften und der Mathematik brillierte er. Sein einziges Hobby waren Videospiele. Dafür schloss er sich oft stundenlang in sein Zimmer im Dachgeschoss ein - wenn er nicht gerade von falschen Freunden ans andere Ende der Kleinstadt bestellt wurde.
Wie Spike so ins Schwafeln kam, hob die Katze ein wenig ihren Kopf. In ihrem Blick lag eine gewisse Schläfrigkeit. Schon hielt der Junge inne. Er hatte sich gefreut, an einem so turbulenten Tag wenigstens einem Lebewesen zu begegnen, das so normal war wie immer. Doch langsam schwante ihm, dass mit der Katze heute etwas nicht stimmte. Überaus schwerfällig setzte sie sich aus ihrer liegenden Position auf. Sie hob den Blick noch weiter, bis er sich mit dem des Jungen traf. Ein kalter Schauer lief ihm augenblicklich den Rücken entlang. Doch er war nicht in der Lage seinen Blick von dem der Katze zu lösen. Ja, nicht einmal die Hand, die er ihr auf den Rücken gelegt hatte, vermochte er in diesem Moment wegzuziehen.
Das Rauschen des Meeres im Hintergrund verstummte für einen flüchtigen Augenblick. Das Rot der untergehenden Sonne flackerte noch einmal kurz am Horizont, bevor die Nacht endgültig hereinbrach. Da durchzuckte es Spike wie ein kleiner Blitzschlag. Heftiges Kribbeln spürte er in den Fingerspitzen, die das Fell der Dreifarbenkatze berührten. Wie elektrisiert stellte sich ihr Haarkleid auf und der Junge fühlte, wie auch seine rotblonden Locken sich aufrichteten. Das Kribbeln kroch ihm unterdessen weiter den Arm hinauf und die bernsteinfarbenen Augen der Katze, in die er noch immer starrte, wurden gleißend hell. Noch einmal durchzuckte es ihn, dann konnte er sich endlich rühren, drehte sich zur Seite und schloss die geblendeten Augen.
Wild rauschte das Meer im Hintergrund. Die Nacht war da und ein Kläffen ertönte von der Brücke her. Jemand brüllte aus vollem Hals und das Bellen ging in ein Jaulen über. Entsetzt fuhr Spike zusammen. Seine rotblonden Locken hatten sich wieder gelegt. Das seltsame Kribbeln war verschwunden. Verdattert schaute er auf den leeren Platz neben sich. Leicht erschrak er und schaute sowohl vor die Mauer als auch dahinter und dann die Promenade entlang. Doch seine alte Katzenfreundin war nicht herab gestürzt oder hatte sich entfernt, sondern war wie vom Erdboden verschluckt. Ein bleiernes Gefühl verspürte Spike dennoch im Magen, eine Gewissheit, dass seine treue Zuhörerin von dieser Welt gegangen war.
Ein Rascheln kam von hinten und Spike fuhr herum. Am Strand nahte, in Richtung der Flussmündung, ein anderthalb Kilo schweres, gedrungenes, rattenähnliches Tier: ein Bisam. Dieses hob den breiten Kopf mit der kurzen Schnauze und schaute dem Jungen frontal ins Angesicht. Die Ohren von Spike vernahmen darauf hin hohe fiepende Töne aus dem Maul der Bisamratte, die in seinem Kopf aber unnatürlicherweise die Form von Wörtern annahmen.
»Hey, ist was?«, hallte das Quieken des Bisam in Spikes Kopf und das war noch längst nicht alles. Zu dieser akustischen Halluzination kam nun auch noch eine optische. Die gedrungene Gestalt des Bisam verzerrte sich und wurde ähnlich zu jener eines kahlen Miniatur-Gorillas, gekleidet in einen graubraunen Fell-Wams. Der Kopf blieb groß und plump, bekam aber menschliche Gesichtszüge. Aus dem Unterkiefer ragten zwei abgebrochene Hauer heraus und an Hals und Kopf trug das Wesen eine ungepflegte Mähne. Wäre es nicht so abwegig gewesen, hätte Spike geschworen, es wäre ein Brücken-Troll aus seinen Videospielen.
»Hier riecht es nach Ärger. Schönen Tag dann noch, Lockenkopf.« Damit verschwand die Halluzination auch wieder. Zumindest hielt der Junge es für eine solche und rieb sich die Augen. Das konnte schließlich nicht wahr sein.
Unter der Brücke erklang nun abermals ein Jaulen und Brüllen. Schon wollte Spike auf die Füße springen, doch er zögerte. Ein Flügelschlagen nahte und eine grauschwarze Krähe landete dicht bei ihm auf der Mauer.
»Dich kenne ich doch!«, krächzte der Vogel, dessen eben noch gewöhnlich aussehender Kopf in Spikes Augen zu jenem einer jungen, schwarzhaarigen Frau wurde. Auch als er kurz die Augen schloss und sie dann wieder auftat, blieb die mutmaßliche Sinnestäuschung bestehen.
»Andauernd hockst du hier herum und bläst Trübsal! Was bist du nur für eine trübe Tasse? Heul nicht rum, sondern tu was!« Dabei plusterte sich der Vogel auf und dem Jungen wurde angst und bange.
»Haben dich wieder irgendwelche Spatzenhirne aufgemischt?«, quakte die Krähe mit dem Frauenkopf in einem fort. »Dann geh doch endlich zum Kampfsporttraining und mach sie selber platt, statt dich bei streunenden Katzen auszuheulen!«
Die Märchengestalt reckte dabei den Hals und sperrte den Mund auf, um erneut loszuwettern. Zutiefst schockiert sprang Spike von der Mauer, da erklang schon wieder Geschrei, von der Brücke her. Nun standen der frauenköpfigen Krähe augenblicklich alle Federn zu Berge.
»Der Jäger!«, kreischte sie in hohem Ton, spannte die Flügel auseinander und startete in den Nachthimmel. »Rette sich wer kann!«