Читать книгу Die Mitternachtsuniversität - Saskia Burmeister - Страница 8
3. Die Universität
ОглавлениеWilde Träume von Trollen, die unter Brücken hausten und von kreischenden Vögeln mit Frauenköpfen plagten Spike, bis er aus ihnen aufschreckte. Im ersten Augenblick glaubte er auch die vorhergehenden Ereignisse seien nur eine Illusion gewesen. Dann aber klärte sich sein verschleierter Blick auf und sofort saß er kerzengerade. Er befand sich nicht in seinem Zimmer oder an einem anderen bekannten Ort. Stattdessen hatte man ihn in einem wildfremden Raum mit schwarz angemalten Wänden auf blutroten Samt gebettet. Dieser spannte sich aber nicht als Bettlaken über eine Matratze, sondern bedeckte das Unterfutter, mit dem ein geräumiger Kasten ausstaffiert war. Für einen Moment stockte Spike der Atem, denn jener Kasten hatte ganz ohne Zweifel die unverkennbare Form eines Sarges. Immerhin lehnte der Deckel dazu an der Wand. Daneben standen auf einem Nachttisch weiße Rosen in einer Vase und viele Kerzen auf altertümlichen Kommoden und einem Biedermeier-Schreibtisch tauchten alles in schummriges, unruhiges Licht.
Abermals an diesem Tage hatte der Junge das Gefühl, sein Herz wollte vor Angst zerspringen, dann aber rang er sich dazu durch, Ruhe zu bewahren. Die Realität konnte das hier ja wohl kaum darstellen. Viel mehr kam es ihm vor wie das Szenario aus einem seiner geliebten Videospiele.
»Was hatte doch gleich der breitschultrige Kerl gesagt?«, fragte sich Spike. »Der hat sich als Rollenspieler ausgegeben. Wenn er denn tatsächlich einer war, dann muss der dunkelhäutige Typ mit den scharfen Zähnen auch einer sein ... ja, klar doch. Was auch sonst? Man sehe sich nur diese Detailbesessenheit an!« Spike fasste sich an den Lockenkopf und der Schweiß trat ihm auf die Stirn.
»Ich meine, was soll der Schwarze denn sonst darstellen, als einen überdrehten Rollenspieler? Vielleicht einen echten Vampir?«, führte Spike sein Selbstgespräch fort und setzte dabei ein dümmliches Grinsen auf, um sich selbst zu beruhigen. »Wohl kaum ... so etwas gibt es schließlich gar nicht.«
Tief holte er Luft und schielte nach rechts und links. Alle Möbel waren aus dunklem Teakholz oder etwas Ähnlichem. Ein mottenstichiger Teppich hing an der Wand, der einen Ritter im Kampf mit einem Drachen zeigte. Zwar steckte dem Reptil schon die Lanze des Edelmanns in der Brust, dafür biss er diesem aber soeben den Kopf von den Schultern.
»Tja«, Spike zwang sich weiterhin zu einem Lächeln, »und ich dachte immer, ich sei schräg drauf, weil ich als Kind mal dachte, meine Lieblings-Raumschiffserie sei ein echter Dokumentarfilm, den es durch einen Zeittunnel in unser Jahrhundert verschlagen hatte. Doch das ist noch gar nichts gegen den Kerl hier ... Mann-o-Mann. Das ist schon richtig schaurig.«
Spikes Blick haftete an einem Totenschädel, der oben auf einer Kommode lag, dicht daneben ein Plakat von einer Aufführung von Shakespeares Hamlet, samt dem berühmten Zitat »Sein, oder nicht sein, das ist hier die Frage«.
»Das passt ja wie die Faust aufs Auge«, dachte sich der Junge an dieser Stelle, »der Kerl, der hier wohnt, lebt tatsächlich seine Rollenspiel-Fantasie. Ein Sarg als Bett, das ist ja wohl oberkitschig.« Dann aber kamen ihm wieder Bedenken. »Und was, wenn es doch echt ist?« Der kalte Schweiß rann Spike den Rücken herab und neben ihm ertönte ein Rascheln.
Zwischen Kerzen und einer Blumenvase erschien eine weiße Farbratte mit dunkelbraunem Kopf und einem großen, sattelartigen Fleck auf dem Rücken. Mit geweiteten Augen starrte Spike sie an, während sie Männchen machte und die Schnauze öffnete. Zum Vorschein kamen aber nicht nur die üblichen frontalen Nagezähne. Nein, diese Ratte hatte nebst den Schneidezähnen - an einer Stelle, wo Ratten eigentlich gar keine Zähne aufwiesen - auch noch jeweils im Ober- und Unterkiefer zwei spitze Eckzähne.
»Na, alles klar? Endlich genug geratzt, Dornröschen?«, kam es keck und eindeutigerweise aus der Schnauze der Farbratte. Spike fuhr zusammen und warf seinen Oberkörper ruckartig ein Stück zur Seite, woraufhin der Sarg zu schwanken begann.
»Immer sachte!«, mit einem Wahnsinnsprung hüpfte das Nagetier zielgenau dem Jungen an die Brust und krallte sich in dessen grünem Pullunder fest. »Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen ...« Dazu kam die sprechende Ratte aber nicht mehr, da ein mittelschwerer hysterischer Anfall Spike packte. Schreiend warf er sich herum, der Sarg kippte zur Seite, er rollte sich seitlich heraus, setzte sich dann auf und streifte so schnell als möglich den Pullunder ab. Samt der Ratte schleuderte er das Kleidungsstück in die nächstbeste Ecke. Ein entrüstetes Quieken bekam er postwendend zu hören. Schwer atmend kam Spike auf die Füße und sah sich hektisch nach einer Tür um. Die fand er auch tatsächlich an der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Schon wollte er darauf zustürzen, als sich etwas Neues tat. Ein eiskalter Hauch fegte ihm ins Gesicht und aus der Wand zu seiner Rechten schälte sich zu seinem Entsetzen eine Hand heraus, scheinbar gefertigt aus rauchigem Glas mit einem leichten Blauschimmer. Der Hand folgte eine zweite, dann die dazu gehörigen Arme und schließlich der Oberkörper und Kopf eines jungen Mädchens mit zwei Pferdeschwänzen. Die zweifelsfreie Geistererscheinung schwebte direkt neben Spike in der Luft, hob die Arme und gab ein schauriges Heulen von sich, das gefolgt wurde von den Worten: »Memento Mori - Du musst sterben!«
Da gab es für Spike kein Halten mehr, brüllend stürzte er zur Tür, vorbei an einem mit schweren schwarzen Gardinen verhangenen Fenster, unter dem Töpfe voller Orchideen, fleischfressender Pflanzen und Kakteen standen. Um ein Haar wäre Spike über die weißen Plüschpantoffeln mit dem niedlichen Häschengesicht gestolpert.
Fast hatte Spike die Tür schon erreicht, da schwang diese auf. Eine dunkle Gestalt durchtrat den Türrahmen und Spike stoppte mitten in der Bewegung. Zu über zwei Metern Höhe baute sich der Fremde nun vor ihm auf. Es bestand kein Zweifel darin, dass es der schwarze Mann von vorhin war. Auf dessen Kopf gediehen prächtig viele krause Locken, die sich, nach allen Seiten abstehend, zu einem voluminösen Afrolook vereinigten. Gekleidet war der junge Herr in eine dunkle Hose und ein rüschenbesetztes Hemd, zu dem er einen schwarzen Umhang mit innseitig silbernem Futter trug.
»Na, alles klar? Danke für die Rettung. Fast hätte mir der Jäger alle Rippen gebrochen - ach was rede ich da, das hat er doch getan!«
Mit geweiteten Augen starrte Spike zu ihm auf. Er wusste schon lange nicht mehr, was er von all dem halten sollte. Für einen Streich eines übergeschnappten Rollenspielers fühlte es sich alles definitiv zu real an.
In der Hand hielt der Farbige ein stilvolles, antikes Kristallglas, das angefüllt war mit einer schimmernd roten Flüssigkeit. Unweigerlich begann Spike zu schlottern. Etwas erstaunt schaute der Fremde aus seinen grauen Augen und hielt dem Jungen dann das Glas unter die Nase: »Ach 'nen Schluck? Ist lauwarm.«
»Iiihhh!!!« Erneut gab es für Spike kein Halten mehr, schreiend fuchtelte er mit den Armen, um den Riesen von sich fort zu drängen, mit dem Erfolg, dass sich die rote Flüssigkeit über sein weißes Hemd ergoss. Dadurch wurde Spikes hysterischer Anfall nur noch schlimmer. Wild mit den Händen rudernd bahnte er sich seinen Weg an dem Großen vorbei und aus dem Zimmer heraus in den Gang. Ohne lange zu zögern, schlug Spike nach links ein und sauste schreiend davon, so schnell ihn seine Beine trugen.
»Och nö...«, maulte der hochgewachsene junge Mann und stierte ihm nach, »wieder alles verbockt ...« Dabei machte er ein sehr deprimiertes Gesicht, riss sich dann aber zusammen und stürzte hinterher. »Warte doch! Ich muss dir noch was Wichtiges sagen! Egal, wem oder was du hier auch begegnest, es hat mindestens genauso viel Angst vor dir wie du vor ihm! Naja, meistens jedenfalls.«
Doch Spike hörte das schon nicht mehr, da er längst um die nächste Biegung des Ganges gebogen war, welchen nur spärlich die wenigen Kerzen in Haltern an den Wänden erhellten.
Eine Gestalt erspähte Spike am Ende des Korridors. Hoffnung keimte in ihm auf, endlich auf einen normalen Menschen zu treffen. Mit den Armen rudernd rannte er direkt auf die Gestalt zu, die er für einen Mann im grauen Anzug hielt: »Sir, zu Hilfe! Ein Monster will mich fressen!«
»Was, ein Monster, wo denn?«, kam es von Spikes Verfolger und dieser verharrte just vor einem großen Spiegel, der an der Wand hing. Hektisch sah sich der Schwarze um, erblickte dann das Spiegelbild und zuckte erst leicht zusammen, bevor er aufatmete. »Ach so.«
Derweil war Spike bei seinem vermeintlichen Retter angelangt und das kalte Grauen packte ihn abermals. Zwar handelte es sich tatsächlich um einen Mann im Anzug, doch hatte dieser keinen Kopf! Zumindest saß der nicht zwischen den Schultern, wie weit verbreitet. Stattdessen hatte sich der Mann den Schädel unter den Arm geklemmt.
Nach links bog der Gang an dieser Stelle ab und wie vom Teufel geritten stürzte Spike weiter, hinfort von der kopflosen Gestalt. Sein Verfolger heftete sich wieder an seine Fersen.
»Hilfe!«, brüllte Spike aus voller Kehle und eine Tür öffnete sich an der linken Seite des Korridors. Ein runzliger alter Herr streckte den Kopf auf dem langen, dürren Hals heraus. Er trug einen schwarzen Männer-Kimono, besaß einen geflochtenen Zopf, krumme Krallen an den Fingern und eine leichenblasse Haut, die mit einem zarten grünen Haarflaum überzogen war.
Für einen kurzen Augenblick stoppte Spike und starrte dem Fremden ins schauderhafte Angesicht. Jener schaute ihn mit ebensolchem Interesse von oben bis unten an, wobei er die spitzen Zähne bleckte, die schon einem Vergleich mit dem Gebiss eines Hais standhalten konnten. Leicht begannen die übertrieben langen Augenbrauenhaare des alten Mannes zu beben, als auch der dunkelhäutige Riese keuchend anlangte.
»Hulk!«, schnauzte der alte Kimonoträger den Farbigen an. »Es ist verboten, Appetithappen mit in die Universität zu bringen! Sieh sich einer diese Schweinerei an! Von oben bis unten mit Blut verschmiert!«
Schreiend wie ein kleines Mädchen raste der besudelte Spike daraufhin weiter. Sich eifrig entschuldigend folgte ihm der Lange, als würde er dem Jungen am Hacken kleben. Unterdessen wetterte der Alte mit dem schauderhaften Aussehen noch weiter: »Du wirst es nie lernen, Hulk! Wie oft muss ich dir das noch vorbeten? Es gibt doch nur sechs einfache Regelsätze der Jagd: 1. Im Dunkeln lauern. 2. Geeigneten Blutspender auswählen. 3. Hypnotisieren. 4. In Maßen genießen. 5. Erinnerungen löschen und 6. Das Opfer an einen Ort bringen, wo es schnell gefunden wird und Hilfe rufen, damit der Blutspender versorgt wird. Da ist keine Rede von Blutbädern, wilden Verfolgungsjagden oder dergleichen!«
»Natürlich, Sir!«, brüllte der Farbige über die Schulter und stoppte vor einem weiteren Wandspiegel. Ohne sich umzuschauen, rannte Spike unterdessen weiter. Die Flure schienen gar kein Ende nehmen zu wollen. Immer wieder gab es neue Biegungen und abzweigende Korridore.
»Er hat einfach Angst vor mir«, murmelte der Lange vor dem Spiegel zu sich selbst, »aber ich weiß schon, wem der Junge vertrauen würde.«
Keuchend musste Spike zwei Gänge weiter anhalten und nach Luft schnappen. Er war es nicht gewohnt, so lange und ausdauernd zu rennen. Hinter sich hörte er keine Schritte mehr, so als hätte er den Verfolger abgeschüttelt. Auf leisen Sohlen weiter schleichend, bog er um die nächste dunkle Ecke und stieß prompt mit etwas sehr flauschigem zusammen. Zunächst hielt er es für einen Schäferhund, doch der Haarberg entpuppte sich nur allzu schnell als Wolf mit blütenweißem Fell, der sich zur Größe eines Reitponys auf seinen vier Pfoten aufstellte. Ein bedrohliches Knurren kam aus der Kehle des edlen Tieres, dem der Junge direkt in die Pupillen starrte. Das linke Auge des Wolfes leuchtete in einem frühlingshaften Grün während das andere eindeutig haselnussbraun war.
Wieder kam ein Brummen aus der Kehle des Wolfes und flach drückte sich der Junge an die Wand. Ein Kläffen war in dem Teil des Ganges zu hören, den Spike gerade verlassen hatte. Mit lang heraushängender Zunge nahte ein schokoladenbrauner Labrador. Ein Schnauben entwich dem riesigen Wolf und dieser trabte davon und verschwand im Dunkel eines abzweigenden Ganges.
»Du, hier?«, keuchte Spike atemlos und umarmte den wohl bekannten doggengroßen Hund. Dieser wedelte unaufhörlich mit der Otterrute.
»Bitte bring mich hier so schnell es geht heraus! Hier scheinen alle verrückt geworden zu sein ... oder vielleicht habe auch ich den Verstand verloren! Stell dir nur vor, ich habe Trolle, Vampire und Monster gesehen!«
Leicht legte der Labrador Retriever den Kopf schief. Im Blick seiner grauen Augen lag etwas Mitleidiges.
»Kannst du mich aus diesem Labyrinth heraus führen?«
Wie zur Bestätigung gab der Hund ein Kläffen von sich, doch da überschlugen sich die Ereignisse abermals. Mit Quietschen öffnete sich eine weitere der vielen Türen, die sich an der linken Wand des Ganges befanden. Während Spikes Herz kurz aussetzte, da er sich schon ausmalte, was für eine Schreckensgestalt nun auf den Plan treten würde, erschien schon fast zu seinem Bedauern nur ein schlankes Mädchen in der Tür, deren blondes Haar ihr den ganzen Rücken hinunter floss. Etwas erstaunt schaute sie auf den Jungen und den Hund herab.
»Wirst du auch hier gefangen gehalten?«, keuchte Spike und kam endlich wieder auf die Füße. »Schnell, wir müssen fliehen. Jetzt oder nie.« Schon griff er nach der Hand des Mädchens, welche sie aber zurückzog.
»Wie bitte? Ich bin keine Gefangene, sondern eine Austauschschülerin. Mein Name ist Cinderella. Ich brauche keine Hilfe ... sehe ich etwa so aus? Was für eine Frechheit!«
Hinter dem blonden Backfisch schnaubte es und aus dem Zimmer trat eine eigenartige Kreatur heraus, garantiert zweieinhalb Meter hoch. Mit breiten Schultern, bekleidet nur mit einem Lendenschurz. Schiefe Zähne saßen im Mund des Wesens, das leise knurrte und auch wenn es ansonsten recht menschlich wirkte, so hatte es doch nur ein einziges Auge im Gesicht, das direkt über der Nasenwurzel saß. Ungläubig stierte Spike den Unhold an. Zweifelsohne glich er den Zyklopen aus einem seiner Lieblingsspiele.
Dies konnte nicht die Realität sein, oder vielleicht doch?
»Du bist wohl neu hier«, kam es reichlich hochnäsig von dem blonden Mädchen mit den spitzen Ohren, dann fiel deren Blick auf den braunen Hund. Verzückt rang sie die grazilen Hände. »Oh! Da ist das süße Schoki-Hundi wieder!«
Hinter ihr schnaufte der einäugige Riese und trat ruckartig einen Schritt vor. Schon drückte sich Spike wieder gegen die Wand, rutschte langsam an ihr entlang und von dem Scheusal weg. Hin und her gerissen schaute der Labrador Retriever zu ihm und dann wieder zu dem blonden Mädchen, das mit Engelsstimme versuchte ihn anzulocken. Leises, schon leicht verzweifelt klingendes Winseln kam aus der Kehle des Hundes.
»So ein braver Junge«, raspelte das Mädchen Süßholz, »am liebsten würde ich dich knuddeln!« Leicht legte der Labrador den Kopf schief, hechelte und guckte etwas verträumt, doch statt der Hände des Mädchens schnellten nun die haarigen Arme des Zyklopen vor, packten den Hund und drückten ihn gegen die kräftige Brust.
»Hündchen!«, brüllte der Riese aus voller Kehle und freute sich wie ein Kleinkind unter dem Weihnachtsbaum. Glockenhelles Lachen kam von dem Mädchen und Spike schüttelte die Panik, er fuhr herum und rannte laut schreiend weiter den Gang entlang. An die Rettung seines Hunde-Kumpels konnte er in diesem Moment überhaupt nicht denken, stattdessen sah er endlich ein Licht am Ende des »Tunnels« und stürzte darauf zu. Wie sich heraus stellte, befand sich dort eine Glastür, die sich auch ohne Widerstand zu leisten, mit dem herunterdrücken der Türklinke und etwas Schieben öffnen ließ.
Immer noch aus voller Kehle brüllend stürzte Spike hinaus ins gleißende Tageslicht, das ihn einen Moment lang blendete. Er raste weiter über den ebenen gekachelten Boden, bis ihn eine brusthohe Balustrade stoppte. Da erst wurde er gewahr, dass er sich nicht ebenerdig, sondern auf einer Terrasse befand. Mindestens vier Stockwerke ging es in die Tiefe. Viele Lichter hier oben und unten am Boden machten die Nacht fast zum Tage.
Beim Anblick des Abgrunds versagte Spike die Stimme und zu seiner Bekümmerung war er auch nicht allein. Ein halbes Dutzend Mädchen standen auf dem Balkon und guckten ihn teilweise entsetzt, teilweise geringschätzig an. Drei Grazien mit schwarzem Haar und vornehmer Blässe kicherten albern hinter vorgehaltener Hand. Ein anderes Mädchen im schwarzen Gothic-Lolita-Look mit bauschigem Petticoat Rock kaute lustlos auf einem Kaugummi. Ihrem Rücken entsprangen zweifelsohne zwei orangeschwarze Monarchsfalterflügel von mindestens zwei Metern Spannweite.
Die letzten zwei jungen Damen waren mit Umhängen, Röcken und Blusen aus dunklem Stoff angetan und trugen einen spitzen Hexenhut auf dem Kopf, genau wie die ältere Dame mit dem grauen Haar, die soeben strammen Schrittes heran trat.
»Wer bist denn du?«, kam es mit viel Schneid von der resoluten grauhaarigen Dame und diese rückte ihre Brille zurecht. »Ein neuer Schüler vielleicht? Hat mich die Direktion schon wieder nicht informiert?« Sie gab einen abwertenden Zischlaut von sich und schüttelte das Haupt mit der Hakennase. Die Mädchen im Hintergrund giggelten noch lauter.
»Sei es drum! Dir werd ich das Besenfliegen auch noch beibringen. Nur wer wagt, der gewinnt. Also bitteschön, wollen mal sehen, was du anderswo schon gelernt hast.«
Ohne weitere Vorrede drückte die Frau Spike auch tatsächlich einen Besen in die Hand, während der sich noch fragte, ob er richtig gehört hatte. Ziemlich perplex schaute er das Kehrgerät an, an dessen vorderem Ende sich eigentümlicherweise die Lenker eines Fahrrades befanden. Etwas weiter hinten war dann ein passender Fahrradsattel montiert. All die herum stehenden Mädchen hatten im Übrigen auch solch ein verbessertes Kehrgerät zur Hand.
»Na was ist denn nun?«, wurde die Dame mit dem spitzen Hut recht ungeduldig. »Wird das heute noch was oder brauchst du einen Vorturner? Pandora, wenn ich bitten darf!«
Leises Maulen kam von der Dreierclique, während sich das Gothic-Mädchen mit den Flügeln lässig auf den Sattel schwang, das Wort ,Athelio‘ brüllte und sogleich mit dem Besen in den Himmel hinein startete. Mit offenem Mund schaute Spike ihr nach.
»Na bitte, meine beste Schülerin ist schon gestartet. Worauf warten denn alle anderen? Braucht ihr noch Extraeinladungen, Mädchen? Und was ist mir dir, Dings ... neuer Schüler?« Mit mehr oder minder größerer Begeisterung starteten auch die anderen Mädchen durch. Nur Spike blieb zurück und spielte kurz mit dem Gedanken der verrückten Alten das Kehrgerät vor die Füße zu werfen. Dann aber zögerte er. Es war alles viel zu fantastisch, um wahr zu sein. War er vielleicht vorhin auf dem Nachhauseweg angefahren worden und lag jetzt im Koma und träumte daher solche Dinge? Wenn es tatsächlich nicht real war, warum sollte er dann nicht auch fliegen können? Also nahm er die Lenkergriffe in die Hand, schwang sich auf den Sattel und überlegte dann doch noch einmal. Auch wenn alles hier so irreal anmutete, so fühlte es sich doch wahrhaft gefährlich an. Doch was blieb ihm schon übrig? Wenn er zurück ins Haus ging, würde er sich nur wieder in den labyrinthhaften Fluren verlaufen. Wer konnte schon sagen, was dort noch für Schreckgestalten auf ihn lauerten?
»Ja wird das denn heute nichts mehr?«, erregte sich die grauhaarige Dame. »Komm endlich in die Puschen, Kleiner!«
»Dies ist meine Chance zu flüchten«, versuchte sich Spike einzureden. »So kann ich entkommen, egal ob es nun Einbildung oder doch real ist...«
Bei letztem Gedanken schauderte es ihn dann aber doch. Wenn es doch die Wirklichkeit war, dann konnte sonst etwas passieren, er würde sich den Hals brechen beispielsweise. Schon begann der Zweifel in ihm seinen Triumphzug und er wollte schon wieder absteigen, als die Frau ihm die Entscheidung abnahm.
»Du hast wohl deine Zunge verschluckt, was? Na macht nichts. Dann sag ich es eben für dich, falls du dich kurzzeitig nicht mehr daran erinnern kannst: Athelio!«
»Nein!«, kreischte Spike, doch da hob der Besen auch schon ab und startete senkrecht in die Höhe.
»Ja, nur weiter so!«, drang es von unten an sein Ohr. »Lenken aber nicht vergessen!«
Mit aller Kraft klammerte sich Spike an den Lenker des Besens und starrte hinab zum Balkon, von dem er sich immer weiter entfernte.
»He, du fliegst mir im Weg!« Eines der schwarzhaarigen blassen Mädchen zischte dicht an ihm vorbei, vor Schreck verriss Spike das Lenkrad und der Besen sauste erst schräg nach rechts, dann steil hinunter. Die hinteren Borsten streiften die Balkon-Balustrade. Mit fliegender Zunge langte an jener gerade der Labrador an, bäumte sich auf und bellte ihm hinterher.
»Hilf mir!«, schrie Spike ihm zu, während er sich immer weiter von dem treuen Gefährten entfernte. Die Kontrolle über seinen Besen hatte Spike längst eingebüßt und näherte sich in Sturzflug dem Erdboden. Endlich schaltete sich sein Gehirn wieder ein und er riss den Lenker nach oben. Damit wehrte er den Crash ab, doch nun gebärdete sich der Besen mit einem Mal wie ein Wildpferd, er ruckelte und buckelte und sauste dabei dicht über den mit Gras bewachsenen Boden hinweg, um dann mit einem Mal wieder in die Höhe zu sausen.
»Lass mich leben!«, brüllte Spike gegen den Zugwind an, doch der Besen hatte offenbar anderes vor. Angekommen in einiger Höhe, scherte er nach hinten aus und überschlug sich dabei. Schon hielt sich Spike nur noch mit den Händen am Lenker fest und hing dabei herab. Im Zickzackkurs ging es weiter, ein Stück herab und wieder hinauf. Lange würde er sich nicht mehr halten können.
Heulen und Kläffen kam vom Balkon her, wo sich der Labrador Retriever vor lauter Verzweiflung im Kreis drehte. Die Dame mit dem spitzen Hut war schon zur Balustrade geeilt und all ihre Schülerinnen hatten längst zur Landung angesetzt.
»Was macht er da nur?«, fragte sich die alte Frau und schaute durch ihre Sehhilfe, die sich an einem kunstvollen Stab befand, gleich einer Lorgnette. »Will der sich umbringen? Das sieht so aus, als wäre er noch nie geflogen.«
»Ist er auch nicht!«, keuchte es neben ihr, wo plötzlich der hochgewachsene Farbige mit den spitzen Eckzähnen stand. Er rang die Hände. »Bitte retten Sie den Jungen!«
Die alte Dame rollte mit den Augen, »Es ist doch immer dasselbe mit euch jungen Leuten. Wann lernt ihr es endlich? Übermut tut selten gut!«
Sie machte eine energische Bewegung mit der linken Hand wie eine Dirigentin und zeitgleich hörte der Besen auf zu buckeln, an dem sich Spike fast nicht mehr klammern konnte. Sanft schwebte das Kehrgerät sodann Richtung Erdboden und näherte sich dabei einem neuen unvorhersehbaren Ereignis.
Im breitbeinigen festen Stand und mit angewinkelten Armen verharrte eine Person mit Glatze auf der Wiese, welcher sich der schwebende Junge nun näherte. In Spikes Augen handelte es sich dabei um einen jungen Mann, vielleicht gerade einmal in seinem eigenen Alter. Spike, dem die Stimme inzwischen versagt hatte, musste ungläubig mit ansehen, wie sich ein Löwe ohne Mähne fauchend dem Jungen näherte. Weit hatte das Tier den Rachen aufgerissen, nun blieb es stehen und hob drohend eine der Krallentatzen. Ganz nah war es dabei seinem offenkundig hilflosen kahlköpfigen Opfer und Spike näherte sich auf direktem Kurs jener Raubkatze. Schon schwebte er kaum einen Meter direkt über dem Rücken des Biestes. Ein Kloß saß ihm im Hals, doch zeitgleich verspürte Spike dasselbe warme Gefühl in seinem Bauch, wie es heute schon einmal aufgetreten war. Ohne lange zu zögern, ließ er den Besenstiel los und landete der verdutzten Großkatze mitten im Nacken. Unter seinem Gewicht ging jene fauchend in die Knie und der Junge ohne Haare guckte reichlich erstaunt aus seinem weit geschnittenen Sweatshirt.
»Was soll denn das werden, wenn es fertig ist?«, raunte der Kahle, da buckelte der Löwe auch schon heftig, Spike wurde durch die Luft katapultiert und war selbst am erstauntesten, dass er eine Sekunde später keine unsanfte Begegnung mit dem harten Boden machte, stattdessen fing ihn der Typ mit der Glatze auf. Einen Moment sahen sich beide gleichermaßen verwirrt ins Angesicht. Dabei entging Spike nicht, dass sein Gegenüber zwei verschiedenfarbige Augen besaß.
Das Fauchen des Löwen brachte Spike wie den Kahlkopf ins Jetzt zurück. Gerade bäumte sich das Tier fauchend auf. Vor Schreck riss Spike die Hände in die Höhe und bedeckte mit ihnen sein Gesicht. Schon harrte er der scharfen Zähne, die sich gleich unweigerlich in sein Fleisch schlagen würden. Doch nichts geschah. Nach einer atemlosen Pause schielte er zwischen den Fingern hindurch. Denn er vernahm ein leises Fluchen. Dieses kam eindeutig vom mähnenlosen Löwen her, dessen Pfoten im Boden steckten, als sei er in Treibsand geraten. Doch der Grund war nicht flüssig, sondern sehr fest und er hatte einige Mühe, überhaupt eine Tatze wieder frei zu bekommen. Als er dann alle vier heraus geschuftet hatte, setzte er einen sehr trotzigen Gesichtsausdruck auf. Unter Spikes sagenhaft verdatterten Blicken machte der Löwe Männchen und begann sich zu verändern. Das Fell verwandelte sich in weißen, geblümten Stoff und aus der ganzen Raubkatze wurde binnen Sekunden ein höchstens sieben Jahre altes Mädchen, mit dunkler Haut und Rastazöpfen. Dieses schob die Unterlippe vor und verschränkte die Arme: »Ich dachte das sollte ein fairer Kampf werden! Warte nur, wenn ich dich zu einer Revanche fordere, dann mache ich dich so was von fertig! Und wehe, du lässt dann wieder mit irgendwelchen billigen Tricks kleine dicke Trottel auf mich fallen ... das ist ja so was von feige!«
Wütend stapfte sie davon. Ein leises Knurren kam aus der Kehle des Kahlkopfs, in dessen Armen sich Spike immer noch befand. Nun wurde ihm schon wieder ganz flau im Magen, erst recht als jener auch noch begann, die kräftigen Zähne zu fletschen.
»Bitte, bitte«, piepste Spike, »friss mich nicht! Ich schmecke sicher ganz fürchterlich und denk nur an all das Cholesterin...«
»Hab Gnade!«, brüllte zeitgleich ein Anderer und der lange Typ mit dem schokoladenbraunen Teint nahte stolpernd über den Rasen. Augenblicklich legte der Kahlkopf die Stirn in Falten und packte Spike am Schlafittchen. Ohne Mühe hielt er den Jungen dabei so, dass dieser strampeln konnte wie er wollte und doch mit den Füßen nicht den Boden berührte.
»Oh bitte, großer Lupo!«, jaulte der Typ mit dem Afrolook und fiel auf die Knie. »Sei edelmütig und lass ihn leben!«
Schief schaute ihn der Kahlkopf an, »Ach nee. Der gehört zu dir, Hulk? Das war ja so klar ... der hat genau so einen Sprung in der Schüssel wie du.«
Eifrig nickte der Farbige, wohl aufgrund der ersten Frage. Seufzend wurde Spike fallen gelassen. Reichlich unsanft landete er auf dem Hinterteil. Sein Schmerz bescherte ihm aber wieder einen klaren Kopf. Hektisch sah er von einem zum anderen und wusste gar nicht, vor wem er mehr Angst haben sollte: Vor dem Farbigen, der schief lächelte und dabei spitze Eckzähne entblößte oder vor dem unheimlichen Kerl mit den zwei verschieden farbigen Augen, dessen Haut ausgesprochen bleich war. Sogar noch blasser als Spikes eigener Teint. Zwar saß ihm schon wieder ein Frosch im Hals, doch Spike überwand sich, denn das Folgende musste gesagt werden.
»Das hier kann doch einfach nicht real sein! Raus schon mit der Sprache ... was habt ihr mir gegeben? Drogen? Gift? Halluzinogene?« Obwohl er, aufgrund seiner Heiserkeit, nur piepste wie eine Maus, verstanden seine Gegenüber doch jedes Wort.
»Keine schlechte Idee«, fand der Kerl mit den zwei unterschiedlichen Augen in einem sarkastischen Unterton, »der Kleine hier scheint ja mächtig neben der Spur zu sein.«
»Tja, äh«, rang der Farbige mit dem Afrolook nach Worten.
Schützend hielt sich Spike schon wieder die Hände vor das Gesicht, »Was ihr zwei auch tut - fresst mich nicht!«
»Pff«, kam es geringschätzig von dem Kahlen, »nur zur Info: Ich knabbere nichts an, das eins an der Waffel hat. Schließlich könnte der Irrsinn ja echt ansteckend sein. Aber eines noch.« Dabei trat er wieder vor, beugte sich über Spike und sah ihm tief in die Augen. »Ich wäre gut mit der Göre allein klar gekommen. So was schadet meinem Image. Mach so eine Aktion nicht noch einmal, Kurzer!«
Verschreckt zog Spike den Kopf ein. Der Farbige, der offenbar Hulk hieß, warf sich nun auch noch der Länge nach ins Gras: »Er ist neu hier und kennt die Regeln nicht! Lass Gnade walten, großer Lupo!«
»Hmpf«, kam es verstimmt von dem Angesprochenen und Spike blickte gar nicht mehr durch. Schließlich hatte er doch gar nichts falsch gemacht. Ein Gefühl, das er nur allzu gut kannte, kam in ihm hoch: wieder einmal wurde er ungerecht behandelt.
Von Spike unbemerkt hatten sich rings umher einige Gestalten eingefunden. Darunter die Frau mit dem Hexenhut, die sechs Mädchen, die vorhin oben mit ihr auf der Terrasse gestanden hatten, dazu noch der Zyklop und die junge Dame mit den langen blonden Haaren. Alle lauschten aufmerksam, während der Glatzkopf den Hals reckte, die Muskeln an seinen athletischen Armen spielen ließ und einen ganz besonders finsteren Gesichtsausdruck aufsetzte.
»Jetzt macht der Lupo sie fertig - alle beide«, raunte es von der Dreier-Mädchen-Clique herüber.
»Nicht doch«, zischte die Blondine dazwischen, »dazu ist mein Held viel zu edelmütig.«
Zwar hatten sie es nur geflüstert, doch Spike hatte es wohl vernommen. Das Gefühl der ungerechten Behandlung wurde immer stärker in ihm. Oft war es noch nicht vorgekommen, dass dieses Gefühl in ihm derart überbrodelte, dass er sich zur Wehr setzte. Heute war es aber so weit.
»Was ist nur los mit euch schrägen Typen?«, fing Spike an zu schimpfen wie ein Rohrspatz und seine Stimme kehrte zurück. Langsam erhob er sich und alle Anwesenden staunten. »Ich hab doch nur versucht zu helfen!«
Ein tiefes Brummen kam von dem Glatzkopf, der farbige junge Mann richtete sich dabei auch langsam wieder auf, kam wie ein Wiesel an Spike herangeschlichen und ergriff ihm beim Arm. Dabei machte er mit dem Kopf eine ruckartige Bewegung, als wolle er in Richtung auf das Gemäuer in der Nähe verweisen.
»Los doch, entschuldige dich«, raunte der Große Spike ins Ohr, wobei seine Stimme leicht bebte, »du hast den großen Lupo beim Training gestört und das ist gar nicht gut.«
»Was habe ich?«, entrüstete sich Spike und verschränkte die Arme. »Geholfen habe ich!«
Das Brummen in der Kehle seines Gegenübers wurde zu einem aggressiven Knurren. Derweil zerrte der Farbige immer stärker an Spikes Ärmel, doch der rührte sich nicht.
»Ich habe ihm das Leben gerettet! In der normalen Welt kommt keiner gegen einen hungrigen Löwen an«, beharrte Spike und das Raunen umher wurde immer lauter. Leicht ballte der Typ mit der blassen Haut schon die Fäuste. Er schien kaum älter zu sein als Spike selbst, machte aber ein solches Gesicht, als sei er ein Diener der Apokalypse oder des Teufels persönlich.
»Der Lupo braucht keine Hilfe«, flüsterte der Große, »los, lass uns verschwinden, bevor...«
»Ich werde mich nicht entschuldigen!«, fluchte Spike und als er dafür erbostes Fauchen erntete, stampfte er kräftig mit dem linken Fuß auf.
Ein kleines Erdbeben schüttelte daraufhin alle Anwesenden durch und ließ sogar den missgelaunten Typ inne halten. Doch kaum hatte die Eruption nachgelassen, schwafelten alle Anwesenden wild durcheinander. Der junge Kahlkopf ballte zwar die Fäuste, wandte sich dann aber zum Gehen.
»Man sieht sich, Kleiner«, kam es mit drohendem Unterton von ihm.
Spike selbst wurde da etwas energischer von dem Großen zur Seite gezerrt. In diesem Moment empfand er gar keine Angst vor jenem, der tief beeindruckt aussah.
»Du hast dich gerade mit dem Lupo angelegt - und es überlebt!« Die Stimme des Schwarzen wurde dabei ganz überschwänglich. »Junge, du bist der Oberknaller!«
Eh Spike sich noch versah, umarmte ihn der hoch gewachsene Hulk abermals überschwänglich. Immerhin wurde im diesmal nicht gleich schwarz vor Augen.