Читать книгу Der Zirkadian-Code - Satchin Panda - Страница 19
Jedes Organ hat eine eigene Uhr
ОглавлениеDie Wissenschaft ging zunächst davon aus, dass es nur eine Uhr gab, die den gesamten Körper steuerte und im Gehirn saß – bis das Experiment eines Medizinstudenten diese Annahme über den Haufen warf. Jeff Plautz, der während der Promotion nur einige Jahrgänge über mir war, nahm Fruchtfliegen und fusionierte ihre Per-Gene mit einer im Dunklen leuchtenden Fluoreszenzmarkierung. Mit Zugang zu ausreichend Nahrung und Wasser leuchteten diese Fliegen grün und dimmten das Licht in einem 24-Stunden-Zyklus, auch wenn sie in einem komplett dunklen Raum gehalten wurden. Eines Tages räumte Plautz in seinem Labor auf. Er zerkleinerte einige lebende Fruchtfliegen und verwendete die einzelnen Teile – Flügel, Fühler, Beine, Hinterkörper usw. – für ein weiteres Experiment. Er hatte gehört, dass die Organe selbst nach dem Zerteilen einer Fliege noch einige Tage leben würden. Er flog für eine Woche nach Las Vegas in den Urlaub und als er zurück in sein abgedunkeltes Labor kam, stellte er fest, dass Fühler, Beine, Flügel und Hinterkörper, die komplett vom Kopf der Fliege getrennt worden waren, immer noch in einem perfekten Rhythmus glühten, genau wie eine vollständige Fliege es getan hatte. Die Organe mussten nicht mit dem Körper verbunden sein, um synchron in einem 24-Stunden-Rhythmus zu leuchten und sich abzudunkeln. Dieses Experiment belegte, dass jedes Organ eines Tieres seine eigene Uhr hat und dass diese Uhren nicht vom Gehirn gesteuert werden müssen, um zu funktionieren. Die Entdeckung von Plautz wurde von der Zeitschrift Science zu einer der zehn wichtigsten des Jahres 1997 gewählt.
Nehmen wir einmal an, der menschliche Körper sei ein Haus und jedes seiner Organe ein anderer Raum mit einer eigenen Uhr. Die Uhr im Schlafzimmer sagt Ihnen, wann Sie schlafen gehen und aufwachen sollen. Die Uhr in Ihrem Arbeitszimmer meldet, wann es Zeit ist zum Arbeiten, die Uhr in der Küche, wann Sie essen sollten, und die Uhr im Badezimmer, wann Sie …, nun, Sie wissen schon. Ich denke, Sie haben das Prinzip verstanden. Wir wissen heute, dass die Uhr in unserem Darm bestimmt, wann wir Hormone für Hunger oder Sattheit produzieren, Verdauungssaft zur Nahrungsverwertung bilden, Nahrung aufnehmen und das Darm-Mikrobiom anstoßen, um seinen Job zu erledigen und Abfallprodukte aus dem Dickdarm zu befördern. Die Uhr in der Bauchspeicheldrüse bestimmt, wann mehr Insulin produziert werden soll und wann die Produktion heruntergefahren wird. Auch die Uhren in den Muskeln, der Leber und dem Fettgewebe, das wir ansammeln, machen ihre Arbeit und sorgen für eine Feinabstimmung der Funktion des jeweiligen Organs.
Ich bin bei meinen Forschungen noch einen Schritt über die Uhrengene hinausgegangen und habe mich gefragt: Wie regulieren die Uhren den Schlafmesser im Gehirn im Vergleich zu beispielsweise der Steuerung des Stoffwechsels in der Leber? Während andere Forscher sich darauf konzentrierten, auf welche Weise sich Dutzende Uhrengene zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten im Gehirn oder der Leber an- und ausschalten, wollte ich den Bogen mit meinem Team weiter spannen und testen, welche der über 20 000 Gene in unserem Genom sich zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Organen ein- und ausschalten. Im Jahr 20022 starteten wir eine Studie und nutzten dafür die moderne Gentechnologie. Dank dieser Forschung, die immer noch läuft und die wir ständig verfeinern, entdeckten wir, dass sich in jedem Organ Tausende von Genen auf synchronisierte Weise zu verschiedenen Zeiten ein- und ausschalten.
Jedes Gen in unserem Genom hat einen zirkadianen Zyklus, wobei die einzelnen Gene unterschiedliche Zyklen haben und teilweise nur ein Organ betreffen. Das bedeutet, dass es in unserem Genom für jedes Gewebe einen verborgenen Zeitcode gibt. Obwohl jede einzelne Zelle unseres Körpers das gesamte Erbgut enthält, haben wir im Jahr 2002 bei unseren Untersuchungen herausgefunden, dass bis zu 20 Prozent der Gene zu verschiedenen Zeiten ein- oder ausgeschaltet werden können. Der Körper kann schließlich nicht alle biologischen Funktionen gleichzeitig ausführen. Noch interessanter ist, dass die 20 Prozent Gene, die für eine bestimmte Zeit im Gehirn ausgeschaltet werden, nicht die gleichen sind, die in der Leber, dem Herzen oder den Muskeln ausgeschaltet werden. Genaue Kenntnisse über die Aktivität der Gene und ihren Zeitcode machen deutlich, wie der zirkadiane Rhythmus die Zellfunktion optimiert.
Schauen wir uns also einmal an, welche Zellaktivitäten in zyklischer Weise erfolgen:
•Die Nährstoff- oder Energie-Bahnen – die Hunger- und Sättigungsbahnen der Zelle – sind zirkadian. Genau wie unser gesamter Körper hungrig ist, wenn die sofort verfügbare Energie zur Neige geht, und gesättigt, nachdem wir gegessen haben (und er nachts nicht allzu hungrig ist), verfügt auch jede Zelle in jedem Organ über einen Mechanismus, der am Tag die Tür öffnet und Nährstoffe einfließen lässt. Wenn genügend Energie aufgenommen wurde, schließt die Zelle die Tür, um eine Übersättigung zu vermeiden.
•Der Energiestoffwechsel ist zirkadian. Er beeinflusst die Zellfunktion und die Verstoffwechselung aller wichtigen Nährstoffe. Die Nutzung und Einlagerung von Kohlenhydraten, Fett oder Protein ist kein ständig ablaufender Prozess. Wenn Zucker aus dem Blut aufgenommen und zur späteren Verwendung in Fett oder Glykogen umgewandelt wird, wird gleichzeitig die Fettabbau-Funktion des Körpers stillgelegt. Erst wenn der Zucker verbraucht ist, wird der Fettabbau fortgesetzt.
•Die Wartungsmechanismen der Zelle sind zirkadian. Jede chemische Reaktion, speziell bei der Energieerzeugung der Zelle, erzeugt Abfälle in Form von reaktiven Sauerstoffspezies (auch Sauerstoffradikale genannt). Das ist vergleichbar mit Küchenfett oder Öldünsten, die aus einer heißen Pfanne aufsteigen. In der Küche reagieren wir, indem wir die Dunstabzugshaube einschalten und eine Schürze anziehen. In ganz ähnlicher Weise besitzen auch unsere Zellen einen Mechanismus, der zu bestimmten Zeiten aufräumt und sauber macht. Das schließt auch eine Entgiftung mit ein.
•Zellreparatur und Zellteilung verlaufen zirkadian. Unser Körper wird jeden Tag repariert und verjüngt. Genau wie die Rohrleitungen in unserem Haus veralten und nach einer Weile undicht werden, besitzen wir Hunderte von Kilometern an Blutgefäßen, die auf Dichtigkeit geprüft und repariert werden müssen. Auch unsere Darmschleimhaut und unsere Haut müssen täglich repariert werden, um zu verhindern, dass Bakterien, Chemikalien und Schadstoffe in unseren Körper eindringen. In jedem Organ sterben viele Zellen und müssen ersetzt werden. Das betrifft auch unsere Blutkörperchen. Diese Reparaturarbeiten in Form der Bildung von Ersatzzellen passieren nicht irgendwann, sondern zu einer speziellen Tageszeit, nämlich nachts, wenn wir schlafen.
•Die Zellkommunikation ist zirkadian. Unsere Organe müssen miteinander kommunizieren und dies geschieht in einem bestimmten Rhythmus. Wenn wir beispielsweise satt sind, wird im Fettgewebe des Körpers das Hormon Leptin produziert, das Signale ans Gehirn sendet und uns davon abhält, noch mehr zu essen. Während des Essens regen Hormone aus dem Darm die Bauchspeicheldrüse an, Insulin zu produzieren, sodass die Glukose aus der Nahrung von Leber und Muskeln aufgenommen werden kann. Dieser Austausch ist zu bestimmten Tageszeiten stärker, zu anderen schwächer.
•Die Zellsekretion ist zirkadian. Jede Zelle produziert etwas Wertvolles für Nachbarzellen oder den gesamten Körper. Folglich produziert jedes Organ etwas, das in den Blutkreislauf transportiert wird oder an ein Nachbarorgan. Die Produktion und Abgabe dieser Moleküle ist zirkadian. So stellt die Leber beispielsweise verschiedene Arten von Molekülen her, die zur Bildung von Blutgerinnseln erforderlich sind. Da die Blutgerinnungsfaktoren zirkadian sind, können wir bei sorgfältigem Messen der Blutungs- oder Verkrustungszeit einen zirkadianen Rhythmus feststellen. So kann man beispielsweise optimale Zeiten für Operationen festlegen und die Heilung beschleunigen. Unsere Schleimhäute in Nase, Darm und Lunge produzieren Schmierstoffe und diese Produktion folgt ebenfalls einem bestimmten inneren Rhythmus.
•Nahezu jeder Wirkort eines Medikaments unterliegt zirkadianen Rhythmen. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse zirkadianer Forschung, speziell für Menschen, die unter chronischen Krankheiten oder Krebs leiden. Wie wir wissen, schalten sich Tausende von Genen in einem Organ zu bestimmten Zeiten ein und aus. Nehmen wir einmal an, wir könnten das Gen ansteuern, das ein Protein zur Cholesterinproduktion in der Leber herstellt. Dieses Protein folgt einem täglichen Rhythmus, indem es mehr Cholesterin am Morgen produziert und weniger am Abend. Wollten wir die Cholesterinproduktion in der Leber senken, wäre es dann nicht am besten, wenn unser Medikament das cholesterinproduzierende Protein genau dann blockieren würde, wenn es am aktivsten ist?