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„Wichtigste sein: Niemals gehen zu Frisur.“

Mit zusammengekniffenen Augen starrte Peter Schoh in das Gesicht des alten Inders. Im flackernden Schein der antiken Funzel zwischen ihnen verwandelten sich dessen Falten in winzige schwarze Schlangen, die sich gegenseitig auffraßen. Mehrere Sekunden lang war nur das unablässige Mahlen der Klimaanlage zu hören, die draußen warme Sommerluft einfing, alles Leben aus ihr herausquetschte und hier im Innern nur die erkaltete Leiche zu Boden gleiten ließ.

Er fröstelte beim Gedanken an eine Grabkammer, dann half ihm sein nervöser Seitenblick auf ein paar Konserven in den Regalen zurück in die Realität. Schließlich verstand er.

„Friseur“, verbesserte er. „Ich soll niemals zum Friseur gehen. Das meinen Sie doch, oder?“ Ihm wurde die Tragweite des Gesagten bewusst. „Warum nicht, um Himmels willen? Soll ich das etwa selbst machen? Wenn ich endlich wieder Haare habe, will ich damit auch herumspielen, verschiedene Schnitte ausprobieren und so."

„Nein! Nein, nein, nein! Nicht Spiel! Nicht Spielsache, das ich Ihnen geben!“ Die im Schneidersitz auf einem Karton thronende Gestalt lehnte sich nach vorne. „Müssen gut hören: Niemals schneiden Haare. Müssen schwören. Wenn nicht schwören, ich nicht geben.“

„Bitte? Sehen Sie sich das doch mal an“, sagte Peter und deutete auf seinen Kopf. Er hielt ihn gesenkt und beugte sich vor, damit der Inder im trüben Licht der Petroleumlampe auch wirklich begriff, was er meinte. Außer seinem nach wie vor dichten Haarkranz war ihm von der alten Haarpracht nicht viel geblieben. Nur eine Handvoll dünner Haare genau in der Mitte seines Kopfes bildete eine stoppelige Insel. Einmal pro Woche stutze er all diese Reste auf ein erträgliches Maß von wenigen Millimetern. „Können Sie sich vorstellen, wie unglaublich dämlich es aussieht, wenn ich das lang wachsen lasse?“

„Das dämlich“, stimmte der Inder zu und zeigte ebenfalls auf Peters Kopf. „Aber nicht so bleiben. Neue Haare kommen. Und Haare wissen, wie lang sollen werden. Nicht müssen schneiden.“ Er sprach leiser. Dunkle Wolken zogen in seiner Stimme auf. „Müssen schwören: Niemals schneiden Haare.“

Zweifelnd blickte Peter erst ins Gesicht des Inders und dann auf die Flasche, die vor ihm auf dem kleinen Tisch stand. Nicht größer als ein Parfumflakon, braun, bauchig, mit einem Korken verschlossen. Ein Etikett fehlte. Der Alte bereitete diese Mittelchen angeblich selbst zu. Er sei ein uralter indischer Zaubermeister oder etwas ähnlich Obskures; zumindest hatte das der Typ aus der Pokerrunde behauptet. Aber nach allem, was Peter schon probiert hatte, war er an einem Punkt angelangt, an dem er auch auf eine Zeitungsanzeige „Der große Zampano heilt Haarausfall durch magisches Handauflegen“ geantwortet hätte.

Carola. Seine Carola mit ihrem süßen Lächeln, ihren großen, dunklen Augen und – natürlich – ihrem vollen, braunen Haar. Seine schlanke, überaus sportliche Carola, die es jetzt vermutlich gerade wieder mit ihrem Fitnesstrainer trieb, für den sie ihn verlassen hatte. Ein wütender Atemstoß dampfte in der kühlen Luft des Lagerraumes. Seine Hose beulte sich aus. Nicht vor lustvoller Erregung, wie es früher oft der Fall gewesen war, wenn er an seine Frau dachte. Jetzt waren es seine Hände, die sich in den Hosentaschen zu Fäusten ballten.

„Also gut. Sollte Ihr Zaubermittelchen tatsächlich wirken und mir wieder Haare wachsen, werde ich nicht zum Friseur gehen.“

„Müssen schwören“, beharrte der Inder. „Müssen schwören: Niemals schneiden Haare.“

„Ich schwören, niemals schneiden Haare.“

Der Inder sah ihn prüfend an. Peter erwiderte den Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Auch wenn ihm die Situation im Grunde lächerlich vorkam, der Gedanke an Carola hatte ihm jedes spöttische Lächeln aus dem Gesicht getrieben. Ernst hielt er der Musterung des alten Mannes stand, bis dieser zufrieden zu sein schien.

„Dann gehören dir“, sagte der Inder und nahm den Umschlag entgegen, den Peter ihm reichte. Statt hineinzusehen und das Geld nachzuzählen, hob er nochmals seinen dunklen, mahnenden Zeigefinger. „Benutzen alles auf einmal, dürfen kein Tropfen in Flasche bleiben. Alles auf Kopf, werden sehen. Wünschen Glück.“

Mit diesen Worten erhob sich der Alte, verbeugte sich lächelnd und deutete leicht auf die Tür. Froh, erfolgreich in die schützende Wärme des Vorsommerabends zurückkehren zu können, ließ Peter das Fläschchen vorsichtig in seine Jackentasche gleiten und verließ den kleinen Laden.

Nachdem sein Besucher gegangen war, löschte der Schamane die verbeulte Petroleumlampe und betätigte den Lichtschalter an der Wand. Flackernd erwachten die Neonröhren zum Leben und verströmten lebloses Kunstlicht über die Kisten und Kartons. Er hätte den Handel auch unter dieser Beleuchtung vornehmen können, aber das war nicht, was die Leute erwarteten. Die meisten wussten genau, dass die Erfüllung ihrer Wünsche nicht mit normalen Mitteln zu bewerkstelligen war, denn in den sonnigen Höhen der Wissenschaft suchten sie als Erstes ihre Antworten. Und wenn sie dann enttäuscht ins Zwielicht herabstiegen und zu ihm kamen, schuf er das passende Ambiente – soweit der Lagerraum des Lebensmittelladens seines Cousins dies zuließ. Er schämte sich nicht für dieses Theater. Es war eine gute Sache, es stärkte den Glauben der Leute. Es machte vielen auch ein wenig Angst, und das war nötig.

Denn sie alle bekamen mehr als sie wollten.

*

Zuhause begab sich Peter sofort ins Badezimmer. Er verspürte dieselbe hoffnungsvolle Ungeduld wie jedes Mal, wenn er ein neues, erfolgversprechendes Mittel in Händen hielt. In seinem Spiegelschrank stapelten sich Dutzende von kleinen Fläschchen, Ampullen und Dosen, gefüllt mit Flüssigkeiten, Cremes, Sprays, Gels, Pulvern, Tabletten. Auf dem Rand seiner Badewanne standen Shampoos, Spülungen, Haarkuren und ein paar von ihm selbst befüllte Gefäße. Wann immer er hörte, etwas sei „gut für die Haare“, testete er es sofort. Bier, Joghurt, Senf-Essig-Gemische, Cola, alle möglichen Fruchtsäfte und Teesorten. Sogar kalten Kaffee hatte er sich in die Kopfhaut massiert, in dem Glauben, das Koffein könnte die Haarwurzeln zu neuem Wuchs motivieren.

Alles umsonst, dachte er. Nein, nicht umsonst. Vergebens, ja, aber ganz gewiss nicht umsonst.

Er weigerte sich nachzurechnen, was er bisher für all seine Mittelchen ausgegeben hatte und weiterhin ausgab. Rogain, Mitrodextrin, Propecia, Dutasterid. Für das ganze Geld hätte er sich längst eine Haartransplantation leisten können, doch dafür war der Kahlschlag schon viel zu fortgeschritten.

Hoffnungslos.

Beinahe hoffnungslos.

Er seufzte und betrachtete die kleine Flasche, die warm und schwer in seiner Hand lag. 500 Euro hatte er dem Inder bezahlt. Es gab allerdings eine Geld-zurück-Garantie für den Fall, dass das Mittel nicht wirkte. Sofern er den alten Kerl richtig verstanden hatte.

Er versuchte, im Gegenlicht der Badezimmerlampe die Flüssigkeit im Innern zu erkennen, doch das dunkle Glas ließ dies nicht zu. An einer Seite erkannte er leichte Kratzer; vielleicht handelte es sich um eine eingeritzte Aufschrift in den seltsamen Schnörkeln, die man seines Wissens in Indien benutzte. Vorsichtig rüttelte er am winzigen Korken und zog ihn heraus, bemüht, keinen Tropfen des teuren Wundermittels zu verschütten, und roch am Flaschenhals. Ein scharfer, aber nicht unangenehmer Geruch strömte ihm in die Nase. Erinnerte an … Essen. Hoffentlich war ihm nicht versehentlich – oder absichtlich – eine Flasche Currysoße angedreht worden. Die hatte er nämlich vor ein paar Monaten schon einmal erfolglos ausprobiert.

Einen Moment lang stand er unschlüssig da und fragte sich, ob er die Haare vorher waschen sollte oder nicht. Verdammt, warum war ihm diese Frage nicht früher eingefallen? Wenn das Mittel keinen Erfolg brachte, könnte sich der Inder damit rausreden, dass er es falsch angewendet hätte.

Wer wagt, gewinnt. Er goss sich ein wenig der Flüssigkeit in die Hand. Dunkelrot, warm und dickflüssig wie Quecksilber. Der Geruch verstärkte sich, widersetzte sich aber weiterhin einer Identifizierung. Vielleicht Mononatriumglutamat oder ein ähnlicher Nahrungsmittelzusatz. Und es gab noch eine Note, leicht metallisch. Alles in allem nicht so unangenehm wie manche der anderen Substanzen, die er seinen Haaren schon zugemutet hatte. Er begann, sich die Flüssigkeit in die Kopfhaut zu massieren. Dort, wo einst sein Haaransatz verlief.

Wo dieser sich auch noch befunden hatte, als er Carola kennenlernte. Doch während sie sich ineinander verliebten, hielten Geheimratsecken verstohlen Einzug im dichten Wald seiner Haare. Nach ihrer Heirat lichtete sich der Wald immer weiter. Zunächst noch schleichend, dass man es kaum bemerkte, aber dafür stetig und, wie sich herausstellen sollte, unaufhaltsam.

Dann, vor zwei Jahren, sagte ein Kollege in der Kantine zu ihm: „Na, Peter, du lässt dir wohl ein drittes Knie am Hinterkopf wachsen, was?“

Überrascht tastete er unter grinsenden Blicken an seinem Kopf herum und fühlte zu seinem Entsetzen viel zu viel Haut unter viel zu wenig Haaren. Zuhause schloss er sich im Badezimmer ein und verrenkte sich vor dem Spiegel, um den Schaden zu begutachten. Außerdem musste er nach eingehender Prüfung alter Fotos feststellen, dass sich auch seine Stirn in letzter Zeit sehr nach oben hin ausgebreitet hatte.

Er begann sofort mit der Gegenoffensive.

Die ersten Medikamente versteckte er vor Carola. Er wusste nicht, was ihm peinlicher sein sollte: dass er an Haarausfall litt oder dass er etwas dagegen nahm. Natürlich bemerkte sie es trotzdem und zog ihn damit auf. „Mach dir nichts draus, ein schönes Gesicht braucht eben Platz“, sagte sie. „Wenn der Verstand wächst, weichen die Haare.“ Und: „Du musst zwar mehr Gesicht waschen, aber dafür sparst du Shampoo.“

Er fand das alles gar nicht lustig. Sobald das Gespräch darauf kam, wechselte er gereizt das Thema. Mit der Zeit wuchs sein Frust; jedes Mal, wenn er seine Hoffnung (und sein Geld) in ein neues Mittel steckte, fand er sich enttäuscht. Er begann, auf Carolas Scherze mit Anspielungen auf ihre Figur und erste Anzeichen von Cellulite zu antworten. Sie stritten sich häufiger.

Vor sechs Monaten war es schließlich soweit. Der große Krach. Sie wollte die Scheidung. Zog bei ihm aus. Und bei ihrem Fitnesstrainer ein. Der hatte Haare. Zwar kurzgeschoren, aber sehr dicht.

Obwohl Carola es bestritt, war Peter sicher, dass es genau daran lag. Schließlich war die Welt noch in Ordnung gewesen, solange er Haare hatte. Er wusste, wenn er sie zurückgewinnen wollte, brauchte er ein Wunder.

Das Wunder kam in Gestalt eines Royal Flush.

Sie saßen wie jeden Dienstag nach der Arbeit in ihrer Stammkneipe beim Pokern. Björn litt an einer Sommergrippe, und für ihn sprang ein Kollege aus der Buchhaltung ein, den Peter nur vom Sehen kannte. Thomas oder Thorsten oder so ähnlich.

Beim letzten Spiel des Abends ging es nur noch um sie beide. Alle anderen waren schon ausgestiegen. Peter hielt zum zweiten Mal in seinem Leben einen Royal Flush in der Hand und konnte gar nicht verlieren. Er wusste nicht, was der andere hatte, aber der bot tapfer mit. Eigentlich konnte das kein Bluff sein, dafür war zu viel Geld im Topf. Andererseits hatte der Kerl ein Bier nach dem anderen gekippt.

„Ich setze noch mal zwanzig“, sagte Peter.

„Ich gehe mit und erhöhe um …“ Sein Mitspieler kramte in den Hosentaschen. „Verdammt, ich hab gar kein Geld mehr.“ Er deutete grinsend auf Peters Kopf. „Aber ich sag dir was: Ich setze Haare!“

Die anderen am Tisch brachen in grölendes Gelächter aus, während Peter die Zornesröte ins Gesicht stieg.

„Oh, pass bloß auf! Da versteht unser Peter keinen Spaß, nicht wahr?“

„Wenn das ein Scherz sein soll …“, begann er drohend.

„Kein Scherz“, beeilte sich der Neue zu sagen, aber sein Grinsen gefiel Peter gar nicht. „Ich hab da von jemandem gehört, der dir vielleicht helfen kann. Das setze ich. Ist eigentlich ein Geheimnis, aber wenn du gewinnst, sag ich’s dir.“

So kam es, wie es kommen musste. Sein Gegner konnte nur vier Siebenen vorweisen und gab Peter eine Adresse am Hafen, wo er den kleinen Lebensmittelladen fand. Exotische Spezialitäten hatte die abblätternde Schrift auf dem Schaufenster versprochen.

Und nun stand er hier in seinem Badezimmer. Die warme Flüssigkeit war fast sofort in die Kopfhaut eingezogen. Weder an seinen Händen noch in der Flasche sah er Reste der Substanz. Auch der Geruch war verschwunden. Dafür fühlte er, wie sich Wärme auf seinem Kopf ausbreitete, bis hinunter zu den Ohren, hinten bis zum Nacken. Das war schon mal ein gutes Zeichen, beschloss er; es schien auf jeden Fall die Durchblutung anzuregen.

Er sah sich noch einen alten Western im Fernsehen an und ging früh zu Bett.

*

Mitten in der Nacht schrak er schweißgebadet auf. Sein Herz schlug wild. Er brauchte einen Moment, um sich klarzuwerden, wo er sich befand. In seiner Wohnung. In seinem Bett. Alles in Ordnung, nur ein Alptraum … Sein überhitzter Körper entspannte sich. Dann strampelte er kurz, um die Bettdecke zu wenden. Von der angenehm kühlen Seite bedeckt, fiel er zurück in unruhigen Schlaf.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als er am nächsten Morgen erwachte. Es war Samstag, er musste nicht arbeiten; neue Haarwuchsmittel probierte er immer am Wochenende aus, damit er notfalls ohne Probleme zu Hause bleiben konnte. Mittel zum Einnehmen konnten Übelkeit verursachen. Mittel zum Auftragen konnten Hautausschläge bewirken. Alles schon erlebt. Auch diesmal fühlte er sich seltsam. Eine Art Druckgefühl im Kopf. Keine Schmerzen, nur eine dumpfe Anspannung im Innern. Als wäre sein Schädel zwei Nummern zu klein für sein Gehirn. Das Denken fiel ihm schwer.

Er schlurfte ins Badezimmer und war schlagartig hellwach. Der Mann im Spiegel, der ihm gestern noch zweifelnd beim Auftragen der Tinktur zugesehen hatte, war nicht mehr derselbe.

Haare! Ihm waren über Nacht Haare gewachsen! Ungefähr vier, vielleicht sogar fünf Millimeter lang, und sie waren überall! Mit einer Mischung aus Freude und Skepsis betastete Peter vorsichtig seinen Kopf. Er wusste ziemlich genau, dass so etwas nicht möglich war. Wenn überhaupt, hätte er nach einigen Tagen auf zarte Flaumhärchen hoffen dürfen, aber diese Haare waren alles andere als flaumig. Sie fühlten sich dick und vital an. Prüfend strich er sich über den Kopf, dann nochmals, etwas fester. Die Haare bogen sich unter seiner Hand und sprangen kraftvoll in ihre ursprüngliche Position zurück. Er hatte befürchtet, sie würden sich sofort lösen. Mit leicht zitternden Fingern klappte er die Spiegeltüren des Badezimmerschrankes aus und besah sich von allen Seiten.

Nicht länger bedeckte nur eine vereinzelte Insel des Bewuchses seinen Kopf. Die Haare bildeten nun eine geschlossene Einheit, glänzten vor nie gekannter Stärke und Gesundheit. Der Haaransatz verlief genau dort, wo er gestern mit dem Auftragen der Flüssigkeit begonnen hatte. Diese seltsame, wunderbare Flüssigkeit! Er konnte es immer noch nicht fassen, starrte mit offenem Mund in den Spiegel. Er sah fünfzehn Jahre jünger aus als zuvor – was teilweise wohl daran lag, dass er mit seinem Haarausfall zehn Jahre älter ausgesehen hatte, als er tatsächlich war.

Freudig erregt versuchte er, einen klaren Kopf zu behalten. Er durfte jetzt nicht zu viel Hoffnung schöpfen. Durchaus denkbar, dass es sich nur um einen kurzzeitigen Effekt handelte und die Haare so schnell wieder verschwanden, wie sie gekommen waren.

Trotzdem pfiff er unter der Dusche fröhlich vor sich hin. Den Kopf wusch er sich jedoch nicht. Das Wundermittel sollte so lange wie möglich einwirken.

Im Laufe des Tages betrachtete er sich in jeder spiegelnden Oberfläche seiner Wohnung. Er hatte das Gefühl, den Haaren fast beim Wachsen zusehen zu können. Vor lauter Aufregung vergaß er stundenlang das Essen. Erst gegen Abend meldete sich sein Magen und er briet ein Stück Putenbrust. Seine Haarlänge betrug zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Zentimeter.

Als er endlich ins Bett ging, waren sie fast so lang wie sein kleiner Finger und er begann, sich zu sorgen. Ein solches Wachstum war selbstverständlich nicht normal; was sollte er tun, wenn es nicht mehr aufhörte? Außerdem war etwas Seltsames an den Haaren, abgesehen von ihrer bloßen Existenz. Sie hatten immer noch dieselbe Farbe, dunkelblond, aber sie waren dicker und kräftiger als jemals zuvor. Vielleicht war das der Grund, warum sie sich fremd anfühlten, nicht wie ein Teil von ihm selbst. Außerdem hatte er weder Haarspray noch Gel benutzt, trotzdem lagen seine Haare nicht wirr auf dem Kopf, sondern sahen aus wie frisiert. Fuhr er mit den Händen hindurch, sprangen sie stets in ihre Form zurück.

Vermutlich lag es an dem Mittel, das er noch nicht herausgewaschen hatte, sagte er sich, während er seinen Körper vorsichtshalber nach weiterem unnatürlichen Haarwuchs absuchte. Dies alles war ihm nicht geheuer. Schon fürchtete er, als Wolfsmensch zu enden. Doch was immer es war, es betraf nur die Haare auf seinem Kopf; selbst seine Handflächen und Finger, mit denen er die Flüssigkeit einmassiert hatte, waren glatt und rosa wie zuvor. Vorsichtig bettete er sein Haupt auf das Kissen und fiel nach langer Zeit in abermals fiebrigen Schlaf.

*

Am Sonntagnachmittag stellten die Haare schließlich ihr Wachstum und Peter damit seine Panik ein. Sie reichten ihm fast bis auf die Schultern.

Er hatte noch nie derart lange Haare gehabt, fand aber, dass ihm das sehr gut stand. Er musste sich jedoch auch eingestehen, dass im Vergleich zu seinem vorherigen Zustand fast alles eine Verbesserung gewesen wäre. Mehrmals fuhr er sich durch die Haare und betrachtete danach seine Finger. Nichts. Wenn er das früher getan hatte, waren immer mindestens ein oder zwei Ausreißer in seiner Hand geblieben. Rasch ging er ins Schlafzimmer und untersuchte sein Kopfkissen. Auch dort fand er nichts. Kein einziges Haar hatte sich in der Nacht davongemacht. Er zupfte an einer Strähne, erst vorsichtig, dann etwas stärker. Er fühlte den Zug kaum, und kein Haar löste sich. Statt dessen rutschte die Strähne sofort wieder an ihren Platz, nachdem er sie losließ.

Fröhlich verließ er die Wohnung, um seine neue Haarpracht unter freiem Himmel zu genießen. Nicht eine Wolke zeigte sich, und obwohl es erst Mitte Mai war, herrschten schon hochsommerliche Temperaturen. Peter fühlte die Sonne und den Hauch einer Brise in seinem Gesicht, aber nicht mehr auf seiner Kopfhaut, worüber er sich freute wie ein frisch verliebter Teenager, der gerade den ersten Kuss von seiner Angebeteten erhalten hatte.

Carola. Sie würde ihn kaum wiedererkennen! Seine Finger berührten schon das Handy in seiner Hosentasche, dann kamen ihm Zweifel. Sollte er nicht zunächst abwarten, ob dieser Erfolg von Dauer war, bevor er sich mit ihr verabredete? Was, wenn seine neu gewonnenen Haare in ein paar Tagen wieder ausfielen? Oder sollte er eben deshalb keine Zeit verlieren und handeln, solange dieser Effekt anhielt? Er nagte an seiner Unterlippe.

Zwar trafen sie sich manchmal und sprachen über belanglose Dinge, beruhend auf seinem leicht durchschaubaren Vorschlag, Freunde zu bleiben. Doch ihr war klar, dass er sie zurückhaben wollte. Er konnte sich entsprechende Bemerkungen einfach nicht verkneifen. Von Mal zu Mal kostete es mehr Überredungskraft, sich mit ihr zu verabreden. Zumal ihr Neuer das wohl nicht gerne sah, doch ihr Herz war weich und sie wollte Peter offensichtlich die Trennung erleichtern. Trotzdem konnte sein nächster Zug bei ihr der letzte sein. Er beschloss, noch mindestens eine Woche zu warten.

Ein junges Mädchen im Minirock kam ihm entgegen und bemerkte seinen Blick. Peter stellte erstaunt fest, dass sie nicht wegschaute, wie er es eigentlich gewohnt war. Jetzt lächelte sie ihn sogar an! Etwas unbeholfen grinste er zurück, während er innerlich jubilierend an ihr vorbeiging und mit großen, beschwingten Schritten weiter durch die Stadt spazierte. Er hatte sich seit Ewigkeiten nicht mehr so gut gefühlt.

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