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1.1.1„Autoritätskrise“

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Auseinandersetzungen um die Legitimität und Authentizität von Autorität waren in den 1960er Jahren internationale gesellschaftliche Phänomene52, die sich spätestens gegen Ende des Jahrzehnts auch in der katholischen Kirche häuften.53

Bereits zu Beginn der 1960er Jahre konnte in der katholischen Kirche in der DDR verschiedentlich Kritik an der Autoritätsausübung festgestellt werden.54 Im Hinblick auf die kirchenpolitisch notwendige Einheit der Kirche versuchte man derartige Tendenzen weitgehend zu delegitimieren bzw. sie als Quertreiberei zu etikettieren.55 Dennoch blieben kritische Wortmeldungen nicht aus. Im September 1966 beklagte Ulrich Mendes in einem Aufsatz der kurz zuvor gegründeten Halleschen „Korrespondenz“56 die „Hypertrophie des Gehorsams und das völlige Fehlen von Demokratie in kirchlichen Bereichen.“57 Der ehemalige Leiter des Hallenser Sprachenkurses Adolf Brockhoff kritisierte die Autoritätsausübung kirchlicher Würdenträger - „Eine Autorität, die uns Kirchenvolk faktisch für inferior hält, ist nicht mehr glaubwürdig.“58 - und skizzierte in verschiedenen Zusammenhängen sein Verständnis von einer authentischen Autoritätsausübung.59 Dass diese durchaus provokanten Auffassungen keine mit dem Verdikt der Illoyalität oder „Nestbeschmutzung“ zu versehenden Einzelerscheinungen waren, zeigt ein Blick auf die Meißner Diözesansynode von 1969-1970, die ebenfalls von einer Autoritätskrise sprach.60

Auch verschiedene Bischöfe erkannten und benannten krisenhafte Phänomene deutlich. Der Paderborner Erzbischof Lorenz Jaeger sah das zentrale Moment dabei in einem übersteigerten Freiheitsbegriff, der die Autonomie des Einzelnen absolut setze.61 Der Kardinal beklagte, dass die Krise „von Monat zu Monat weitere Kreise der Kirche“62 erfasse und das Lehramt der Kirche „unter den Priestern völlig in Vergessenheit“63 geraten sei, ebenfalls „die Kraft der Autorität und die Verpflichtung zum Gehorsam.“64 Zudem sah er ein Gefälle zwischen der Kirche in Ost- und Westdeutschland bei der Ausbreitung dieser Phänomene.65 Weihbischof Rintelen bestätigte seinem Paderborner Vorgesetzten gegenüber, „dass der Virus der Unruhe, der Auflehnung gegen jegliche Autorität, der Anerkennung von Vorgegebenheiten und Bindungen auch [im Kommissariat Magdeburg] die Menschen ergriffen hat.“66 Der Berliner Kardinal Bengsch resümierte hierzu: „Diese Autoritätskrise als ein sich von West nach Ost fortpflanzender Prozess sei eine zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch durch eine noch so gute theologische und innerkirchliche Information nicht zu heilende Krankheit der Kirche.“67

Ein zweites Phänomen der kirchlichen Autoritätskrise stellten Gehorsamsverweigerungen gegenüber dem kirchlichen Lehramt dar.68 Kein anderes päpstliches Lehrschreiben steht so deutlich für verweigerten kirchlichen Gehorsam69 wie die Enzyklika „Humanae vitae“ Papst Pauls VI. vom 25. Juli 1968.70 Auch in Ostdeutschland bildete die Veröffentlichung der Enzyklika eine Zäsur im Ringen um die Legitimität kirchlicher Autoritätspraxis.71 Ein Arbeitskreis von Laien aus dem Erzbischöflichen Kommissariat Magdeburg formulierte in einem Brief an Weihbischof Rintelen: „Wir glauben, dass weder Papst noch Bischöfe ahnen, wie fragwürdig uns die Lehrautorität gerade durch diese Enzyklika zu werden droht.“72 Die Königssteiner Erklärung73 der bundesdeutschen Bischöfe wurde weithin als „Gegennorm“74 zur Enzyklika verstanden und auch von ostdeutschen Katholiken rezipiert.75

Neben der Kritik an der Autoritätsausübung und innerkirchlichen Gehorsamsverweigerungen markierten die damals allgegenwärtigen Forderungen nach einer „Demokratisierung“ der Kirche einen dritten Aspekt der Autoritätskrise.76 Ein einheitliches und reflektiertes Konzept zur „Demokratisierung der Kirche“ existierte nicht. Weder wurde eine Übertragung und Anwendung parlamentarischer Herrschaftsformen auf die Kirche gefordert noch war je eine Abstimmung über das Glaubensgut der Kirche intendiert. Vielmehr ging es verschiedenen Theologen und der Majorität basiskirchlicher Gruppierungen um einen legitimen und theologisch gerechtfertigten Prozess zur Implementierung demokratischer Verfahrens- und Verhaltensweisen in die Struktur der Kirche.77 Wenn Kirche derjenige Ort ist, an dem eine universelle Freiheit erfahrbar und nach außen hin wahrnehmbar sein soll, darf sie selbst keine Tendenzen, Strukturen oder Institutionen aufweisen, die einer verantworteten Entfaltung individueller Freiheitsrechte entgegenstehen.78 Deshalb forderte man u.a. Mitwirkung bei der Bestellung kirchlicher Amtsträger, freie Bildung von kirchlichen Gemeinschaften neben der Organisation durch das Territorialprinzip, ungehinderte Meinungsbildung und Transparenz der Entscheidungsmechanismen.79 Zu einem Kristallisationspunkt in der Debatte um eine Demokratisierung der Kirche wurde die Frage nach der Ernennung und Abberufung von kirchlichen Amtsträgern.80 Vor dem Hintergrund der Volk-Gottes-Ekklesiologie des II. Vatikanums schien vielen Katholiken die weltweit einheitliche Praxis der überwiegenden Nichtbeteiligung von Laien und Priestern bei der Ernennung von Bischöfen anachronistisch.81 An der kirchlichen Basis blieb unverständlich, weshalb es keines transparenten Nachweises zur Befähigung für die Übernahme eines Hirtenamtes in der Kirche bedurfte und all jene, denen ein Bischof oder Priester vorstand, gänzlich unbeteiligt an dessen Auswahl und Benennung blieben. Auch wenn sich die Legitimität des bischöflichen Amtes nicht einer Wahl verdankt, sondern der sakramentalen Weihe sowie der Aufnahme in das Bischofskollegium, haftet der zentralistisch organisierten kirchlichen Personalpolitik das Defizit einer mangelnden ortskirchlichen Beteiligung an.82

Die Demokratisierungsforderungen hatten auf die Autorität in der Kirche insgesamt einen diffusen Einfluss. Vielen Christen verschloss sich die Autorität einer sich selbst einsetzenden und rekrutierenden Hierarchie, die zwar Loyalität und Gehorsam verlangte, sich aber von der Akzeptanz der Christen autark und ihrer Meinung unbeeindruckt zeigte.83 Andererseits offenbarte die Vehemenz der Demokratisierungsforderungen, welchen Wert eine authentische Autorität bei vielen Christen genoss. Das Dilemma bestand letztlich darin, dass die Demokratie sowohl vereinbar als auch unvereinbar mit der katholischen Kirche ist. Das Grundsystem der Demokratie ist mit der Kirche deshalb unvereinbar, weil im Gegensatz zu modernen Staaten nicht die Gläubigen den Souverän der Kirche darstellen, sondern Jesus Christus. Weil das Wesen der Kirche auf den Stiftungswillen Jesu zurückgeführt wird, ist ihre Grundstruktur der Abstimmungsmaterie der Gläubigen entzogen. Zugleich ist die Kirche mit dem System der Demokratie vereinbar. Denn trotz allem gilt, dass die Kirche eine geschichtliche Gemeinschaft von Menschen ist, die sich unter dem Beistand des Heiligen Geistes diejenigen Strukturen und Ämter schafft, derer sie zur Erfüllung ihres Auftrags, Missionarin unter den Völkern zu sein, bedarf. Doch die zuweilen undifferenzierte Anwendung politisch konnotierter Demokratiebegriffe auf die Kirche und unzulässige Verkürzungen konziliarer Aussagen verschärften die fragile Situation oftmals. Zu Recht sahen die Bischöfe in manchen Positionen extreme und zum Teil radikale Tendenzen, die sie in Erfüllung ihrer Aufsichtsfunktion unterbinden mussten.84 Das Gebot der Stunde, autoritäre Maßnahmen und kirchenamtliche Überreaktionen zu vermeiden, um so nicht erneuter Kritik Vorschub zu leisten, fand dabei jedoch nicht immer die notwendige Beachtung. Eng mit der Autoritätskrise verbunden waren krisenhafte Phänomene innerhalb der katholischen Priesterschaft.

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