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1.1.2„Priesterkrise“

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Krisenhafte Entwicklungen im Klerus sind für den bundes- und ostdeutschen Katholizismus bereits verschiedentlich untersucht worden.85 Eine zeitliche Einordnung allein auf die 60er und beginnenden 70er Jahre wird allerdings zu beachten haben, dass verschiedene Veränderungen bereits vorher konstatiert werden konnten.86 Von einem Durchbruch dieser Entwicklungen zu einer Krise kann tatsächlich erst in den späten 60er Jahren gesprochen werden.87 Es ließe sich die These vertreten, dass das II. Vatikanische Konzil die schon Ende der 50er Jahre anstehende Debatte über Wesen, Funktion und Aufgabe des Priesters nur verzögerte. Da sich das Konzil ausführlich mit den Bischöfen und Laien beschäftigte, die geweihten Priester aber eher randständig thematisiert wurden, erschienen sie vielfach als die „Verlierer“88 des Konzils, weil die Anfang der 60er Jahre manifest werdenden Probleme unter Priestern keine verbindlichen Antworten der Konzilsväter erhalten hatten.

Der Berliner Erzbischof und Vorsitzende der Ordinarienkonferenz Kardinal Bengsch stellte in einem streng vertraulichen Bericht an den Apostolischen Nuntius in Bad Godesberg im Jahr 1965 fest, dass trotz staatlicher Infiltrationsversuche die Einheit des ostdeutschen Klerus bislang ungebrochen war.89 Diese äußere Einheit gegenüber dem SED-Staat wies nach innen betrachtet eine größere Pluralität auf. Der in der SBZ und späteren DDR wirkende Klerus war durch Flucht und Vertreibung während und nach dem 2. Weltkrieg äußerst heterogen.90 Unterschiedliche Generationen, Mentalitäten und Traditionen trafen im Chaos der ostdeutschen Flüchtlingskirche aufeinander, und dies nicht selten mit gravierenden Schwierigkeiten.91 In dieser ohnehin konfliktreichen Zeit trat das Problem des abnehmenden Priesternachwuchses immer stärker hervor.92 Zugleich markierten verschiedene Reformbemühungen das Aufbrechen statischer Aufgaben und Rollen.93 Der ostdeutsche Klerus stellte dabei keine Ausnahme dar.94 Den bisherigen Darstellungen der Priesterkrise, die vor allem auf die theologischen Ausbildungsstätten in der DDR fokussiert waren, seien im Folgenden zwei Beispiele aus dem Kommissariat Magdeburg hinzugefügt.

Am 2. Oktober 1968 fand auf Initiative und Einladung von Priesteramtskandidaten des Erfurter Alumnats eine Diskussionsveranstaltung mit ca. 100 Theologen und dem „Korrespondenz“-Kreis95 über das „Bild des zukünftigen katholischen Priesters“96 statt.97 Als Grundlage für das Gespräch hatte die „Korrespondenz“ eine vierseitige Ausarbeitung „Zur Person des Pfarrers“ erstellt und zusammen mit einem Anhang über Veränderungen der Priesterausbildung versendet.98 Die leitende These dieses Aufsatzes lautete: „Unter einem Pfarrer stellen wir uns einen Menschen von großer geistiger Vitalität vor, der imstande ist, Leute dazu zu aktivieren, ‚Kirche’ zu bilden.“99 Ausgehend von diesem Grundverständnis schlug der Korrespondenz-Kreis vor, die Gestalt des Pfarrers100 neu zu konstruieren.101 Seine zahlreichen Funktionen als Sacerdos, Presbyteros, Diakonos, Didaskalos und Prophetos würden eine deutliche Überbeanspruchung darstellen. Sie könnten in zwei zentrale Aufgabenbereiche des Organisatorisch-Ökonomischen und des Spirituellen geteilt und unterschiedlichen Personen in den Gemeinden zugewiesen werden.102 Nach Vorstellung der „Korrespondenz“ sollte der „Pfarrer bewusst in den Hintergrund treten und immer mehr Organisationsfunktionen…abgeben.“103 „Nicht der Manager, der Verwalter, der Liturge soll zum Prototyp des Pfarrers werden, sondern der ‚Spiritual‘, der ‚Intellektuelle‘, der ‚Prophet‘.“104 Die Forderung der „Korrespondenz“ nach einem weltlichen Beruf für die Pfarrer war offensichtlich vom Modell der Arbeiterpriester inspiriert und provozierte die Rückfrage eines Erfurter-Theologen: „Ist unser Beruf kein Beruf?“105 Die Diskussion zeigte darüber hinaus, dass große Verunsicherung über das Verhältnis zwischen Priestern und Laien und die jeweiligen Aufgaben herrschte.106

Aufschlussreich und noch konkreter ist zweitens ein Vortragsmanuskript des Hallenser Studentenpfarrers Adolf Brockhoff107 mit dem Thema: „Freiheit des Weltpriesters in der Kirche“108, das eine persönlich gefärbte Situationsanalyse der Lage der Weltpriester vor und nach dem Konzil gibt. Diese Darstellung ist ein Beleg für eine partielle Parallelität der ost- und westdeutschen Entwicklungen und verweist zugleich auf ostdeutsche Spezifika. Adolf Brockhoff unterstrich, dass sich bereits Ende der 1950er Jahre Resignation unter den Priestern breitzumachen drohte109, und bekräftigte, dass sich eine zunehmende Distanz zwischen Bischöfen, Priestern und Laien etablierte.110 Am Beispiel von Paderborner Priestern, die nach ihrer Weihe freiwillig in die SBZ/DDR übersiedelten oder von ihrem Bischof geschickt wurden, stellte er dar, dass sich ein vorkonziliarer Wandel im priesterlichen Selbst- und Rollenverständnis vollzogen hatte. Aufgrund der chaotischen Situation nach dem 2. Weltkrieg habe der Klerus - Brockhoff zählte selbst zu jenen westfälischen Priestern, die freiwillig in die SBZ gegangen waren - „Pionierdienste leisten“111 müssen. Er rekapitulierte die damaligen Entscheidungen und Motivationen des Paderborner Klerus dabei wie folgt: „In einer Welt von Trümmern sind wir dem Rufe gefolgt, der an uns erging, weil wir im Glauben erfahren hatten, dass es nichts Schlimmeres gibt als eine Welt ohne Gott…Wir sind in die Zone gegangen, weil wir der Präsenz dessen dienen wollten, der immer mit dem geschlagenen Volke ist. Wir haben Kirchen und Kapellen und Häuser gebaut, nicht, wie manche Superklugen meinten, um uns selbst zu bestätigen, sondern um in einem handgreiflichen Sinn Brunnenstuben des Lebens zu schaffen. Wir haben die Türen der Pfarrhäuser aufgemacht, nicht weil – wie wieder die Superklugen meinten – wir mit unserer Einsamkeit nichts anzufangen wüssten, sondern weil wir den blutvollen Kontakt mit den Laien wollten. Weil die Taufe eine größere Nähe stiftet als alles andere, warfen wir den Zopf der Standesvorurteile und –unterschiede ab. Die Weihe gab uns keinen Auftrag über das Volk Gottes hinweg, sondern in seinem Herzen. Wir wollten keine primitiven Funktionäre für heilige Dinge sein, die Messen lesen und nach uralter Gewohnheit Predigten heruntersagen. Wir konnten uns keine Heiligung des Lebens vorstellen, die trennt, statt zu vergegenwärtigen. Weil uns das Verständnis abging, wie man redlicher Weise am sakralen Tisch sitzen kann, ohne ihn zum profanen Tisch hin zu erweitern, machten wir die Türen unserer Häuser auf. So halfen wir mit, den vielen Heimatlosen ein wenig Heimat zu geben.“112 Als ostdeutsches Spezifikum ließe sich das Verständnis der Priester charakterisieren, sich stellvertretend für die Laien gegenüber dem Staat zu artikulieren, weil es ihnen ihre abgesicherte Stellung ermöglichte: „Weil wir aus freiem Entschluss in die Zone kamen und aushielten, sind viele geblieben. Weil wir ohne Vorsicht lebten und redeten, schritten immer mehr den Kreis ihrer Freiheit ab, um ihn zu erweitern…Wir haben nicht geschwiegen zur Mauer, zur Sperrzone, zum Fahneneid, zu Sozialisierung. Vor keinem Funktionär schlugen wir die Tür zu. Er ging nicht von unserem Tisch, ohne dass wir Unrecht Unrecht genannt hätten. Wir haben geredet, weil wir die Vertreter der Macht als Menschen ernst nahmen. Wir haben geredet, damit die vielen Laien, die stumm bleiben mussten, ohne Gewissensbisse schweigen konnten.“113 Brockhoffs Ausführungen deuteten an, dass sich ein Wandel im priesterlichen Selbstverständnis weit vor dem Konzil ereignete, der stark von den pastoralen Bedingungen der ostdeutschen Nachkriegszeit bestimmt war. Hinzu kam, dass im Zuge der Liturgischen Bewegung bereits in den 50er Jahren selbstständige Veränderungen der Liturgie vorgenommen wurden, die von einem ausgeprägten priesterlichen Selbstverständnis Zeugnis geben.114 Geradezu zwangsläufig mussten diesen Priestern die mangelnden Ausführungen des Konzils zum speziellen Priestertum negativ auffallen.115 Nach dem Konzil verbreitete sich auch in Ostdeutschland Unsicherheit über die Aufgaben und Funktionen des geweihten Amtes innerhalb des allgemeinen Priestertums. Doch entgegen der vielfach vertretenen Nivellierung der Unterschiede zwischen Priestern und Laien durch die Teilhabe aller am gemeinsamen Priestertum machte sich Brockhoff für die besondere Stellung und Aufgabe der Priester stark.116 Gleichwohl verkannte er weder die Defizite in der Priesterausbildung117 noch die problematische Situation jener Priester, die durch die alltägliche Arbeit hindurch eine authentische Identität suchten.118

Der Hallenser Studentenpfarrer blieb jedoch nicht bei der Kritik stehen, sondern formulierte kontextualisierte Grundelemente eines erneuerten Rollenverständnisses katholischer Priester. Zentral waren dabei die Erfahrungen der Priester im Totalitarismus des SED-Staates und die Rezeption der Aussagen des II. Vatikanischen Konzils. Auf Grund der staatlichen Situation sollte die priesterliche Identitätssuche ihren Ausgangspunkt in einem dualistischen Verständnis von Freiheit nehmen: „Wie können wir uns an der Front der Welt zur Freiheit bekennen, wenn wir sie im Innenraum der Kirche nicht besitzen?“119 Gerade die Liturgiekonstitution Sacrosanctum concilium des II. Vatikanums schien Brockhoff in besonderer Weise geeignet, den Geist der Freiheit in der Kirche und vor allem unter den Priestern zu wecken: „Wer die liturgische Konstitution zu lesen versteht, der weiß, wie hier aller Beckmesserei und allem subalternen, rubrizistischen Geist der Todesstoß versetzt wird. Mit der Konstitution sind wir aus der Fessel juristischer Bevormundung befreit worden. Hier ist der Geist der Freiheit entbunden, den die Kirche bei Priestern und Laien notwendig braucht, um die Fragen der Zeit zu bestehen. Gerade an der Stelle der Liturgie wird deutlich, dass die Kirche uns nicht zu Museumswächtern degradieren will, dass gerade hier die Gabe des Geistes an seine Kirche offengelegt wird, deren sie heute so sehr bedarf: Freiheit.“120 Nach Brockhoff sei das Hören auf diesen lebendigen Geist der Freiheit geeignet, um „alte Rollen abzubauen.“121 Priester seien nicht länger „Zionswächter, die darauf zu achten haben, dass Riten und Gebräuche genau eingehalten werden“122 noch „Wachhunde eines allgegenwärtigen Offiziums, die Häresien wittern“123, und keine „Einpeitscher moralischer Prinzipien, die überall Sünden riechen.“124 Die Priester seien vielmehr berufen, Freiheit erfahrbar zu machen, da die Kirche der Raum sein sollte, in dem „der freie Gott dem freien Menschen begegnet.“125 Trotz latenter Formen der Resignation unter den Priestern warb Adolf Brockhoff für einen Aufbruch: „Wenn wir nur die überkommenen Formeln reproduzieren und wiederkäuen, so machen wir uns selbst untauglich für die große Bewegung der Freiheit. Es kommt auf unsere Initiative an, auf unsere Erfindungsgabe in den Raum der Liturgie hinein…Nur wer die sehr menschliche Freiheit in der Kirche wagt, der wird die geistliche Qualität der evangelischen Freiheit gewinnen“126

Die Diskussionsveranstaltung der Erfurter Priesteramtskandidaten und der Vortrag des Hallenser Studentenpfarrers legten zahlreiche Konfliktfelder offen und deuten auf den damaligen Diskussionsbedarf hin. Es wird aber zugleich deutlich, dass sich die Priester nicht nur als Opfer einer Entwicklung verstanden und ihre Rollenverunsicherung passiv erduldeten. In bestimmten Kreisen begriff man diese Situation durchaus als Kairos. Die Infragestellung der traditionellen Ausrichtung des priesterlichen Lebens auf zeitlose Prinzipien und Forderungen nach Reformen waren in Ost und West ähnlich. Hervorzuheben bleibt allerdings, dass eine Nivellierung des genuin Priesterlichen in der Kirche der DDR trotz mancher Versuche auch deshalb zum Scheitern verurteilt war, weil es den Priestern durch ihre kirchenpolitisch abgesicherte Stellung möglich war, stellvertretend für viele Laien Protest gegenüber dem Staat und seinen Organen zu erheben. In den 60er Jahren organisierten sich verschiedene Gruppen aus Priestern und Laien, die Reformen und Veränderungen in der Kirche und ihrem Verhältnis zum SED-Staat vorbringen wollten.

Der Aktionskreis Halle

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