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1.Forschungsgegenstand

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Die zeitgeschichtliche Katholizismusforschung fokussierte in der ersten Dekade nach dem Fall der innerdeutschen Mauer 1989 auf den Ausgleich eines veritablen Informationsdefizites hinsichtlich der katholischen Kirche in der DDR.6 Es galt, die kirchlichen Strukturen und Entwicklungen seit 1945 anhand von Quellen zu erforschen und darzustellen.7 Themenschwerpunkte waren dabei unter anderem das Schicksal von Millionen katholischer Flüchtlinge und Vertriebenen, Biografien der ostdeutschen Bischöfe und bischöflich beauftragten Priester in den Bistümern und Jurisdiktionsgebieten in der SBZ/DDR sowie die Entstehung und das Wirken kirchlicher Institutionen am Beispiel der bischöflichen Caritas und der ostdeutschen Priesterausbildung in Erfurt. Mit der Erforschung des Aktionskreises Halle, für den sich allgemein die Kurzbezeichnung AKH durchgesetzt hat, drücken sich ein neues Forschungsmotiv und eine veränderte Forschungsperspektive aus. Der bisherige Fokus verschiebt sich dabei von den Strukturen und Personen der Institution Kirche zugunsten einer stärkeren Wahrnehmung des kirchlichen Lebens auf der Ebene der Gemeinden und Vereinigungen. Damit wird eine Zwischenebene in den Blick genommen, die einen Beitrag zu leisten vermag für eine zukünftig noch zu verfassende Sozialgeschichte der Kirche in der DDR.

Die Darstellung der Geschichte und Entwicklung des Aktionskreises Halle von 1969 bis 1989 ist zuerst im Kontext der Magdeburger Regional- und Bistumsgeschichte anzusiedeln.8 Wie es zur Gründung einer kirchlichen Gruppierung Ende der sechziger Jahre im Kommissariat Magdeburg, dem Ostteil des Erzbistums Paderborn, kam, was ihre pastoralen Ziele und theologischen Intentionen waren und wie sie sich im kirchenpolitischen Spannungsfeld zwischen SED-Staat und katholischer Kirche bewährte, sind entscheidende Eckpunkte bei der historischen Beschreibung und Einordnung dieser postkonziliaren Reformgruppierung. Da es sich beim Aktionskreis Halle um die einzige Gruppe dieser Art in der gesamten ostdeutschen katholischen Kirche handelt, die in alle Bistümer und Jurisdiktionsgebiete sowie in alle relevanten gesellschaftlichen und kirchlichen Themen hinein vernetzt war, avanciert er zu einem bislang einzigartigen Forschungsgegenstand. Die vielfältigen Verbindungen der Hallenser Protagonisten zu bundesdeutschen Priester- und Solidaritätsgruppen werfen natürlich auch die Frage nach grenzüberschreitenden kirchlichen und theologischen Interdependenzen auf.

Über den regionalgeschichtlichen Ansatz hinaus gewinnt die Darstellung des AKH im Hinblick auf die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 – 1965) an Relevanz und Bedeutung. Aus der Art und Weise, wie diese basiskirchliche Gemeinschaft - damit ist eine Gruppe von Priestern und Laien definiert, die sich jenseits territorialer Strukturen zusammenfand - das Recht für sich in Anspruch nahm, eine freie Gemeinschaft zu gründen und dabei bestimmte Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Konzils ohne bischöfliche Autorisierung, ja oftmals gegen sie zu rezipieren, zu interpretieren und pastoral umzusetzen, ließen sich prototypische Rezeptionsweisen herausarbeiten, deren Legitimität vor dem Hintergrund ekklesiologischer Modelle zu analysieren ist. Darüber hinaus kann anhand exemplarischer Vergleiche mit den Positionen des Aktionskreises nachvollzogen werden, ob, wie und ab wann bestimmte Konzilsaussagen durch die ostdeutschen Bischöfe rezipiert wurden. Die komparative Auseinandersetzung mit dem Hallenser Aktionskreis und bestimmten Positionen der ostdeutschen katholischen Bischöfe ermöglicht die Diskussion verschiedener theologischer Fragen. Wie weit wurde die Geschwisterlichkeit des pilgernden Gottesvolkes umgesetzt und dadurch das bisherige eher klerikal dominierte Kirchenverständnis überwunden? Ist die katholische Kirche in der DDR in einen solidarischen Dialog mit ihrer Umwelt eingetreten und hat sie den von Gaudium et spes eingeforderten theologischen Ortswechsel hin zu einer Kirche in der Welt von heute vollzogen? Wurde das erneuerte Laienapostolat in der DDR wahrgenommen und von den Bischöfen gefördert oder distanzierte man sich von diesen konziliaren Aufbrüchen und verhalf dem Modell der „Katholischen Aktion“ letztlich zur Durchsetzung? Weshalb gab es in der DDR kein kirchliches Vereinswesen? Wie reagierte der totalitäre SED-Staat auf eine fest institutionalisierte katholische Reformgruppe und wie reagierte man schließlich kirchlicherseits unter den Bedingungen einer totalitären Diktatur auf interne Kritik und die zum Teil scharfe Infragestellung pastoraler und kirchenpolitischer Konzepte?

Innerkirchliches „Dissidententum“ und „Nonkonformismus“ waren in der katholischen Kirche in der DDR keine weit verbreiteten Phänomene. Ihre Erforschung ermöglicht daher kaum verallgemeinerbare Aussagen über den DDR-Katholizismus insgesamt, hinterfragt aber das Bild eines „monolithischen Blocks“, für den der ostdeutsche Katholizismus lange Zeit gehalten wurde. Dem Aktionskreis Halle kommt daher unter verschiedenen Blickwinkeln eine Sonderstellung als Kristallisationspunkt für die regionale Kirchen- und Theologiegeschichte Ostdeutschlands zu. Die Erforschung seiner Geschichte liefert daher einen pastoral sowie kirchenpolitisch angelegten Beitrag zu einer noch zu verfassenden Gesamtdarstellung der Kirchengeschichte der DDR.

Die leitenden Thesen dieser Dissertation lauten: Der Aktionskreis Halle hat theologisch legitimiert die Aussagen des II. Vatikanischen Konzils selbstständig und partiell autonom rezipiert und ist aufgrund der hieraus gefolgerten Positionen und Ansprüche in teils massiven Konflikt zum Magdeburger Bischof und der ostdeutschen Ordinarien- und späteren Bischofskonferenz sowie dem SED-Staat geraten. Durch seine Interpretation und Umsetzung von Geist und Buchstabe des Konzils in den 70er Jahren hat er Wege beschritten, die für einzelne Bischöfe Anfang der 80er Jahre anschlussfähig waren. Als wohl einzige öffentlich agierende katholische Vereinigung aus Priestern und Laien in der DDR hat er dazu beigetragen, dass sich kirchliches Leben jenseits von Pfarrgemeindestrukturen entwickeln konnte und hier neue Freiräume entstanden.

Der Aktionskreis Halle

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