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II. Innovation als Herausforderung für die Rechtsanwendung

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Gegenwärtige wissenschaftliche Auseinandersetzungen beschäftigen sich bereits partikular mit einzelnen Aspekten dieser Untersuchung.19 So werden der Plattform-Begriff und das Konzept der mehrseitigen Märkte in den letzten Jahren bereits allgemein unter rechtlichen Aspekten diskutiert, zunehmend speziell in kartellrechtlicher Hinsicht.20 Auch rechtswissenschaftliche Innovationsforschung wird bereits seit mehreren Jahrzehnten mit unterschiedlichen Schwerpunkten betrieben, vorangetrieben insbesondere von Hoffmann-Riem.21 Besonders stark in der Diskussion stehen hier die Ausgangstheorien von Schumpeter zu Innovation und Wirtschaft, auf die es besonders ankommen wird.22 Jedoch gibt es für Plattform-Sachverhalte in der Digitalwirtschaft bislang noch kein Bindeglied zwischen Innovationstheorie und Kartellrecht in Form einer substantiierten Aufarbeitung eines eigenständigen kartellrechtlich fassbaren Innovationsbegriffs. Vereinzelten Darstellungen zu Einzelproblemen fehlt es an ganzheitlich verwertbaren Erkenntnissen, die sich methodisch abstrakt-generell auf andere innovationserhebliche Sachverhalte übertragen lassen.23 Insbesondere beschränken sich bisherige Forschungen sehr stark auf dynamische Effizienz und lassen dabei den Aspekt der Effektivität außer Acht.24 Hoffmann-Riem weist hierzu darauf hin, dass regelmäßig nicht zwischen Effizienz und Effektivität unterschieden wird, dies aber zur Klärung einer Innovationstheorie erforderlich sei.25 Dies erscheint noch deutlicher angesichts des von der EU-Kommission vorangetriebenen More Economic Approach, der sehr stark auf die Betrachtung von Effizienzen abstellt.26 Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage nach der Geltung von Recht in dynamischen Wettbewerbssachverhalten und einem eigenständigen rechtstheoretischen Begründungsansatz. Dies ist mit dem Problem sich stark verändernder Sachverhalte und weitgehend offener und unbestimmter Rechtsbegriffe des Kartellrechts konfrontiert. Effektivität kann als Maßstab des Wettbewerbs die Grundlage seiner Innovationsgeneigtheit darstellen. Offen ist bislang seine rechtliche Rückanbindung. Diese Arbeit soll die Lücke schließen und methodische verallgemeinerungsfähige Argumentationsinstrumente bereitstellen, indem sie eine kartellrechtliche Innovationstheorie für digitale Plattform-Sachverhalte entwickelt und dabei gleichzeitig eine dogmatische Abgrenzung zwischen Effektivität und Effizienz vornimmt. Untersucht wird auch die Auswirkung des Umstands Dynamik in kartellrechtlich zu bewertenden Sachverhalten. Dynamik ist die Grundannahme der Untersuchung in tatsächlicher Hinsicht, ausgehend von der ein rechtliches Innovationsverständnis aus dem Rechtsbegriff Wettbewerb abgeleitet wird. Grundlage ist hierbei die von Möschel entwickelte Theorie der beweglichen Schranken, die ein auf die Effektivität der ausgelebten Wettbewerbsfreiheiten gestütztes materielles Abwägungskonzept ermöglicht und angesichts der jüngeren BGH-Rechtsprechung erneute Bedeutung gewinnt.27

Die technische Umsetzung von digitalen Plattform-Geschäftsmodellen erfolgt über das Internet und die damit verbundenen Protokolle. Auf eine grundsätzliche Erläuterung der technischen Voraussetzungen wird es hierbei aus kartellrechtlicher Hinsicht zwar nicht ankommen. Gleichwohl ist es für die Klärung einiger sich aus Plattform-Sachverhalten ergebender Fragen erforderlich, Grundbegriffe aus der Informatik und Fernmeldetechnik mit Bezügen zur Digitalisierung und der Internetstruktur zu erläutern. Hier soll auf gesicherte Erkenntnisse zurückgegriffen werden. Dies betrifft ebenso sämtliche Schlagworte, die im Zusammenhang mit dem Lebenssachverhalt der digitalen Plattformen stehen könnten. Hierzu zählen unter anderem „Internet“, „IP“, „Digitalisierung“, „virtuell“ und „Over the Top“. Dogmatisch steht dies bei dieser Untersuchung im Zusammenhang mit der Vermittlung von Informationen durch digitale Plattformen. Informationen, Daten und übergreifend Wissen gewinnen in einem dynamischen Wettbewerb weitere Bedeutung und damit für diese Untersuchung.

Für die materiell-rechtliche Analyse soll im Weiteren die Entwicklung in der jüngeren Rechtsprechung des BGH zum Marktmachtmissbrauchsverbot aufgegriffen werden, das positive Kartellrecht unter Berücksichtigung von außerhalb dieses Rahmens liegenden Wertungen auszulegen.28 Dies könnte auf eine Auslegung des Kartellrechts hindeuten, die nicht allein nach wirtschaftlichen statistischen oder verallgemeinerten Erkenntnissen erfolgt, sondern eine einzelfallbezogene Wertung vornimmt und dabei wiederum stärker auf das geltende Recht und den Zweck des Kartellrechts als Entscheidungsgrundlage abstellt.29 Eine ähnliche Entwicklung zeichnete sich im Bereich des Verbots wettbewerbsbeschränkender Maßnahmen zwischen mehreren Unternehmen ab, indem die möglichen wettbewerbsimmanenten Zwecke hier deutlich mehr herausgearbeitet wurden.30 Hieraus kann wiederum auf ein eigenständiges rechtliches Verständnis des Innovationsbegriffs innerhalb der Rechtsordnung zu schließen sein.

19 Zur Übersicht auch mit den historischen Bezügen der Forschung Kerber, Competition, Innovation, and Competition Law: Dissecting the Interplay, MAGKS Joint Discussion Paper Series in Economics v. 6.10.2017, https://www.uni-marburg.de/fb02/makro/forschung/magkspapers/paper_2017/42-2017_kerber.pdf (abgerufen 14.12.2019); Siehe auch Ellger, ZWeR 2018, S. 272 (274) mit einer anschließenden Einordnung in das allgemeine Kartellrecht. 20 Vgl. bereits Volmar, Digitale Marktmacht, 2019; BKartA, Beschl. v. 22.10.2015 – B6-57/15 (Online-Datingplattformen), BeckRS 2016, 1137, Rn. 72; Blaschczok, Kartellrecht in zweiseitigen Wirtschaftszweigen, 2015; Assion, Must Carry, 2015; Kumkar, Online-Märkte und Wettbewerbsrecht, 2017; Bardong, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, § 18 GWB, Rn. 159; Zimmerlich, Marktmacht in dynamischen Märkten, 2007. 21 Hoffmann-Riem, Innovation und Recht, Recht und Innovation, 2016; siehe in diesem Zusammenhang aber auch Wieddekind, in: Eifert/Hoffmann-Riem, Innovation und rechtliche Regulierung, 2002, S. 134; Wolf, Kartellrechtliche Grenzen von Produktinnovationen, 2004, S. 72f.; Fleischer, Behinderungsmissbrauch durch Produktinnovation, 1997. 22 Schumpeter, Konjunkturzyklen, 1961, S. 95ff.; Schumpeter, in: Stolper/Seidl, Aufsätze zur Wirtschaftspolitik, 1985, S. 226; Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1993. 23 Zuletzt siehe den Aufsatz mit einem Schwerpunkt auf einer innovationsbezogenen Effizienzeinrede von Holzweber, in: Maute/Mackenrodt, Recht als Infrastruktur für Innovation, 2019, S. 41; vgl. auch die längeren Arbeiten von Leber, Dynamische Effizienzen in der EU-Fusionskontrolle, 2018; Wurmnest, Marktmacht und Verdrängungsmissbrauch, 2012; Schuhmacher, Effizienz und Wettbewerb, 2011; Gauß, Die Anwendung des kartellrechtlichen Missbrauchsverbots nach Art. 82 EG (Art. 102 AEUV) in innovativen Märkten, 2010; Heidrich, Das evolutorisch-systemtheoretische Paradigma in der Wettbewerbstheorie, 2009; Brinkmann, Marktmachtmissbrauch durch Verstoß gegen außerkartellrechtliche Rechtsvorschriften, 2018; Volmar, Digitale Marktmacht, 2019. 24 Podszun, in: Surblytė, Competition on the Internet, 2015, S. 101; Podszun, Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte, 2014; Leber, Dynamische Effizienzen in der EU-Fusionskontrolle, 2018; Zimmerlich, Marktmacht in dynamischen Märkten, 2007; Holzweber, in: Maute/Mackenrodt, Recht als Infrastruktur für Innovation, 2019, S. 41; kritisch hierzu aufgrund der schwierigen Feststellbarkeit Kerber, Competition, Innovation, and Competition Law: Dissecting the Interplay, MAGKS Joint Discussion Paper Series in Economics v. 6.10.2017, https://www.uni-marburg.de/fb02/makro/forschung/magkspapers/paper_2017/42-2017_kerber.pdf (abgerufen 14.12.2019); ähnlich Schmidt, in: Joost/Oetker/Paschke, Festschrift für Franz Jürgen Säcker zum 70. Geburtstag, 2011, S. 937 (942f.). 25 Hoffmann-Riem, Innovation und Recht, Recht und Innovation, 2016, S. 369. 26 Einführend Kersting/Walzel, in: Busche/Röhling, Kölner Kommentar zum Kartellrecht, Art. 101 AEUV, Rn. 527ff.; Böni/Regenthal, WuW 2006, S. 1230; Hildebrand, WuW 2005, S. 513; Schmidtchen, WuW 2006, S. 6; Basedow, WuW 2007, S. 712; Zimmer, WuW 2007, S. 1198 (1203); zu den historischen Hintergründen siehe Witt, The more economic approach to EU antitrust law, 2016, S. 54ff. 27 Möschel, ORDO 1979, S. 295 (310); ähnlich im Hinblick auf die dort angenommenen Zielkonflikte Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, S. 49, 76ff., 332, 406ff.; dies unter Bezug auf BGH, Urt. v. 7.6.2016 – KZR 6/15 (Claudia Pechstein), NZKart 2016, 328 = NJW 2016, 2266, Rn. 48 bei digitalen Plattformen aufgreifend Künstner, K&R 2019, S. 605 (611); vgl. dazu Fuchs, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht. Band 2 GWB, § 19 GWB, Rn. 33; siehe hierzu auch die Arbeiten von Unseld, Zur Bedeutung der Horizontalwirkung von EU-Grundrechten, 2016; Hornung, Grundrechtsinnovationen, 2015; auch die Darstellungen bei Bueren, ZWeR 2019, S. 403; nunmehr BGH, Beschl. v. 23.6.2020 – KVR 69/19 (Facebook), ECLI: DE:BGH:2020:230620BKVR69.19.0, NZKart 2020, 473 = GRUR-RS 2020, 20737, Rn. 105ff. 28 BGH, Urt. v. 6.11.2013 – KZR 58/11 (VBL-Gegenwert I), NZKart 2014, 31; BGH, Urt. v. 24.1.2017 – KZR 47/14 (VBL-Gegenwert II), NZKart 2017, 242; BGH, Urt. v. 7.6.2016 – KZR 6/15 (Claudia Pechstein), NZKart 2016, 328 = NJW 2016, 2266. 29 Podszun, in: Kokott/Pohlmann/Polley, Europäisches, deutsches und internationales Kartellrecht, 2018, S. 613 (632); Müller-Graff, EuR 2014, S. 3 (13). 30 EuGH, Urt. v. 6.12.2017 – C-230/16 (Coty Germany), ECLI:EU:C:2017:941, MMR 2018, 77 (m. Anm. v. Hoeren) = NZKart 2018, 36 = GRUR 2018, 211 (m. Anm. v. Funke/Neubauer) = ZVertriebsR 2018, 52.

Kartellrechtliche Innovationstheorie für digitale Plattformen

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