Читать книгу Traumdealer am Abstellgleis - Selina Haritz - Страница 12
KAPITEL SECHS
Оглавление»Aber auch noch eure beste Liebe ist nur ein verzücktes Gleichnis und eine schmerzhafte Glut. Eine Fackel ist sie, die euch zu höheren Wegen leuchten soll.«
(Nietzsche)
Hase lief ein Stück voraus – anscheinend froh über etwas Bewegung – drehte dann wieder um und kam zu uns zurück. Ich staunte über so viel Elan. Der Weg war für sich genommen schon schwierig genug; wir mussten mehrmals über Gleise klettern. Direkt durch die Stadt wäre zwar einfacher und kürzer gewesen, aber dann hätten wir uns ins Rampenlicht gebracht. Unentdeckt durch die Stadt zu kommen, war nicht möglich. Der Braune und ich kannten zu viele Plüschs dort. Also mussten wir um sie herum, vorbei an den befahrenen Schächten. Dreimal hörten wir die U-Bahn an uns vorbei rauschen. Einmal befanden wir uns direkt daneben, als sie mit quietschenden Rädern und blitzenden Oberleitungen an uns vorbeiraste!
Hase hielt sich die Ohren zu, indem sie diese an den Spitzen einfach links und rechts an ihrem Kopf herunterzog. Wir drei waren wohl einfach schon zu abgestumpft, um uns noch diese Mühe zu machen.
Wie schwungvoll ihre Schritte im Vergleich zu unserem Geschlurfe waren! Wie ihre Ohren um den Kopf flogen, wie Zöpfe. Sie sprühte vor Energie, wie eine gespannte Feder in einem Bett. Ich erwachte aus meinem Tagtraum, als Panther wieder begann, wie ein Maschinengewehr seine Bazillen in die Gleise zu husten. Lange würde es nicht mehr dauern, bis er dem Zug in die Tunnel folgen würde. Ich wusste nicht, ob ich ihn dafür bedauern oder beglückwünschen sollte. Der Braune und ich warteten neben ihm, bis es aufhörte. Hase hüpfte ein wenig voraus und verschwand um eine Biegung. Ich war überrascht ihre Stimme zu hören.
»Hallo, wer ist denn da? Ist hier jemand?« Hase klang ausgesucht freundlich. Dann folgte plötzlich ein durchdringender Schrei. Der Braune warf sich instinktiv in Deckung, während Panther und ich stumpfsinnig mitten im Gang stehen blieben wie Zielscheiben. Ratten! Ratten, der Urfeind aller Plüschs. Die Nemesis, das Kryptonit, das Ende. Wir taten das einzig Sinnvolle: Wir verkrochen uns. Wir verbargen unsere kleinen ausgemergelten Körper hinter Schrott und Müll.
»Regen! Brauner! Panther!« Ihr Rufen wurde panisch.
»Hört doch!« Jedes ihrer flehenden Worte brannte in meinen Ohren. Ich hielt sie zu.
»Was geschieht hier?«
Ich blinzelte zum Braunen hinüber. Er hatte sich zu einem Fellball zusammengerollt. Sein verbliebener Arm wie ein Schatz in seiner Körpermitte. Er zitterte wie ein Gleis direkt nachdem die U-Bahn darübergefahren war. Panther hingegen starrte ohne zu blinzeln nach vorne. Seine Lippen bewegten sich unaufhörlich, ich verstand ihn nicht. Umso deutlicher verstand ich hingegen Hase:
»Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?«
‚Man sollte beständig die Wirkung der Zeit und die Wandelbarkeit der Dinge vor Augen haben und daher bei allem, was jetzt stattfindet, sofort das Gegenteil davon imaginieren; also im Glücke das Unglück, in der Freundschaft die Feindschaft, im schönen Wetter das schlechte, in der Liebe den Hass. Klammer auf, Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Klammer zu‘ schoss es mir in meinen Kopf und ich schämte mich dafür. Ich war so tief unten angekommen, dass ich im Anbetracht der Gefahr nur noch nach der Weisheit der Alten griff, statt zu handeln.
»Hey!« Ihre Stimme erreichte schrillere Höhen als die U-Bahn während des Bremsens. »Fasst mich nicht an!« Die Ratten johlten und lachten über ihren leichten Sieg. Wir hörten das durchdringende Fiepen ihrer Freude. Schnelle Pfoten rannten über die Steine, Krallen kratzten über Metall und Holz.
Dann wurde es still.