Читать книгу Traumdealer am Abstellgleis - Selina Haritz - Страница 9

KAPITEL DREI

Оглавление

»Durch Frauen werden die Höhepunkte des Lebens bereichert und die Tiefpunkte vermehrt.« (Nietzsche)

Ich hing zwischen der tristen Realität und dem langsam welkenden Grün meines wunderschönen Traums. Weder gelang es mir einen klaren Gedanken zu fassen, noch die Bilder meines kleinen Hauses am Honigsee festzuhalten. Ich hasste diesen Zwischenzustand. Ganz oder gar nicht war meine Devise. Also begann ich eine schmerzhafte Realitätsanalyse. Zunächst einmal hatte ich da diese nasse Pfote des Braunen im Gesicht. Ich drückte sie weg. Ich betrachtete den fragenden Ausdruck meines Leidensgenossen für einige rauchige Atemzüge. Wie immer war sein Bärengesicht von bitterer Ironie verzogen. Diese Mimik hatte er einfach drauf.

»Geht‘s?«, knurrte er. So viel Hilfsbereitschaft rührte mich.

»Muss.« Ich nickte und versuchte, mich weiter zu orientieren, denn ehrlich gesagt wusste ich noch immer nicht, was denn genau ‚gehen‘ sollte. Körperlich schien ich so weit vollfellig zu sein. Ich spürte meine beiden Ohren an den richtigen Stellen, konnte alle vier Pfoten bewegen und mein lachhaftes Stummelschwänzchen war auch noch da, wo es der Schöpfer vergessen hatte.

Vorsichtig wischte ich mir über die Nase; sie war nass. Als hätte jemand Wasser …

»Du … Du hast mich mit Zitronenlimonade übergossen«, schlussfolgerte ich aus Geschmack und Geruch. Ich wusste nicht, was mich mehr empörte. Die Tatsache, dass ich die Limonade jetzt nicht mehr trinken konnte, oder dass mein Fell klebte – noch mehr als vorher.

»Im Krieg gibt es Verletzte«, knurrte der Braune und wischte seine Pfote an meinem Fell trocken. Ich lachte innerlich, als ich entdeckte, dass er sich damit ebenfalls Ostereierschokolade ins Fell gerieben hatte. Gerechtigkeit war ein Fuchs.

Als er ein wenig zurücktrat, erweiterte sich mein Gesichtsfeld zusehends. Eine kleine Grubenlampe verteilte ihr schummriges Licht mit äußerster Präzision in jene Ecken, in denen sich die Konservendosen stapelten und sich der Dreck zu einem Haufen aufgetürmt hatte.

Panthers Husten ließ mich auch in seine Richtung sehen. Sein ausgemergelter Körper war mit grün-schwarzem Moos überwuchert. Wie ein Parasit hatte es sich von seinen Pfoten hinauf fast über sein ganzes Rückenfell gezogen. Es war feucht und, wie es bei Moos üblich war: modrig. Lange würde er nicht mehr an diesem tristen Fleck Welt hausen müssen. Ich war mir jeden Tag sicherer, dass er bald eine einfache, letzte Fahrkarte kaufen würde.

»Wo hast du dieses Mädchen her?«, knurrte der Braune und fuchtelte mit seinem verbliebenen Arm vor meiner Nase herum. Ich stemmte mich hoch, damit er nicht mehr so auf mich herabsehen konnte. Das ‚Mädchen‘ saß in eine Decke gehüllt bei Panther und schien auf das Ende des Hustenkrampfes zu warten. Neben ihr auf dem Boden lag die alberne Glocke, die ihr der Braune sicherlich gleich als Erstes abgenommen hatte. Wer bitte trug eine Glocke um den Hals ohne dabei aus Schokolade zu sein? Wir waren hier ja nicht beim Almabtrieb.

»Also?« der Braune boxte mich in die Seite.

»Die Frau«, betonte ich, »lag zwischen den Gleisen.«

»Eine Aussteigerin?« So nannten wir die, die es hier herunter in die Schächte verschlug. Vornehmlich Freidenker und Künstler, die hier im Schutz menschenleerer U-Bahn-Stationen ein neues, vermeintlich besseres Leben anzufangen versuchten. Der Braune, Panther und ich gehörten zu den Aussteigern. Wie waren schon in jungen Jahren aus den Zwängen der Konsumgesellschaft geflohen.

»Weiß nicht, sah eher nach einem Unfall aus.«

»Schwarzgefahren …«, brummte der Braune und schüttelte seinen Kopf. Schwarzfahrer hatten es hier unten noch schwerer. Sie sehnten sich nach der Welt dort oben, zwischen Spielzeugregal und Kinderbetten. Doch es gab kein zurück. Wer zu sehr von Heimweh zerfressen wurde, löste sich irgendwann ein einfaches Ticket.

»Also, und nur ihr drei lebt hier unten?« Ihre Frage bohrte sich unangenehm in meine Lethargie. Als rührte jemand mit einem Schneebesen durch einen Pudding, der sich gerade mit einer schönen glatten Haut zur Ruhe gesetzte hatte. Ich flüsterte dem Braunen zu: »Man hat dann bei jedem Bissen Haut auf dem Löffel, schrecklich.« Erst einen Moment später wurde mir klar, wie unsinnig sich das angehört haben musste und ich fügte schnell hinzu: »Wenn man vorher drin rumrührt, meine ich. Schrecklich« Der Braune nickte.

»Nein, …« Panther übernahm die Rolle des Erklärbären. »Es gibt noch eine kleine Stadtkolonie in einer unbenutzten Station der Felllosen, da leben auch ein paar.«

»Wie, unbenutzt?«

»Keine Ahnung, scheint nicht mehr gebraucht zu werden.«

»Was für eine Verschwendung.« Sie schüttelte ihren Kopf und ihre kleinen Ohren sausten dabei um sie wie die Rotorblätter eines Hubschraubers. »Und ihr macht hier so ‘ne Art Campingurlaub?«

Panther schaute kurz zu uns hinüber, damit wir ihm aus dieser Misere heraushelfen konnten und ich überlegte schnell, ob mir irgendetwas von den großen Alten dazu einfiel.

»Wer von seinem Tag nicht zwei Drittel für sich selbst hat, ist ein Sklave. Klammer auf Nietzsche, Klammer zu«, übernahm der Braune das dringend notwendige Zitat und ich ergänzte: »Das andere Drittel wird geschlafen.« Der große Alte, er hatte immer etwas Wertvolles in seinem Repertoire. Das müsste sie daran hindern, weitere Fragen zu stellen.

»Ach, die anderen sind Sklaven? Ihr meint ‚Kolonie‘ im Sinne von Sklavenkolonie?«

Der Braune verdrehte die Augen. Er steckte sich umständlich eine Schokoladenzigarette in den Mund – ich folgte seinem Beispiel – und mischte sich kauend in das Gespräch ein:

»Wir sind alle Sklaven unserer Begrenzungen.« Er stand auf und stellte sich in den Schein des Feuers. Seine Hand hielt er wie die Freiheitsstatue nach oben, die Zig war seine Fackel. »Indem wir uns von unseren gesellschaftlichen Fesseln lösen, indem wir uns einen Schritt rückbesinnen auf das, was vorher war …« Gleich würde er den dritten großen Alten zitieren. Ich merkte, wie meine Augen feucht wurden, und wechselte schnell meine Position, um nicht länger im Rauch zu stehen.

»Ach, ihr seid sowas wie Eremiten?«

Panther nutzte die Gelegenheit des zerstörten Moments und hustete wieder Blechdosen, die an einer Bahn entlang über die Schottersteine gezogen wurden.

»Wir sind Misanthropen«, erklärte ich und fand, dass es sich, jetzt wo ich es einem fremden Plüsch erzählte, gar nicht mehr so heroisch anhörte. Unter uns Dreien hatte es immer irgendwie cooler und verwegener geklungen.

»Ihr habt Angst vor anderen Plüschs und versteckt euch deswegen hier?«

Jetzt war es am Braunen, einen Hustenanfall zu bekommen. Ich folge Hases Blick über unsere Absteige und schämte mich dafür. Während der Braune das Wort an sich riss, begann ich, ein paar leere Süßkramtüten wegzuräumen. Ich war mir nicht sicher, ob Panther darüber grinste, oder einfach etwas zwischen den Zähnen klemmen hatte.

»Wir haben die Einsamkeit gewählt«, trug der Braune vor, »um uns unseren Studien über die Plüschheit hingeben zu können. Von hier können wir die Welt und ihre ewig dunkle Seite erforschen.«

»So ein Quatsch, meine Liebe.« Panther fiel uns und insbesondere dem Braunen ins Wort und in den Rücken, während ich versuchte, meine Sammlung schwarzer Schnürsenkel aus linken Schuhen zu sortieren. Wie immer hatten sie sich heillos verknotet.

»Ich bin hier, …« Panthers Stimme wurde leiser, und auch ich lauschte angestrengt. »… weil ich zu alt bin. Alle meine Freunde haben schon das letzte Ticket bekommen. Es war so einsam um mich herum. Da in der Stadt …« Sein anhaltender Husten unterbrach ihn erbarmungslos – so lange, dass ich währenddessen sogar noch die Decken ordentlich zusammenfalten konnte. »Da in der Stadt … weiß du, alles geht so schnell dort. Jeder schaut dich mit diesem Mitleidsblick an. Sie wollen alle verhindern, dass ich das Ticket bekomme, weil sie es nicht ertragen, dass jemand geht. Das …«

Mir wurde schwer ums Herz. Ich wollte auch nicht, dass er ging. Aber wir hatten uns in unserem WG-Manifest darauf geeinigt, dass wir der Sache nicht im Weg stehen würden. Keine Replüschimation, keine Maschinen. »Das ist so eine Sache, die niemand wahr haben will. Aber so ist der Lauf der Dinge, ich mag niemandem zur Last fallen.« Panthers Rede endete in einem Stakkato aus Husten und Keuchen. Im Augenwinkel sah ich, wie Hase eine Träne fortwischte. Der alte Haudegen, wie machte er das nur mit den Frauen?

Traumdealer am Abstellgleis

Подняться наверх