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Kapitel 1 Edrè

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Celeste starrte auf den dunklen Boden, der sich in Wellen hin her bewegte. Sie wusste, dass sie sterben würde, wenn sie nicht vorsichtig war. Sie stand mit dem Rücken an eine schwere Holztür gelehnt, die einen modrigen Geruch abgab. Ihr Herz raste und ihre feuchten Hände hielt sie eng an ihren Körper gepresst. Sie war eine Dunkle. Eine Tochter aus erhabenem Haus. Die wiederum viel Neugier besaß.

Ihre Tante hütete den verborgenen Bereich des Schlosses wie ihren Augapfel. Nicht einmal ihre Eltern durften ihn betreten. Doch Celeste hatte einen Tag zuvor eine Helle gesehen, die strahlender war als alle, die sie bisher gesehen hatte. Die Hellen waren die Seelen, die die Dunklen einfingen. Und sie kannte sich da aus. Denn sie war eine der besten Seelenfängerinnen, die es in Edrè gab.

Um zum anderen Ende des Raumes zu gelangen, musste sie ihren Körper in Nebel auflösen. Denn sollten ihre Füße den Boden berühren, würde sie ins Nichts gezogen werden. Ihr Körper würde sterben und ihre Seele sich für ewig an diesen Ort binden.

Sie kniff angestrengt die Augen zusammen, ehe sie die Macht aus ihrem Innersten frei ließ. Sie spürte, wie ihre Knochen, ihre Muskeln und ihr Blut dem Ruf des Uralten folgten. Sie war ein Schattenwesen, das mit der Umgebung verschmelzen konnte. Langsam und bedächtig schwebte sie über den Boden.

Celeste hatte keine Ahnung, für wen diese tödliche Falle gedacht war, doch der Drang, herauszufinden, was ihre Tante verheimlichte, war stärker als ihre Angst. Denn die Helle war hierher geflohen, als sie bemerkte hatte, dass sie verfolgt wurde. Celeste hörte noch den Klang in ihren Gedanken, den die Helle hinterlassen hatte, als sie das Territorium von Celestes Familie betreten hatte.

Jede Seele hatte einen eigenen Klang oder sogar eine eigene Melodie. Hörte man diese Töne einmal, konnte man sie nie wieder vergessen. Die Weisen woben daraus Melodien, die den anderen Seelen den Weg wiesen.

Als sie das Ende des Raumes erreichte, kribbelte ihre Haut vor Aufregung und ihr Körper manifestierte sich. Etwas zog sie magisch an, also drückte sie vorsichtig die Türklinke nach unten und mit einem ohrenbetäubenden Knarren öffnete sie sich. Celeste griff nach dem Dolch, der an ihrer Hüfte befestigt war. Doch niemand stürzte sich auf sie und griff sie an.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, je weiter sie vordrang. Ihr Handeln war verboten, doch nichts und niemand konnte sie jetzt daran hindern, weiterzukommen. Die Räume, die sie durchquerte, waren leer, abgesehen von Fackeln an den Wänden, die kaum Licht spendeten. Eine dicke Staubschicht auf dem Boden verriet jedem, dass sie hier entlanggelaufen war. Spinnweben an den Decken glitzerten im Licht der Flammen, die ihr als Wegweiser dienten.

In ihrer Handfläche formte sie eine weitere kleine Flamme, die zum einen mehr Licht bot, zum anderen zur Verteidigung eingesetzt werden konnte. Sie war eine der wenigen Dunklen, die das Feuer beherrschten. So, als ob sie auf der Jagd wäre, bewegte sie sich lautlos vorwärts. All ihre Sinne waren geschärft. In ihren Gedanken hörte sie einen Adler schreien, was ihr ein vergnügtes Grinsen entlockte, trotz der Gefahr, in der sie schwebte.

Azia, was ist los? Du hast doch nicht etwa Angst um mich?

Als Antwort erhielt sie einen warnenden hellen Schrei des Adlers. Wie alle Dunklen besaß auch Celeste eine besondere Verbindung zu einem Tier, das ihr bei der Jagd half. Sie hatte Azia als Küken vor dem sicheren Tod gerettet, als sie sie verlassen in ihrem Nest fand. Seit diesem Tag kümmerten sie sich gegenseitig umeinander. Sobald ein Seelenfänger mit seinem Tier eine besondere Verbindung eingegangen war, konnte er oder sie das Tier verstehen. Natürlich nicht mit Worten, aber die brauchte Azia auch gar nicht. Celeste spürte den Unmut der Adlerdame. Sobald sie die Stimme ihrer Tante hörte, konzentrierte sich Celeste wieder voll und ganz auf ihre Aufgabe.

Nur noch eine Tür trennte sie von Thalia, der Schwester ihres Vaters. Ohne ein Geräusch zu verursachen, drückte sie die Klinke herunter. Es war egal, ob auch diese Tür einen Laut von sich geben würde. Celeste konnte jetzt ohne Antworten nicht einfach wieder umdrehen. Doch zum Glück glitt die schwere Holztür ohne ein Geräusch auf und gab somit den Blick auf ihre Tante frei, die vor einer deckenhohen Sanduhr stand.

„Da bist du ja endlich. Ich habe schon gedacht, du kommst gar nicht mehr“, begrüßte ihre Tante sie. Sie stand mit dem Rücken zur Tür und konnte Celeste eigentlich nicht sehen, aber Thalia war schon immer etwas anders gewesen. Sie war sozusagen das schwarze Schaf in der Familie. Oftmals verwirrte sie die Menschen mit ihren kryptischen Worten.

Auch Celeste wurde von klein an beigebracht, sich lieber von ihrer Tante fernzuhalten. Doch mittlerweile war sie erwachsen und an kein Verbot ihrer Eltern gebunden, das sie nicht selbst befolgen wollte.

„Du hast mich also erwartet?“ Thalia nickte, drehte sich aber noch immer nicht um. Die Energie im Raum vermittelte Celeste das Gefühl von Angst und Verwirrung.

„Gut. Dann kannst du mir ja ein paar Fragen beantworten. Was machst du hier unten? Und warum ist eine Helle hierher geflohen?“

„Weil die Welt untergehen wird.“ Celeste lachte trocken auf.

„Das ist der Grund? Und woher weißt du das?“ In ihren Gedanken stieß Azia einen warnenden Laut aus, doch sie ignorierte den Adler.

Endlich drehte Thalia sich um. Erschrocken wich Celeste zurück. Die sonst so anmutige und schöne Frau sah aus wie ein Abbild ihrer Selbst. Ihre Haut war fahl, die Haare glanzlos und ungepflegt und unter den Augen trug Thalia dunkle Augenringe.

„Ich sehe es seit Monaten in meinen Träumen. Niemand wollte mir zuhören. Nicht einmal mein eigen Fleisch und Blut.“

Damit musste wohl Celestes Vater gemeint sein. Der stolze Schlossherr war genauso dickköpfig wie sie selbst und hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er seine Schwester als nicht richtig im Kopf ansah. Bei dem Anblick, den Thalia im Moment bot, konnte sie ihm im Stillen nur zustimmen. Und doch gab es da die Stimme in ihr, die die Worte ihrer Tante nicht so einfach abtun konnte.

„Warum bist du hier? Weil deine Neugier dich antreibt, richtig? Ich war einst genau wie du. Begierig, die Geheimnisse der Welt zu erfahren.“ Als Thalia sich umdrehte und wieder auf die Sanduhr schaute, die zur Hälfte durchgelaufen war, wurde ihre Stimme leiser, aber nicht weniger eindringlich.

„Die Menschen sind so darauf bedacht, dass sie über allem und jedem stehen. Sie können sich nicht vorstellen, dass sich etwas ändert. Etwas, das das gesamte Gefüge durcheinander bringt. Ich habe gesehen, dass eine Helle ihre Erinnerung an ihr altes Leben wiedererlangt hat.“

Wie alle wusste auch Celeste, dass die Seelen eingefangen wurden, damit sie in einer anderen Welt wiedergeboren werden konnten. Passierte das nicht, konnten sie einigen Schaden in Edrè anrichten.

„Sie ist auf der Suche nach einem Weg in ihr altes Leben. Und sie hat es fast geschafft. Jemand hilft ihr, ich weiß nur nicht, wer.“ Frustriert ballte Thalia die Hände zu Fäusten.

„Ich habe diese Sanduhr erbaut, um die Zeit abzuschätzen, die uns noch bleibt, unseren Untergang zu verhindern. Die Hellen helfen mir, indem sie einen Teil ihrer Energie abgeben. Nur so kann der Sand weiterlaufen.“

Da Celeste noch nie davon gehört hatte, dass die Hellen jemandem halfen, war das ein weiterer ungewöhnlicher Faktor. Eine eisige Faust griff nach ihren Eingeweiden. Sie konnte die Angst beinahe auf ihrer Zunge schmecken. Also startete sie einen letzten Versuch, um das Unmögliche zu begreifen.

„Wenn das stimmt, dann solltest du dich an die großen Häuser wenden. Sie müssen bei dem kleinsten Beweis einer Gefahr etwas unternehmen, so steht es in den alten Verträgen.“

Als ihre Tante sie direkt anschaute, konnte sie eine bleierne Traurigkeit in ihren Augen erkennen.

„Ich habe es versucht, doch meine Träume reichen nicht als Beweis aus. Ich lebe seit Jahren hier unten, verborgen vor der Welt dort draußen. Wenn man anders ist, dann ist man meistens auch auf sich allein gestellt. Sag, Celeste, hast du in den letzten Tagen bemerkt, dass sich immer mehr Angriffe der Monster an den Grenzen häufen? Dass die Waldtiere nach und nach in Richtung Wüste fliehen? Weg vom Berg?“

Widerstrebend nickte Celeste. Diese Information wurde den Seelenfängern vor zwei Tagen in einem Treffen mitgeteilt. Doch niemand durfte ein Wort darüber verlieren, um keine Panik auszulösen. Dass Thalia davon wusste, besiegelte Celestes Gefühl, dass an der dunklen Vorahnung etwas Wahres dran sein musste.

„Auch wenn du mir nicht gänzlich traust, kannst du das Gefühl nicht abschütteln, dass ich die Wahrheit sage, oder?“ Thalia lächelte sie freundlich an, was ihrem Gesicht einen Teil ihrer alten Schönheit zurückgab.

„Ich schlage dir einen Handel vor. Du besitzt die Kraft und die Neugierde, um zum Tempel auf den Berg zu gehen und nachzuschauen, ob dort alles in Ordnung ist. Danach kommst du zurück und erstattest mir Bericht. Wenn du etwas Ungewöhnliches vorfindest, haben wir vielleicht endlich einen Beweis, mit dem die großen Häuser zum Handeln gezwungen werden.“

Unwillkürlich wanderte Celestes Hand zu ihrem Dolch. Die Reise war voller Gefahren und für die Dunklen verboten. Nur den Herrschern der Häuser, den Weisen und – wie man sich hinter vorgehaltener Hand sagte – Göttern war der Zutritt zum Tempel gestattet. Was sollte sie also tun? Ihrem Gefühl vertrauen und zum Tempel reisen, obwohl sie dafür schwer bestraft werden könnte? Oder Thalias Gerede abtun und weiter ihr Leben wie bisher leben? Sie war schon einmal als Begleitung ihres Vaters dort gewesen und wusste, dass jeder Eindringling ohne jede Gnade vertrieben wurde.

Ein Summen an ihrem linken Ohr ließ sie herumfahren. Und plötzlich sah sie sich dem hellen Licht der Seele gegenüber, die sie gestern gesehen hatte. Ihr Licht war heller als das der anderen Seelen. Celeste blieb still stehen und atmete so flach wie möglich. Ihr Herzschlag hatte sich verdreifacht und Schweißperlen tropften ihr von der Stirn. Die körperliche Reaktion auf diese Begegnung war so ungewöhnlich, dass ihre Gedanken wie wild hin und her rasten.

„Ist das …?“, fragte sie zögernd.

Thalia lächelte das Licht liebevoll an. „Ja, das war Danae, die Weise aus dem Wald. Sie ist eine der wenigen, die mir glauben und mir helfen.“

Erst als sich das Licht wieder entfernte und über der Sanduhr schwebte, beruhigte sich Celestes Herzschlag. Es kostete sie einige Überwindung, das unruhige Gefühl in ihrem Innersten zurückzudrängen, um nach außen hin wieder die kühle Jägerin zu sein.

„Warum denkst du, dass ich beim Tempel etwas finden werde?“

„Würdest du mir glauben, wenn ich es dir sagen würde?“, fragte Thalia lächelnd.

„Vor ein paar Minuten vielleicht nicht, aber jetzt?“

„Je mehr Seelen mir helfen, desto klarer erhalte ich meine Visionen. Sie beschränken sich jetzt nicht mehr nur auf meine Träume in der Nacht. Ich weiß, dass dieser Tempel eine bestimmte Bedeutung hat. Nur bin ich körperlich nicht in der Lage, die Reise allein anzutreten.“

„Was ist, wenn ich nichts finde?“

„Dann suchen wir weiter. Uns bleibt keine andere Wahl“, sagte Thalia bestimmt.

Endlich nickte Celeste. „Gut, ich werde zum Tempel reisen. Mir stehen sowieso noch ein paar freie Tage zu.“

Als sei eine zentnerschwere Last von Thalias Schultern gefallen, veränderte sich ihre gesamte Haltung. War sie zuvor noch angespannt gewesen, konnte Celeste ihr jetzt deutlich die Aufregung ansehen. Als Thalia ein rotes Tuch aus ihrer Hosentasche zog, sah Celeste ihre Tante ratlos an.

„Hier, nimm das mit. Ich weiß nicht genau, wie es funktioniert, aber es wird dir helfen.“ Danach ging Thalia zu einem Schrank in einer Ecke des Raumes und holte eine goldene Taschenuhr aus einem Schubfach hervor. „Und die musst du auch mitnehmen. Sie ist auf die Sanduhr eingestellt.“ Mit dem Fingern zeigte ihre Tante auf das weiße Ziffernblatt, auf dem sich nur ein schwarzer langer Zeiger befand, der nach oben zeigte.

„Wenn der Zeiger einmal herumgewandert ist, dann kommt jede Hilfe zu spät. Und jetzt los. Du musst deine Sachen für die Reise packen.“

Völlig perplex von dem veränderten Verhalten ihrer Tante ließ sie sich in Richtung Tür ziehen. Erst als sie auf dem Weg in den Teil des Schlosses war, den sie allein bewohnte, fiel ihr auf, dass die tödliche Falle verschwunden war. Entweder war sie nur eine Prüfung gewesen, oder ihre Tante hatte sie abgestellt, damit sie sich wirklich so schnell wie möglich auf den Weg machen konnte.

In ihren Gemächern angekommen, öffnete sie zuerst das Fenster, das ihr einen atemberaubenden Blick über den Wald gewährte. Hoch oben am Himmel sah sie Azia ihre Runden drehen.

Sie ließ sich noch einmal das Gespräch mit ihrer Tante durch den Kopf gehen. Noch konnte sie den Ausflug abblasen. Doch sie wusste, dass sie das nicht tun würde. Celeste hatte sich schon immer auf ihr Gefühl verlassen. Und das sagte ihr, dass sie diesem Hinweis nachgehen musste. Genauso wie sie gewusst hatte, dass sie in die untersten Räume zu ihrer Tante gehen musste.

Celeste - Siehst du mich?

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