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London

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Ian starrte das Haus an, das sich inmitten einer großen Stadt befand, in der er erst vor einigen Wochen gewesen war. London machte nach außen hin nicht unbedingt den Anschein, aber in letzter Zeit häuften sich die Meldungen zu paranormalen Vorfällen. Natürlich wurden dafür in den Medien ganz andere Erklärungen gefunden. Der Mensch wollte eben meistens lieber etwas Handfestes hören, als die Nachricht aufgetischt zu bekommen, dass sich Möbel nicht von allein und nicht mit einem Trick quer durch den Raum bewegten.

„James, sag mir bitte noch einmal genau, warum ich mich kurz vor Mitternacht in Chinatown in London wiederfinde.“ Sein langjähriger Freund zuckte bewusst unschuldig mit den Schultern.

„Weil du dafür gut bezahlt wirst und weil bereits zwei Geisterjäger abgesagt haben, nachdem ihnen ihre Instrumente in die Luft gesprengt wurden.“ Ian knurrte seinen Freund regelrecht an: „Du weißt, dass ich diesen Begriff nicht mag.“

„Kann sein, aber die Besitzer des Restaurants nebenan bezahlen keinen Ian McMillan, der übersinnliche Fähigkeiten besitzt, ohne dass man etwas davon sieht oder dass es den Anschein macht, als könnte er Geister vertreiben. Sondern sie bezahlen McMillan, den Geisterjäger. Wenn du mich nicht hättest, dann würdest du kein Geld verdienen, mein Freund.“ Kopfschüttelnd ließ Ian es dabei bleiben.

Er lernte James in dessen Heimat Schottland kennen, als dieser auf einer Rucksacktour durchs Land zog. Nur hatte Ian weder mit dem schottischen Wetter noch mit schottischen Insekten gerechnet. Ian hatte seinem Vater im Pub hinter dem Tresen ausgeholfen und so waren er und der englische Student ins Gespräch gekommen.

Als ob auch James an diese Zeit zurückdachte, fragte er: „Kannst du dich noch an dieses alte Schloss Penkaet in der Nähe von Haddington erinnern?“

„Ja, immerhin war das unser erstes Spukschloss“, antwortete Ian.

„Ich habe damals gewusst, dass es dein Verdienst war, dass die unheimlichen Geräusche verschwanden. Und ich weiß auch jetzt, dass hier etwas Ungewöhnliches vor sich geht, bei dem nur du helfen wirst und helfen kannst.“

Als Ian seinen Freund ironisch ansah, lachte James laut auf.

„Ich meine etwas Seltsameres als sonst. Lass uns einfach reingehen und nachschauen, ob du eine Schwingung oder etwas Ähnliches wahrnehmen kannst.“

Ian hatte schon oft versucht, seinem Freund zu erklären, wie er Geister aufspüren konnte. Meistens geschah es über Geräusche. Manchmal waren es einzelne Töne, manchmal war es eine kurze Melodie. Als kleiner Junge hatte er alles zu Geistern gelesen, was er in die Hände bekommen konnte. Und doch fand er in den Seiten der vielen Bücher keinerlei Antworten.

An seinem fünften Geburtstag waren seine Eltern mit ihm in ein Fischrestaurant gegangen. Zum allerersten Mal waren sie bis kurz vor Mitternacht geblieben, obwohl er noch so jung gewesen war. An diesem Tag war seine Welt noch in Ordnung gewesen. Letztendlich hatte seine Familie weitergefeiert, während er mit dem Kopf auf den verschränkten Armen an einem Tisch in einer Ecke des rustikalen Restaurants eingeschlafen war. Seine Freunde waren längst von ihren Familien nach Hause geholt worden.

Eine helle Melodie weckte ihn aus einem Traum. Noch völlig schlaftrunken hatte er den Kopf gehoben und sich den Schlaf aus den Augen gerieben. Und dann sah er ein kleines Mädchen mit blonden Haaren, die zu zwei Zöpfen zur Seite gebunden waren. Sie trug ein blaues Kleid, daran konnte er sich noch genau erinnern. Ihre Gestalt verschwamm immer wieder, also dachte er zuerst, dass er noch träumte.

Doch dann sah sie ihn direkt an. Zuerst wirkte sie zu Tode erschrocken, dann wütend. Sie öffnete den Mund, doch nicht ein Wort kam über ihre Lippen, als sie sprach. Sie befand sich nur ein paar Schritte von ihm entfernt.

Und zum ersten Mal in seinem jungen Leben verspürte er Angst. Es war anders als die Vorstellung, dass etwas unter seinem Bett war oder er Geräusche aus seinem Kleiderschrank hörte. Diesmal sah er etwas Gruseliges. Er sah jetzt den Beweis direkt vor sich, dass die Schauergeschichten seines älteren Cousins nicht nur erfunden waren.

Als das Mädchen merkte, dass er sie nicht verstehen konnte, schrie sie aus vollem Hals. Dabei musste er sich regelrecht die Ohren zuhalten und die Augen zusammenkneifen, so weh tat das hohe Geräusch, das sie mit einem Mal dabei verursachte.

Als er die Augen wieder öffnete, war sie verschwunden. Seine Eltern dachten, er habe einen Albtraum gehabt, doch Ian wusste, dass er das Geistermädchen tatsächlich gesehen hatte.

Mit einem Ruck kam er zurück in die Gegenwart. James zog einen langen silberfarbenen Schlüssel aus seiner Jackentasche. Es war gerade Mitte April und das Wetter meinte es nicht gut mit ihnen. Den ganzen Tag über hatte es geregnet und auch jetzt war die Luft feucht und eisig kalt.

Das Knarren der Tür war so laut, dass die beiden sich verstohlen umsahen, ob jemand sie beobachtete. Sie taten nichts Verbotenes, doch hin und wieder wurden sie von eifrigen Bürgern oder der Polizei bei ihrem Vorhaben aufgehalten. Zum Glück hielten sich nur einzelne Passanten um diese Uhrzeit hier auf.

James verschloss hinter ihm die Tür, sodass sie sich ungestört umsehen konnten. Das Haus war fast leer. Nur ab und zu fanden sie Hinterlassenschaften von Menschen, die sich zuvor im Haus aufgehalten hatten. In den Wänden und in der Decke befanden sich kleine bis riesige Löcher. Aus den Bodendielen ragten spitze kleine Nägel hervor. In den Ecken der einzelnen Räume fanden sie Kot von verschiedenen Nagern vor. Einzig und allein der Schein ihrer Taschenlampen erleuchtete das Hausinnere, denn die Fenster waren von innen mit Holzlatten zugenagelt worden.

„Warum wird das Haus nicht mehr saniert?“, fragte Ian in die Stille hinein.

„Es ist einsturzgefährdet.“ Nachdem Ian ihm einen eindeutigen Blick zuwarf, fügte er entschuldigend hinzu: „Ja, ich weiß. Du wolltest kein Haus mehr betreten, in dem dir die Decke auf den Kopf fallen kann. Aber der Eigentümer hat mir versichert, dass es nicht so schlimm ist. Bauarbeiter sind abergläubische Menschen. Sie haben ein paar seltsame Geräusche gehört und die ein oder andere Kratzspur an der Wand gefunden, also arbeiten sie nicht weiter, bis das Problem behoben ist. Wenn dann auch noch ein Teil der Decke auf sie herunterkommt, dann schieben sie es eben auf eine angebliche Einsturzgefahr, dass sie offiziell nicht mehr arbeiten kommen.“

Ian schaute sich aufmerksam um. Bis jetzt konnte er nicht sagen, ob sich in diesem Haus wirklich ein Geist aufhielt. Bisher sah es eher wie ein Ort aus, an dem sich Kinder aufhielten, die das Opfer einer Mutprobe waren.

Darauf bedacht, in der Stille des Hauses keine lauten Geräusche zu verursachen, gingen sie weiter durch die Räume. Überall setzte sich das anfangs eingeprägte Bild fort. Verwahrlosung und Flecken auf dem Boden und an der Wand, deren Ursprung Ian lieber nicht genau untersuchen wollte, hatten dem Haus nicht wirklich gut getan. Nach all den Jahren gewöhnte sich Ian mittlerweile an den üblen Geruch in solchen Häusern. Zumal hier auch noch der Duft nach chinesischem Essen hinzukam.

Als er wieder an der Treppe ankam, hörte er ein leises Summen, dessen Ursprung kaum zu benennen war. Vorsichtig darauf bedacht, dass er keinem tödlichen Unfall zum Opfer fiel, stieg er die maroden Stufen hinauf ins erste Stockwerk. Hier war es wesentlich kälter als unten, was ein gutes Anzeichen für Geister war.

„Ähem, ich warte hier unten und gebe dir Rückendeckung“, hörte er James hochrufen. Unwillkürlich musste Ian grinsen. Es stimmte, dass James für ihn häufig die Aufträge an Land zog, doch seinem Freund war es noch nie leicht gefallen, sich an gruselige Orte zu begeben. Doch Ian würde ihn niemals als einen Angsthasen bezeichnen. Er selbst hatte die meiste Zeit selbst Angst.

Immerhin war es wirklich nicht erklärbar, warum ihn der Geruch nach einem Kiefernwald von der ansonsten modrigen Note ablenkte. Ja, hier gab es definitiv paranormale Aktivitäten. Während er weiterging und einen großen Salon und ein ehemaliges Schlafzimmer passierte, hörte er auch das Summen wieder, das sich diesmal zu einer leisen Melodie gesteigert hatte. Das bedeutete, dass die Kraft des Geistes groß war.

Langsam, ohne eine hektische Bewegung zu machen, zog er sein kleines Taschenmesser aus der Jackentasche und klappte es auf. Das war ein Geschenk seines Vaters gewesen, als dieser in der Schweiz in Urlaub gewesen war. Als ob der Geist merken würde, dass er entdeckt worden war, wurde die Melodie leiser, verschwand aber nicht ganz.

Ian zuckte erschrocken zusammen, als etwas von einem Holzschrank im Flur auf den Boden knallte. Beim näheren Hinsehen konnte er erkennen, dass es sich bei dem Etwas wohl mal um ein Buch gehandelt haben musste.

„Möchtest du mich erschrecken?“ Seine Stimme klang hohl in den fast leeren Räumen. Selbst er konnte seine Anspannung heraushören. Doch er sprach nicht ohne Grund mit dem Geist. Manche Geister reagierten auf seine Stimme.

„Tut mir leid, aber du bist nicht mein erster Geist. Ich habe schon schlimmere Sachen erlebt.“ Das hätte er vielleicht nicht sagen sollen.

Als Antwort kippte prompt der Schrank um, auf dem zuvor noch das Buch gelegen hatte. Einige der Bretter, die vor den Fenstern angebracht worden waren, fingen an zu vibrieren und Ian verlor keine Zeit. Er ritzte sich mit dem Messer in die linke Handfläche. Das Brennen nahm er kaum noch wahr. Doch den Geruch nach Eisen konnte er nicht ignorieren. In der Nähe von Geistern war er so stark, dass es am Anfang vorgekommen war, dass er sich die Nase zuhalten musste, um dem Drang zu entgehen, sich in einer Ecke seines Mageninhalts zu entleeren.

Endlich erreichte er den letzten Raum auf der Etage. Der Dachboden war durch eine verschlossene Luke die nächste Ebene. Ian sah sich in dem kleinen Zimmer um und erkannte die Überreste eines Schreibtisches. Helle Flecken an der Wand verrieten ihm, dass das hier ein Arbeitszimmer gewesen sein musste, in dem sich Bilder an der Wand befunden hatten. Auf dem Boden waren sogar noch Glasscherben zu sehen. Ian bemühte sich, auf nichts draufzutreten, was bei dem Unrat schwerfiel, der über den ganzen Boden verstreut lag.

„Willst du dich mir nicht zeigen?“, fragte er mit leiser und wie er hoffte lockender Stimme. Die Melodie wurde einen Augenblick lauter, dann wieder leiser. Bis sie so laut wurde, dass sogar James im unteren Geschoss sie hören musste. Obwohl die Chancen dafür nicht gut standen. Anscheinend war Ian der Einzige, der die Töne hören konnte.

Das war auch der Grund gewesen, warum er sich als Kind geweigert hatte, ein Instrument zu erlernen, obwohl er seine Mutter damit enttäuscht hatte. Seitdem verband er rein instrumentale Musik immer mit Geistern.

Als die Melodie langsamer wurde, sah er aus den Augenwinkeln ein Schimmern am Fenster. Als er den Kopf drehte, stockte ihm regelrecht der Atem. Er sah eine Frau, die um die fünfzig Jahre alt sein musste. Sie war so klar zu erkennen, dass er dem Wunsch widerstehen musste, sich über die Augen zu reiben.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm und sah auf die Holzlatten, die die Sicht nach draußen versperrten. Ihre Haare gingen ihr fast bis zur Mitte des Rückens und ihre Kleidung sah nicht so aus, als ob sie in dieses Jahrhundert gehörte. Ian konnte ihr Gesicht nicht erkennen, wollte aber nicht das Risiko eingehen, sich von der Mitte des Raumes zu entfernen.

Er wollte sich gerade hinknien, als die Frau beide Hände hob und sie an das Holz vor sich hielt. Mit angehaltenem Atem und pochendem Herzen sah Ian dabei zu, wie das Holz verschwamm und durch die glasklar geputzten Fensterscheiben der Blick auf einen Wald und einen Berg freigelegt wurde. Es war, als ob er einen Film schauen würde, während sich das Bild änderte.

Die Kamera schwenkte näher an den Wald heran und ohne Probleme erkannte er eine Lichtung. In der Mitte brannte ein kleines Lagerfeuer und Ian sah in den sich wandelnden Schatten eine eingemummte Gestalt, die ins Feuer starrte. Doch er hätte nicht sagen können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Er kniff regelrecht die Augen zusammen, um mehr erkennen zu können, doch das Bild verschwamm bereits und zurück blieb der Blick auf die Holzlatten.

Endlich drehte die Frau sich um. Sie sah ihn direkt an, doch ihr Gesicht blieb regungslos. Das brachte ihn endlich zurück in die Wirklichkeit. Wie so viele Male zuvor hockte er sich auf den Boden, um einige Blutstropfen aus dem Schnitt an seiner Hand herunterfallen zu lassen. Die Frau beobachtete ihn, rührte sich aber nicht von der Stelle.

Es dauerte keine fünf Sekunden, da erfüllte der Duft nach Eisen den gesamten Raum. Je mehr das dunkelrote Blut vom Boden eingesaugt wurde, desto durchscheinender wurde die Gestalt des Geistes. Als nichts mehr darauf hinwies, dass Ian etwas Blut von sich in diesem Zimmer hinterlassen hatte, war die Frau vollends verschwunden. Und mit ihr die Melodie.

Auf wackeligen Beinen erhob er sich schwerfällig. Erst, nachdem er der Meinung war, dass der Geist wirklich verschwunden war, ging er zurück zur Treppe. Unten am Absatz konnte er James sehen, der besorgt zu ihm hinaufschaute.

„Was ist los? Ich könnte ja jetzt scherzen und sagen, du siehst aus, als ob du einen Geist gesehen hättest.“

Der Scherz misslang ihm sichtlich und doch brachte es Ian zum Lächeln. Er ignorierte seine wackeligen Beine und stieg die Treppe hinunter.

„Der Geist ist weg.“

„Das ist doch gut, oder nicht?“

Zögernd nickte Ian, bevor er fragte: „Wollen wir noch etwas trinken gehen? Hier muss es doch irgendwo einen Pub geben, oder?“

James schien zu spüren, dass er erst einmal Zeit brauchte, um seine Gedanken zu sortieren. „Lass uns einfach zu mir fahren. Ich habe Whiskey im Angebot.“

Wie so viele Londoner besaß James kein Auto und so fuhren sie mit der U-Bahn in einen Vorort von London, wo sich James vor etwa zwei Jahren ein Haus gekauft hatte. Die ganze Fahrt über schwiegen sie.

Erst, als sie es sich in James’ geräumiger Küche gemütlich gemacht hatten, schwenkte Ian sein Glas in der Hand hin und her und beobachtete dabei die dunkle Flüssigkeit im Glas. Dabei erzählte er James alles, was er gesehen und erlebt hatte.

„Wenn ich das jetzt richtig verstehe, hat dir der Geist, den du einwandfrei erkennen konntest, eine Art Film vorgespielt, in der eine Gestalt an einem Lagerfeuer die Hauptrolle spielte. Richtig?“

Ian nickte.

„Oh Mann. Das jagt mir regelrechte Angstschauer über den Rücken“, sagte James, bevor er den restlichen Inhalt seines Glases hinunter kippte. Aus der Flasche auf dem Tisch füllte er sich nach. Ein Blick auf Ian sagte ihm, dass sich auch heute nichts geändert hatte. Der gebürtige Schotte würde bei einem Glas bleiben.

Seine Jugend im Pub hatte ihn gelehrt, dass man mit Alkohol vorsichtig sein musste. Doch trotz allem genoss Ian das Brennen, das der edle und ohne Zweifel teure Tropfen in seinem Magen auslöste.

„Gibt es sonst noch etwas, was du mir erzählen möchtest?“, fragte James betont beiläufig.

„Was meinst du?“

„Ach komm schon. Ich habe zwei Wochen gebraucht, um dich ans Telefon zu holen. Das sieht dir nicht ähnlich. Zuerst habe ich ja eine Frau hinter deinem Verschwinden vermutet, aber jetzt bin ich mit nicht mehr so sicher.“

Ian lachte trocken auf. „Wenn du wüsstest, wie nah du an der Wahrheit dran bist.“

„Dann hast du wirklich jemanden kennen gelernt?“

Ian starrte in sein Glas, das noch nicht einmal zur Hälfte geleert war. Kurz rang er mit sich, ob er es James erzählen sollte, doch dann wurde ihm etwas bewusst. Er hatte viele Freunde, die auf der ganzen Welt verteilt lebten. Aber James war der Einzige, der von seinem Nebenberuf mit den Geistern wusste. Seit dem Tag im Pub seines Vaters waren sie die besten Freunde geworden. Er konnte darauf vertrauen, dass James nicht gleich die Männer mit den weißen Kitteln anrufen würde.

„Ich war in Athen, wie du ja weißt. Eigentlich hatte ich vor, für mein neues Buch zu recherchieren.“ Normalerweise hätte James jetzt einen Witz über erfolgreiche Autoren gemacht, die sich solch ein sorgloses Leben leisten konnten, doch sein Freund hielt sich diesmal zurück. Also fuhr er mit seiner Erzählung schnell fort, bevor er es sich anders überlegen konnte.

„An meinem dritten Tag dort lief ich einfach durch die Straßen, um ein Gefühl von der Stadt zu bekommen. Irgendwann kam ich am Hafen von Piräus an. Während ich dort stand und auf das Meer hinausschaute, stellte sich eine Frau neben mich.“

„Aha.“

Ian schüttelte lächelnd den Kopf. „Nicht aha. Die Frau war merkwürdig. Ich konnte nicht im Geringsten einschätzen, wie alt sie war. In der einen Sekunde sah sie aus wie eine Jugendliche zwischen sechzehn und achtzehn und im nächsten Moment hätte sie über sechzig sein können. Ich dachte schon, ich habe zu viel Sonne abbekommen. Doch nach ein paar Minuten Smalltalk fühlte ich mich in ihrer Nähe wirklich wohl. Sie hat sich erkundigt, was ich in Griechenland mache. Und so kam eines zum anderen. Ich habe ihr von meinem Leben, meiner Familie, ja sogar von dir erzählt. Es war, als wäre es das Natürlichste der Welt, einer Wildfremden so intime Details zu erzählen. Zum Schluss lächelte sie mich freundlich an und meinte, dass wir uns bestimmt bald wiedersehen werden. Sie stieg in eines der Bote ein und rief mir noch zu, dass sie mir noch einen Rat geben wolle.“

„Und der lautet?“, fragte James ungeduldig, als Ian nicht weitererzählte.

„Ich solle auf mein Gefühl vertrauen. Dass ich niemals daran zweifeln soll, was ich sehe und wahrnehme.“

James füllte sich sein Glas erneut nach und kippte die Hälfte des Inhaltes hinunter. Zum Glück vertrug er so einiges. „Und warum bist du dann so lang nicht an dein Handy gegangen?“

Ian zuckte unbehaglich mit den Schultern, bevor auch er einen kleinen Schluck trank. „Ich musste erst einmal mit der Welt und mir wieder ins Reine kommen. Diese Begegnung hat vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten gedauert. Aber danach habe ich wirklich an meiner Zurechnungsfähigkeit gezweifelt. Ich lief anschließend wieder zu meinem Hotel zurück und auf dem gesamten Weg hatte ich das Gefühl, in den Gassen seltsame Geräusche und Bewegungen wahrzunehmen, obwohl es mitten am Tag war. Ich meine, ich schreibe Fantasy-Bücher. Meine Fantasie war schon immer – na sagen wir mal – außergewöhnlich. Aber ich wusste, dass ich mir das alles nicht einfach nur einbildete.“

Nach diesem Geständnis schwiegen beide Männer einvernehmlich. Früher hatte James seinen Freund ein kleines bisschen um seine Fähigkeit beneidet. Doch jetzt war er sich gar nicht mehr so sicher, ob es ein Segen war, Dinge wahrzunehmen, die andere Menschen niemals in ihrem Leben zu sehen bekamen.

Celeste - Siehst du mich?

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