Читать книгу Celeste - Siehst du mich? - Serena S. Murray - Страница 6
Edrè
ОглавлениеCeleste streckte ihre müden Knochen der aufgehenden Sonne entgegen, als sie sich auf der Lichtung umsah, auf der sie die Nacht verbracht hatte.
Nachdem sie sich bei ihrem Vorgesetzten und ihren Eltern abgemeldet hatte, war sie noch am gleichen Abend aufgebrochen. Wobei sie ihren Eltern natürlich nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte. Nach etwa zwei Stunden war sie in ihrer Schattengestalt gereist, während Azia sich stets in ihrer Nähe aufhielt.
Doch als sie den Wald erreichte, der als Gebiet der Waldnymphen galt, musste sich ihr Körper wieder manifestieren. Hier herrschte eine andere Magie, die den Dunklen verbot, ihre eigene Macht anzuwenden. Das hieß, sie konnte sich hier nur auf ihre Kampfkunst besinnen, sollte sie in Gefahr geraten. Und die Chancen dafür standen gut.
Auch wenn es zivilisierte Städte gab, in denen es Elektrizität und fließendes Wasser gab, so bestand die Hälfte von ganz Edrè aus Gebieten, die durch die verschiedenen Gruppen der Nymphen regiert wurden. Und Celeste hatte noch keine dieser modernen Städte gesehen. Die Menschen und Nymphen hatten vor Jahrhunderten ein Abkommen getroffen. Für die Jagd nach den Hellen durften sie die Gebiete des jeweils anderen durchstreifen. Aber eben nur aus diesem Grund. Ansonsten mussten Reisende sich an den Grenzen bewegen, was mitunter den Verlust von mehreren Tagen bedeuten konnte.
Nachdem Celeste ihre wenigen Habseligkeiten eingesammelt und in einem Sack auf ihrem Rücken verstaut hatte, machte sie sich wieder auf den Weg. Sie folgte einem schmalen Pfad, der sie an kleine Flüsse, weitere Lichtungen und Waldgebiete brachte, durch den kaum etwas in der Ferne zu sehen war. Das satte Grün der Bäume schloss die Sonnenstrahlen fast vollständig aus, sodass es immer kühler wurde, je weiter sie vordrang.
Als sie nach gut einer Stunde die nächste Lichtung erreichte, stieß Azia einen schrillen Ton aus, bevor sie wie ein Pfeil vom Himmel herunterschoss und nur in letzter Sekunde abbremste, um auf ihrer linken Schulter zu landen. Ihre Kleidung war dafür geschaffen worden, im Kampf zu bestehen, sodass sie dick genug war, um sie vor Azias Krallen zu schützen.
„Warum bist du so nervös? Hast du etwas gesehen?“, fragte Celeste den Adler. Doch Azia übermittelte ihr nur das Gefühl von Unruhe und einer nahenden Gefahr, die sie aber nicht genau bestimmen konnte. Beruhigend streichelte sie den Adler am Kopf. Sie wusste, dass sie ruhig bleiben musste.
Noch hatte sie keine Waldnymphe zu Gesicht bekommen, aber eigentlich glaubte sie nicht, dass diese die größte Gefahr darstellten. In den letzten Jahren waren vermehrt Angriffe von Monstern gemeldet worden, die noch nie jemand zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Beobachtungen zufolge kamen sie aus der Erde oder den Wäldern.
Als Celeste weiter dem Pfad folgte, blieb Azia auf ihrer Schulter sitzen. Erst als sich das ungute Gefühl in ihrem Magen immer weiter verstärkte, stieß Azia sich mit ihren kräftigen Klauen von ihrer Schulter ab und flog dicht über ihrem Kopf umher. Die Bäume waren mittlerweile so hoch, dass der Adler fliegen konnte, ohne Angs zu haben, ständig Ästen und Blättern ausweichen zu müssen.
Ein Beben im Boden veranlasste Celeste, ihren Dolch in die Hand zu nehmen. Fast sofort verformte sich die Klinge, bis sie ein Schwert in den Händen hielt, das gut ausbalanciert in ihrer rechten Hand lag. Die Schrift auf der Klinge, die von einem männlichen Schwertmeister der Nymphen vor Jahrtausenden gefertigt wurde, fing an blau zu schimmern.
„Das ist kein gutes Zeichen“, sagte Celeste leise. Und ihre Worte sollten sich bewahrheiten.
Nur ein paar Meter von ihr entfernt stieß sich ein Monster aus dem Erdreich hervor, wobei mehrere Bäume ausgerissen und wie dünne Streichhölzer durch die Luft geschleudert wurden. Kleine und große Sandbrocken wurden durch die Gegend geschleudert.
Celeste überlegte nicht lang und handelte. Sie rannte los, unter den Beinen des etwa zehn Meter großen Monsters hindurch. Azia flog voraus und lieh ihr ihre Augen. Sie musste auf eine Lichtung kommen, auf der sie kämpfen konnte, ohne vom dichten Wald behindert zu werden. Adrenalin verschärfte ihre Reflexe, sodass sie Steinen auswich, die so groß wie sie selbst waren und offensichtlich auf sie geworfen wurden.
Sie hörte Azias Schrei und wusste, dass die nächste Lichtung nicht mehr weit entfernt war. Doch das Monster war schnell. Dummerweise schneller als gedacht. Sie spürte, wie ihre Beine unter ihr weggerissen wurden und sie hart auf dem Boden aufschlug.
Benommen schüttelte sie den Kopf. Doch als Celeste den Blick hob, stockte ihr der Atem. Über ihr ragte ein Ungetüm auf, dessen weißes Fell einen üblen Gestank verströmte. Statt Klauen besaß das Tier riesige schaufelartige Enden der Arme und Beine. Der Kopf bestand aus winzigen Augen, die offensichtlich nicht zum Sehen gedacht waren. Dafür schien sich das Monster auf seine längliche Nase zu verlassen, so sehr wackelte diese umher.
Als es das Maul aufriss und ein triumphierendes Brüllen ausstieß, sah Celeste jeweils vier lange Eckzähne und etliche kurze, dafür aber umso spitzere Zähne. Offenbar dachte das Monster, es habe sie erlegt. Dadurch erhielt Celeste wertvolle Zeit. Mit ihrem Schwert hieb sie auf beide Arme des Angreifers ein, ehe sie sich wegrollte.
Den Schmerz in ihrem Körper ignorierend, kam sie wieder auf die Beine, nur um von einem Arm erwischt zu werden, der sie in die Luft schleuderte. Doch damit landete sie fast auf der Lichtung, die Azia ihr zuvor gezeigt hatte.
Keuchend kam sie wieder auf die Beine. Blut und Schweiß liefen ihr über das Gesicht, während ihr Blick einzig und allein auf das Monster gerichtet war. Dieses wiederum nahm ihr den Angriff ziemlich übel, es brüllte vor Schmerz und Wut laut auf und vertrieb somit alle Tiere in der näheren Umgebung endgültig.
Als es auf allen vieren vorwärtsstürmte, hob sie ihr Schwert, das sie zum Glück noch nicht verloren hatte. Jedes einzelne Training, jede Niederlage und jeder Erfolg halfen ihr jetzt dabei, am Leben zu bleiben. Mit geübten Bewegungen hieb sie auf Teile des Monsters ein, die sie erreichen konnte.
Das Brüllen wurde dadurch immer lauter. Sie bekam sogar den ätzenden Speichel des Ungetüms ab, während sie unter ihm hindurchrannte. Als er zu Boden ging und diesen mit seinem Blut tränkte, konnte sie gerade noch nach hinten springen, sonst hätte es Celeste unter sich begraben.
Schwer atmend und schwerer verletzt als sie sich eingestehen wollte gönnte sie sich eine kurze Pause, um wieder zu Atem zu kommen. Die Haut unter dem Fell schien so fest zu sein, dass sie es zwar verletzen konnte, aber nicht so sehr, dass es liegen blieb. Das hieß, ihr Überleben hing davon ab, wie lange sie durchhielt. Wenn sie das Monster oft genug verletzte, bevor es sie erwischen konnte, hatte sie eine Chance, ihm den Garaus zu machen, bevor sie ihren letzten Atemzug tat. Noch während sie erneut losstürmte, richtete das Monster sich wieder auf. Suchend wackelte seine Nase auf dem Boden, bis es ihren Duft fand.
Mit erhobenem Schwert und Azia in der Luft, die immer wieder von oben Angriffe flog, startete Celeste neue Angriffe. Doch das Zischen eines Pfeils an ihrem rechten Ohr ließ sie zur Seite springen.
Erstaunt sah sie, wie das Geschoss in der Brust des Monsters stecken blieb. Es brüllte und schlug mit den Armen wild um sich, da ergriff Celeste ihre Chance. Sie rannte auf das meterhohe Ungetüm zu und schlug ihr Schwert in seine Beine. Mit einem Hechtsprung und einer Rolle über den weichen Rasenboden rettete sie sich davor, von dem fallenden Monster zerquetscht zu werden.
Weitere Pfeile kamen aus dem Wald angeflogen, ohne dass sie einen Schützen ausmachen konnte. Celeste wusste, dass die Pfeilspitzen aus reinem Silber zuvor in eine Tinktur getaucht worden waren, die das Monster lähmen sollte. Doch die Wut und der Schmerz bewirkten, dass die ganze Prozedur länger dauerte. Und so hielt Celeste es eine Weile weiter vom Boden aus in Atem, während ihr unsichtbarer Verbündeter einen Pfeil nach dem anderen abschoss.
Als es endlich mit einem riesigen Knall bewusstlos auf dem Boden aufschlug, war Celeste völlig außer Atem und ihr Körper wies wahrscheinlich Hunderte blauer Flecken auf. Keuchend und auf den Knauf ihres Schwertes gestützt, ließ sie das Monster nicht aus den Augen. Ein letzter Pfeil wurde abgeschossen. Natürlich landete er genau im Hintern des Monsters. Allein das sagte ihr schon, wer ihr wahrscheinlich gerade das Leben gerettet hatte.
„Haben wir jetzt ein unentschieden oder liege ich noch in Führung?“, rief Celeste laut genug, dass Melina sie hören konnte. Das glockenhelle Lachen der Nymphe war Balsam für Celestes Ohren.
„Ich glaube, ich liege noch zwei Lebensrettungen hinter dir.“
Endlich drehte sie den Kopf in Richtung Waldrand. Genau richtig, um die majestätische Erscheinung ihrer Freundin dabei zu beobachten, wie sie von Baum zu Baum sprang, nur um direkt neben ihr zu landen.
„Angeberin“, kommentierte sie lächelnd den Auftritt ihrer Freundin.
Melina grinste wissend zurück. „Der ist ganz schön groß. Meinst du nicht?“, lenkte die Nymphe das Thema zurück auf das Monster.
Dabei schwangen ihre spitzen Ohren vor und zurück, was Celeste dazu veranlasste, nach Azia Ausschau zu halten. Doch der Adler war mittlerweile wieder die Ruhe selbst. Sie konnte keine weitere Gefahr wahrnehmen. Und auch Melina gab ihr zu verstehen, dass sie erst einmal in Sicherheit war, indem sie ihren Köcher mit Pfeilen und ihren Bogen auf dem Boden ablegte und um das Monster herumlief.
„Ja, das dachte ich vorhin auch, als er mich quer durch die Luft geschleudert hat. Hast du so eines schon einmal gesehen?“, griff Celeste die Frage der Nymphe auf.
„Nein. Ich habe unserem Dekan bereits ein Bild geschickt. Wir sammeln derzeit alle Informationen über das Auftauchen neuer Monster, die wir kriegen können.“
Jeder Nymphenstamm besaß einen Dekan, der für die Gebete zu den Göttern und das Sammeln von Wissen zuständig war und zu dem jede weibliche und jeder männliche Nymph eine mentale Verbindung aufbauen konnte. Celeste hatte Melinas Dekan ein einziges Mal getroffen und hatte den Mann auf Anhieb unsympathisch gefunden. Doch auf seinem Gebiet war er eine Legende und viele andere Stämme holten sich oft Rat bei ihm ein.
„Ist das der Grund, warum du den Berg verlassen hast?“, fragte Celeste. Jeder Fremde hätte Melina sofort als Prinzessin der Bergnymphen erkannt.
Wie all ihre Stammesangehörigen trug sie ihr mitternachtsschwarzes Haar lang. Einzelne weiße Federn ihres Reittieres waren kunstvoll eingebunden worden. Ihre Kleidung bestand aus einem Material, das selbst den schärfsten Klingen, Pfeilspitzen und Klauen standhalten konnte. Auch hier waren die Farben Schwarz und Weiß kunstvoll vertreten. Doch Celeste hatte schon immer Melinas Augen als am auffälligsten empfunden. Die Nymphen besaßen größere Augen als die normalen Menschen und Dunklen, doch Melinas Augen hatten die Farbe des tiefsten Ozeans, was eine Seltenheit darstellte.
„Uns erreichten Meldungen in ganz Edrè, dass die Berge, Wälder und Gewässer vermehrt von Monstern angegriffen werden. Eigentlich war ich auf dem Weg zu dir, um in Erfahrung zu bringen, ob ihr Dunklen etwas darüber wisst.“
Celeste schüttelte den Kopf. „Nein, nicht mehr als ihr, denke ich.“
„Und was machst du im Gebiet der Waldnymphen?“, fragte Melina.
„Ich war auf dem Weg zum heiligen Tempel.“
Die Nymphe lachte laut auf und warf dabei schwungvoll ihre Haare über die Schulter. „Was für ein Zufall, denkst du jetzt bestimmt.“
Ein Kribbeln in ihrem Nacken ließen daran allerdings Zweifel in Celeste aufkommen. Deshalb antwortete sie: „Nein, diesmal gebe ich dir recht. Ich denke nicht, dass das ein Zufall ist.“
Aus Melinas Gesicht verschwand das Lachen und nun sah Celeste sich einer ernsthaft besorgten Nymphe gegenüber stehen. Normalerweise waren Nymphen eher Wesen, die nach dem Kopf entschieden. Doch Melina war auch in dieser Sicht anders. Sie vertraute ihrem Gefühl. Und sie gab nichts auf Zufälle. Alles hatte einen Sinn, das war ihre Einstellung.
„Wenn du mal einer Meinung mit mir bist, dann liegt etwas im Argen. Was ist los? Warum reist du zum Tempel? Dir ist doch klar, dass deine Weisen dich nicht einmal in die Nähe ihrer Heiligtümer kommen lassen.“ Melinas Stimme hatte einen missbilligenden Tonfall angenommen, was Celeste ihr nicht verdenken konnten.
Das, was bei den Nymphen ein Dekan war, war bei den Dunklen ein Weiser. Es gab sie überall, doch diejenigen, die die Tempel in allen Ländern überwachten, besaßen Macht. Was wiederum dazu führte, dass sie sich aussuchten, wer mit den Göttern in Kontakt kommen durfte. Die Nymphen und die Weisen waren seit jeher Gegner, wenn es um die Frage der Huldigung für die Götter und das Teilen von Wissen ging. Nymphen glaubten weniger an Götter als vielmehr an die Magie der Natur.
Also erzählte sie Melina in kurzen Worten von ihrer Begegnung mit ihrer Tante Thalia und der Weisen Danae, die ihr half. Währenddessen gab die Nymphe ihr eine Salbe, die sie sich behutsam auf die Flecken schmierte, die sich bereits auf ihrer Haut abzeichneten. Dass Melina sie nicht einmal bei ihrer Erzählung unterbrach, sagte ihr, wie ernst die Lage wirklich war. Und das ungute Gefühl in ihrem Magen kehrte zurück.