Читать книгу Celeste - Siehst du mich? - Serena S. Murray - Страница 8
London
ОглавлениеIan starrte in den Himmel und saugte die Geräusche um sich herum auf. Das Gezwitscher der Vögel erinnerte ihn daran, dass es Frühling war. Er hatte sich einen Mietwagen genommen und war über eine Stunde lang in den Epping Forest gefahren. Es war ein kleines Stück Grün, nicht länger als achtzehn Kilometer, aber Ian verschlug es bei jedem seiner Besuche in London hierher. Er hatte Glück, außer ihm war kaum eine Menschenseele unterwegs.
Als plötzlich wie aus dem Nichts jemand neben ihn trat, zuckte er erschrocken zusammen. Durch einen Seitenblick erkannte er die Frau wieder, die er in Griechenland getroffen hatte. Nur trug sie heute kein Kleid, sondern war dem Londoner Wetter angepasst. Ihr langer Mantel bewegte sich leicht im aufkommenden Wind.
„Möchtest du mich denn nichts fragen?“
Ian schüttelte unwillkürlich den Kopf, sagte dann aber: „Ich bin mir nicht sicher, was genau ich fragen soll.“
„Doch, das weißt du.“ Die Frau lächelte ihn aufmunternd an, doch er hielt es für besser, sich erst einmal zurückzuhalten.
Als sie seine linke Hand ergriff, widerstand er dem Reflex, vor ihr zurückzuweichen. Immerhin befand er sich zur Mittagszeit mitten in einem Wald. Dazu war er ein Mann und sie eine Frau. Doch das unbestimmte Gefühl einer Gefahr ließ sich einfach nicht unterdrücken.
Die Frau schaute sich nachdenklich seine Handfläche an, die nur wenige helle Linien aufwies. Die meisten Schnitte, die er sich selbst zuzog, verheilten schnell wieder. Aber bei einigen Geistern, die wirklich Schaden anrichteten, dauerte es länger. Und ab und zu blieb eben doch einmal eine Narbe zurück. Er hatte schon der ein oder anderen Frau erklären müssen, dass diese Narben aus der Zeit stammten, in der er seinen Eltern im Pub geholfen hatte.
„Du bist einer der wenigen Sterblichen, dessen Fantasie ihm dabei helfen wird, die bevorstehende Aufgabe zu bewältigen.“ Als sie seine Hand losließ, kribbelte seine Haut an den Stellen, an denen sie ihn berührt hatte.
„Ich möchte dir aber noch ein bisschen Zeit geben. Trotzdem bin ich mir sicher, dass du dann noch mehr Fragen haben wirst. Jetzt lasse ich euch aber erst einmal allein.“ Die Frau lächelte ihn an, dann drehte sie sich um und verschwand.
Ian starrte ihr hinterher und war nicht verwundert, dass sie schon nach kurzer Zeit nicht mehr zu sehen war. Kopfschüttelnd dachte er an ihre Worte.
„Was meint sie mit ‚ich lasse euch allein‘?“, murmelte er verwundert vor sich her. Soweit er es beurteilen konnte, war er allein im Wald.
Doch dann hörte er auch schon die Melodie, die leise an seine Ohren drang. Langsam drehte er sich einmal um die eigene Achse. Ihm stockte regelrecht der Atem, als er die durchscheinende Gestalt bemerkte, die im Schatten eines Baumes stand und ihn misstrauisch beobachtete. Ihre Erscheinung verschwamm immer wieder, doch er war sich ziemlich sicher, dass es sich bei dem Geist um eine Frau handelte. Nur eben nicht um die, die er in dem Haus in Chinatown gesehen hatte. Anders als eben überkam ihn nicht das Gefühl, in Gefahr zu sein.
„Du weißt, dass es mitten am Tag ist, oder? Du bist der erste Geist, der einen Wald nicht nachts heimsucht.“ Seine Worte waren eher dazu gedacht, sich selbst zu beruhigen. Selbst in seinen eigenen Ohren klang er hörbar nervös.
Der Geist bewegte sich nicht, sondern zog einfach ein Schwert aus einer Scheide hinter dem Rücken.
„Woah!“, stieß Ian aus. Mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen sah er dabei zu, wie die Geisterfrau ein Fragezeichen auf den Boden malte. Er wollte es nicht zugeben, aber seine Beine fühlten sich wackelig an, als er zögernd näher heranging, um vielleicht einen besseren Blick auf den Geist zu erhaschen. Ihr Mund bewegte sich, das konnte er erkennen, aber weder hörte er etwas, noch konnte er etwas an ihren Lippen ablesen.
„Weißt du, du bist jetzt der zweite Geist, den ich deutlich sehen kann. Na ja, zumindest deutlicher. Die anderen waren bisher nur Schemen oder auch nur Lichter. Und normalerweise sehe ich euch nur nachts.“ Wieder fuhr sie mit der Schwertspitze das bereits gemalte Fragzeichen nach.
„Was genau möchtest du denn wissen?“ Er konnte die Frustration der Geisterfrau beinahe körperlich spüren. Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er das hier vielleicht lieber für sich behalten sollte. Es fiel ihm ja selbst schwer, das zu akzeptieren, was er mit seinen eigenen Augen sah und was er deutlich spürte. Wie konnte ihm dann jemand anderer glauben? Selbst bei James wusste er nicht richtig, ob sein Freund ihn dann nicht für verrückt halten würde.
Der Geist deutete mit der Hand auf ihn und legte dann den Kopf schräg.
„Du möchtest wissen, wer ich bin?“ Der Geist nickte und Ian konnte das Anzeichen eines Lächelns auf dem Gesicht erkennen, das er noch immer nicht so recht zu fassen bekam. Vielmehr schien es ihm, als ob ihr Körper immer dunkler wurde und fast mit dem Schatten des Baumes verschmolz.
„Ich heiße Ian. Ian McMillan.“ Wieder bewegten sich die Lippen und wieder hörte er keinen Ton.
„Kannst du mir deinen Namen verraten?“ Die Fremde hob das Schwert, doch letztendlich konnte Ian nicht mehr sagen, was sie damit vorhatte, denn ihre Gestalt wurde nun sichtbar dunkler, bis sie vollends verschwunden war.
Ian trat an die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte. Die Melodie war ebenfalls verschwunden. Über sich hörte er eine Krähe und in einiger Entfernung das Lachen eines Paares, das nach ihrem Hund rief. Doch er blieb einfach stehen. Was fühlte er? Angst, Neugier und auch Faszination. Konnte er glauben, was er gerade gesehen hatte? Oder sollte er es lieber ignorieren?
Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich losreißen konnte und sich auf den Rückweg zu seinem Mietwagen machte. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu den beiden weiblichen Wesen zurück, die ihm viel Stoff zum Nachdenken gegeben hatten.